In einer Zeit, als Europa noch weit davon entfernt war, Liebe als Gefühl zu erfinden, schrieb im fernen Indien ein bis heute nahezu unbekannter Autor das erste Lehrbuch der Liebe, das Kamasutra. Liebe war keineswegs eine theoretische oder bloß innere Angelegenheit des Herzens. Liebe bedeutet im eigentlichen Sinne Lieben, Lieben heißt Begehren und vor allem Liebe machen, und wie jede körperliche Aktivität erfordert dies Anleitung und Übung. Der Mensch ist nach alter hinduistischer Vorstellung auf dem Weg der Vervollkommnung, wenn sein Körper zum erfahrenen und daher wohlklingenden Instrument des Begehrens und der Lust geworden ist. Kakars Roman führt uns in das Goldene Zeitalter Indiens, in eine Welt, in der die Sinnlichkeit ein elementarer und notwendiger Teil menschlicher Erfahrung war. " Sündig" wurden allenfalls diejenigen, die Lust und Liebe voneinander trennten. Der Roman, der den verschlungenen Lebensweg Vatsyayanas - des Autors des berühmten Liebeslehrbuchs - erzählt, erweckt die historischen Protagonisten des Kamasutras und ihr verstörendes Universum zum Leben; aber vielleicht muß man dieses Buch nicht nur als Zeitreise in die Vergangenheit lesen, sondern als ein utopisches Gemälde von lustvoller Körperlichkeit und als einen Entwurf, wie künftig ein anderes, sinnlich bewußteres Liebesleben aussehen könnte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2000Triumph der Theorie
Sudhir Kakars Kamasutra-Roman über die Kunst des Begehrens
Das Kamasutra, ein indischer "Leitfaden des Begehrens" aus dem dritten oder vierten Jahrhundert nach Christus, gehört zu den bekanntesten klassischen Werken der Sanskrit-Literatur. Auch ins Deutsche ist es mehrfach übersetzt worden und zur Zeit in einer hervorragenden, im Deutschen Taschenbuch-Verlag erschienenen Ausgabe greifbar. Das Kamasutra sowie die berühmten erotischen Skulpturen an den Tempeln von Khajuraho und Konarak repräsentieren eine Seite indischer Kultur - nämlich die liberale, dem sinnlichen Wohlleben zugeneigte. Sie wird über dem dominierenden Eindruck von Indien als dem Land der Askese im Land selbst und in Europa gern übersehen. Eine ideale Integration von Erotik und Askese hat etwa Hermann Hesse in seinem Indien-Roman "Siddhartha" darzustellen versucht, der deutlich vom Studium des Kamasutra profitiert hat.
Tatsächlich notiert die trocken-systematische Abhandlung über die Liebeskunst nicht etwa nur, wie gemeinhin angenommen, einige Dutzend Stellungen der sexuellen Vereinigung. Sie platziert die sexuelle Liebe in einen gesellschaftlichen und moralischen Kontext und balanciert behutsam zwischen persönlicher Erfüllung und dem Allgemeinwohl aus. Nach altindischer Lehre soll der Mensch nämlich nach drei Zielen streben: vor allem nach dem religiös und moralisch Guten (Dharma), dann nach dem materiell Nützlichen (Artha) und zuletzt auch nach dem sinnlich Begehrenswerten (Kama). Jedes Einzelne ist nur in Verbindung mit den beiden anderen Zielen erlaubt und wünschenswert.
Von den Lebensumständen des Kamasutra-Autors, Vatsyayana, ist nichts bekannt. Wie in Indien üblich, steht der Verfasser ganz hinter seinem Werk zurück. Darum konnte Sudhir Kakar, als er die Biographie von Vatsyayana schreiben wollte, seiner Phantasie freien Lauf lassen. Er siedelt Vatsyayana in der Nähe des nordindischen Pilgerortes Varansasi in einem Ashram (Einsiedelei) an. Dort führt er als alternder Lehrer der Liebeskunst kluge Gespräche mit seinen Schülern. Einer dieser Schüler ist der Ich-Erzähler des Romans, dem die Aufgabe zufällt, einen Kommentar zum Kamasutra und die Biographie seines Meisters zu schreiben. Also erzählt er dem Schüler aus seiner Jugend, von den Jahren am Fürstenhof und interpretiert dem Wissbegierigen die kryptischen Sentenzen seines Werkes.
Gleichzeitig verflechten sich die Lebensbahnen von Meister und Schüler miteinander. Der Jüngere wird der verstohlene Geliebte von Vatsyayanas Frau und lüftet das Geheimnis dieser Ehe: Der Meister der Liebeskunst lebt zölibatär. Sein Wissen ist folglich weitgehend theoretisch, sein Werk enzyklopädisch aus früheren Abhandlungen geschöpft. Diese spannende Ausgangssituation vermag der Autor jedoch nicht in einer bewegenden Romanhandlung zu entfalten.
Als der Roman im Herbst 1998 in Indien erschien, sagte Kakar, sein Roman wolle das Kamasutra mit den Mitteln der Literatur für die heutigen Leser "zu Ende schreiben". Kakar wollte die Leser daran erinnern, dass die asketische Hindu-Tradition und die viktorianische Prüderie der britischen Kolonialherren nicht die einzigen Kräfte sind, die die Sexualmoral Indiens geprägt haben. Indien verfügt über seine eigene Art der sexuellen Liberalität, die die Gesellschaft nicht vom Westen auszuleihen braucht. Dabei gestand Kakar ein, dass das Raffinement der Lebensweise, welches das Kamasutra als Ideal vertritt, nur in Zeiten materiellen Wohlstands denkbar ist, wie in der Gupta-Periode im vierten Jahrhundert. Sudhir Kakar ist zu sehr engagierter Sozialkritiker und Missionar des sexuellen Liberalismus, als dass ihn Charaktere und Erzählstoffe faszinieren könnten. Er hat einen Ideenroman geschrieben, dessen Figuren die zahlreichen Konstellationen der Liebesbeziehungen und Missverständnisse beispielhaft darstellen. Die erotischen Szenen klingen wie Gebrauchsanweisungen, die Beschreibungen des gesellschaftlichen Hintergrunds wie aus einem Textbuch über die Gupta-Zeit. Dem Roman fehlt Geheimnis und evokative Kraft durch Aussparung. Kakar spricht alles aus, detailliert und exakt, in einer gleichbleibend feierlichen Sprache.
Auf Umwegen über ein Ingenieur- und Ökonomie-Studium fand Sudhir Kakar zur Psychoanalyse. Er studierte in Wien und Frankfurt und wohnt seitdem als Psychoanalytiker in Neu-Delhi. In seinen Sachbüchern beleuchtet Kakar seit zwei Jahrzehnten die Themen Sexualität, Religion und Gewalt in der indischen Gesellschaft. Bewandert in der einschlägigen akademischen Literatur wie auch in dem mythologischen Erzählgut seiner Heimat, vermag er beides zu entschiedener Interpretation einer Gesellschaft zu verbinden, die hin und her gerissen ist zwischen traditionellem, mythischem Empfinden und "abendländischer" Rationalität. Aus dieser Spannung schöpft Kakar seine Inspiration und Kreativität. Er ist einer der ganz wenigen indischen Sachbuch-Autoren, vielleicht der einzige, dessen Schaffen ebenso bedeutsam für die intellektuelle Schicht Indiens wie auch für jene westlichen Leser ist, die nach Schlüsseln für das Verständnis des zeitgenössischen Indien suchen. Er ist ein moderner Visionär, in dem sich Wesentliches aus indischer und europäischer Kultur zu einer neuen, zukunftsträchtigen Form verbindet.
"Kamasutra oder Die Kunst des Begehrens" ist Sudhir Kakars erster Roman, den er übrigens während zweier Aufenthalte im Berliner Wissenschaftskolleg von Berlin verfasste. So wenig die literarischen Qualitäten auch überzeugen, Kakars psychologische Einsichten in die menschliche Sexualität und in die Beziehung der Geschlechter sind bewundernswert. Das authentisch dargestellte Panorama einer kulturell reichen Vergangenheit erweckt den Eindruck, es handele sich um einen historischen Roman. Doch spricht der Autor unzweideutig zum gegenwärtigen Leser; der Kommentar des Ich-Erzählers zum Kamasutra reflektiert modernes Bewusstsein. Um den modernen Leser unmittelbarer anzusprechen, lässt Kakar seine Figuren sogar Stellen aus dem Kamasutra zitieren, die fiktiv sind. Nicht zuletzt zeigt der Roman die indische Frau einmal nicht unterdrückt und ausgebeutet, sondern frei, selbstbewusst, als aktiven Partner einer Beziehung.
MARTIN KÄMPCHEN
Sudhir Kakar: "Kamasutra oder Die Kunst des Begehrens". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Nathalie Lemmens. Verlag C. H. Beck, München 1999, 358 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sudhir Kakars Kamasutra-Roman über die Kunst des Begehrens
Das Kamasutra, ein indischer "Leitfaden des Begehrens" aus dem dritten oder vierten Jahrhundert nach Christus, gehört zu den bekanntesten klassischen Werken der Sanskrit-Literatur. Auch ins Deutsche ist es mehrfach übersetzt worden und zur Zeit in einer hervorragenden, im Deutschen Taschenbuch-Verlag erschienenen Ausgabe greifbar. Das Kamasutra sowie die berühmten erotischen Skulpturen an den Tempeln von Khajuraho und Konarak repräsentieren eine Seite indischer Kultur - nämlich die liberale, dem sinnlichen Wohlleben zugeneigte. Sie wird über dem dominierenden Eindruck von Indien als dem Land der Askese im Land selbst und in Europa gern übersehen. Eine ideale Integration von Erotik und Askese hat etwa Hermann Hesse in seinem Indien-Roman "Siddhartha" darzustellen versucht, der deutlich vom Studium des Kamasutra profitiert hat.
Tatsächlich notiert die trocken-systematische Abhandlung über die Liebeskunst nicht etwa nur, wie gemeinhin angenommen, einige Dutzend Stellungen der sexuellen Vereinigung. Sie platziert die sexuelle Liebe in einen gesellschaftlichen und moralischen Kontext und balanciert behutsam zwischen persönlicher Erfüllung und dem Allgemeinwohl aus. Nach altindischer Lehre soll der Mensch nämlich nach drei Zielen streben: vor allem nach dem religiös und moralisch Guten (Dharma), dann nach dem materiell Nützlichen (Artha) und zuletzt auch nach dem sinnlich Begehrenswerten (Kama). Jedes Einzelne ist nur in Verbindung mit den beiden anderen Zielen erlaubt und wünschenswert.
Von den Lebensumständen des Kamasutra-Autors, Vatsyayana, ist nichts bekannt. Wie in Indien üblich, steht der Verfasser ganz hinter seinem Werk zurück. Darum konnte Sudhir Kakar, als er die Biographie von Vatsyayana schreiben wollte, seiner Phantasie freien Lauf lassen. Er siedelt Vatsyayana in der Nähe des nordindischen Pilgerortes Varansasi in einem Ashram (Einsiedelei) an. Dort führt er als alternder Lehrer der Liebeskunst kluge Gespräche mit seinen Schülern. Einer dieser Schüler ist der Ich-Erzähler des Romans, dem die Aufgabe zufällt, einen Kommentar zum Kamasutra und die Biographie seines Meisters zu schreiben. Also erzählt er dem Schüler aus seiner Jugend, von den Jahren am Fürstenhof und interpretiert dem Wissbegierigen die kryptischen Sentenzen seines Werkes.
Gleichzeitig verflechten sich die Lebensbahnen von Meister und Schüler miteinander. Der Jüngere wird der verstohlene Geliebte von Vatsyayanas Frau und lüftet das Geheimnis dieser Ehe: Der Meister der Liebeskunst lebt zölibatär. Sein Wissen ist folglich weitgehend theoretisch, sein Werk enzyklopädisch aus früheren Abhandlungen geschöpft. Diese spannende Ausgangssituation vermag der Autor jedoch nicht in einer bewegenden Romanhandlung zu entfalten.
Als der Roman im Herbst 1998 in Indien erschien, sagte Kakar, sein Roman wolle das Kamasutra mit den Mitteln der Literatur für die heutigen Leser "zu Ende schreiben". Kakar wollte die Leser daran erinnern, dass die asketische Hindu-Tradition und die viktorianische Prüderie der britischen Kolonialherren nicht die einzigen Kräfte sind, die die Sexualmoral Indiens geprägt haben. Indien verfügt über seine eigene Art der sexuellen Liberalität, die die Gesellschaft nicht vom Westen auszuleihen braucht. Dabei gestand Kakar ein, dass das Raffinement der Lebensweise, welches das Kamasutra als Ideal vertritt, nur in Zeiten materiellen Wohlstands denkbar ist, wie in der Gupta-Periode im vierten Jahrhundert. Sudhir Kakar ist zu sehr engagierter Sozialkritiker und Missionar des sexuellen Liberalismus, als dass ihn Charaktere und Erzählstoffe faszinieren könnten. Er hat einen Ideenroman geschrieben, dessen Figuren die zahlreichen Konstellationen der Liebesbeziehungen und Missverständnisse beispielhaft darstellen. Die erotischen Szenen klingen wie Gebrauchsanweisungen, die Beschreibungen des gesellschaftlichen Hintergrunds wie aus einem Textbuch über die Gupta-Zeit. Dem Roman fehlt Geheimnis und evokative Kraft durch Aussparung. Kakar spricht alles aus, detailliert und exakt, in einer gleichbleibend feierlichen Sprache.
Auf Umwegen über ein Ingenieur- und Ökonomie-Studium fand Sudhir Kakar zur Psychoanalyse. Er studierte in Wien und Frankfurt und wohnt seitdem als Psychoanalytiker in Neu-Delhi. In seinen Sachbüchern beleuchtet Kakar seit zwei Jahrzehnten die Themen Sexualität, Religion und Gewalt in der indischen Gesellschaft. Bewandert in der einschlägigen akademischen Literatur wie auch in dem mythologischen Erzählgut seiner Heimat, vermag er beides zu entschiedener Interpretation einer Gesellschaft zu verbinden, die hin und her gerissen ist zwischen traditionellem, mythischem Empfinden und "abendländischer" Rationalität. Aus dieser Spannung schöpft Kakar seine Inspiration und Kreativität. Er ist einer der ganz wenigen indischen Sachbuch-Autoren, vielleicht der einzige, dessen Schaffen ebenso bedeutsam für die intellektuelle Schicht Indiens wie auch für jene westlichen Leser ist, die nach Schlüsseln für das Verständnis des zeitgenössischen Indien suchen. Er ist ein moderner Visionär, in dem sich Wesentliches aus indischer und europäischer Kultur zu einer neuen, zukunftsträchtigen Form verbindet.
"Kamasutra oder Die Kunst des Begehrens" ist Sudhir Kakars erster Roman, den er übrigens während zweier Aufenthalte im Berliner Wissenschaftskolleg von Berlin verfasste. So wenig die literarischen Qualitäten auch überzeugen, Kakars psychologische Einsichten in die menschliche Sexualität und in die Beziehung der Geschlechter sind bewundernswert. Das authentisch dargestellte Panorama einer kulturell reichen Vergangenheit erweckt den Eindruck, es handele sich um einen historischen Roman. Doch spricht der Autor unzweideutig zum gegenwärtigen Leser; der Kommentar des Ich-Erzählers zum Kamasutra reflektiert modernes Bewusstsein. Um den modernen Leser unmittelbarer anzusprechen, lässt Kakar seine Figuren sogar Stellen aus dem Kamasutra zitieren, die fiktiv sind. Nicht zuletzt zeigt der Roman die indische Frau einmal nicht unterdrückt und ausgebeutet, sondern frei, selbstbewusst, als aktiven Partner einer Beziehung.
MARTIN KÄMPCHEN
Sudhir Kakar: "Kamasutra oder Die Kunst des Begehrens". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Nathalie Lemmens. Verlag C. H. Beck, München 1999, 358 S., geb., 44,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Martin Kämpchen findet das Buch misslungen, aber interessant. Der Roman erzählt die Lebensgeschichte Vatsyayanas, der im dritten oder vierten Jahrhundert nach Christus den "Kamasutra" schrieb: Ein Schüler interviewt den Meister, um einen Kommentar zum Kamasutra zu schreiben. Er wird der Geliebte von Vatsyayanas Ehefrau und stellt fest, dass der Autor dieser berühmten Abhandlung über die Liebeskunst, zölibatär lebt, sein Wissen also rein theoretisch ist. Kakar ist "zu sehr engagierter Sozialkritiker und Missionar des sexuellen Liberalismus", um Geschichten oder Charaktere erzählen zu können, meint Kämpchen leicht betrübt. Die erotischen Szenen erinnern ihn an "Gebrauchsanweisungen" - er meint das ohne Einschränkung negativ. Vielleicht liegt es daran, dass Kakar den Roman in Berlin geschrieben hat? "Bewundernswert" findet Kämpchen allerdings die psychologischen Einsichten Kakars in die Sexualität und die Beziehung der Geschlechter.
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