Gustav Stille, Mediziner und Schriftsteller, war einer der intellektuellen Vordenker der antisemitischen Bewegung im Kaiserreich. Sein bislang unveröffentlichter Briefwechsel mit Karl Kautsky aus dem Jahr 1880 offenbart seinen Wandel vom Nationalliberalen zum Antisemiten und nationalen Sozialisten. Die Lösung der sozialen Frage sah er im Kampf gegen die vereinigten Großmächte Kapitalismus und Judentum.
Gustav Stille (1845-1920), Mediziner und -Schriftsteller, war einer der frühen Propheten und intellektuellen Vorkämpfer des Antisemitismus. Rasse und Lebensraum, Volkskraft und Weltpolitik bildeten die Axiome seines innen- und außenpolitischen Programms, mit dem er zentrale Ideologeme des Nationalsozialismus antizipierte. In seinem Buch "Der Kampf gegen das Judenthum", das zwischen 1891 und 1912 acht Auflagen erzielte, forderte Stille nicht nur die Entfernung der Juden aus dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands, sondern auch deren existenzielle Vernichtung. Mit seiner Schrift "Volkskraft und Weltpolitik" (1897) propagierte er die Abkehr von der Kolonialpolitik, stattdessen die Lebensraumerweiterung im Osten, letztlich dessen Germani-sierung. Biografie, Zielsetzungen und Rezeption Stilles werfen ein neues Licht auf die Entstehung und Reichweite des Rassenantisemitismus in Deutschland.
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Gustav Stille (1845-1920), Mediziner und -Schriftsteller, war einer der frühen Propheten und intellektuellen Vorkämpfer des Antisemitismus. Rasse und Lebensraum, Volkskraft und Weltpolitik bildeten die Axiome seines innen- und außenpolitischen Programms, mit dem er zentrale Ideologeme des Nationalsozialismus antizipierte. In seinem Buch "Der Kampf gegen das Judenthum", das zwischen 1891 und 1912 acht Auflagen erzielte, forderte Stille nicht nur die Entfernung der Juden aus dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands, sondern auch deren existenzielle Vernichtung. Mit seiner Schrift "Volkskraft und Weltpolitik" (1897) propagierte er die Abkehr von der Kolonialpolitik, stattdessen die Lebensraumerweiterung im Osten, letztlich dessen Germani-sierung. Biografie, Zielsetzungen und Rezeption Stilles werfen ein neues Licht auf die Entstehung und Reichweite des Rassenantisemitismus in Deutschland.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2009Wegbereiter
Gustav Stilles Rassismus
Die Suche nach den Ursachen des Holocaust bleibt eine zentrale Aufgabe der deutschen Geschichtswissenschaft. Einen weiteren Mosaikstein dazu liefert die Biographie Hans-Jürgen Döschers über Gustav Stille. Stille, 1845 geboren, war ein beliebter Arzt im ländlichen Raum zwischen Elbe und Weser. 1904 verlieh ihm Wilhelm II. den Titel eines Sanitätsrats, 1917 sogar den eines Geheimen Sanitätsrats. Der Kaiser würdigte damit Stilles Tätigkeit als Landarzt und die Arbeit als Freiwilliger in Lazaretten der Armee. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist der Arzt vor allem als Schriftsteller heimischer Mundart. Heute vergessen, damals aber von großer Bedeutung war jedoch "Kampf gegen das Judenthum" - so der Titel von Stille "erfolgreichster" Schrift, die es zwischen 1891 und 1912 auf immerhin acht Auflagen brachte.
Vor dem Hintergrund der "Großen Depression" der 1870er und 1880er Jahre machte Stille - wie viele andere Zeitgenossen - stereotyp die Juden für alle Missstände in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft verantwortlich. Bereits 1880 forderte er in einem (bei Döscher erstmals dokumentierten) Briefwechsel mit Karl Kautsky, dem bedeutendsten Theoretiker der SPD, dass "den Semiten einmal ordentlich auf die Finger geklopft" werde, "ihr Geschnodder und Gemauschel, ihr System von Lug und Trug, ihre anmaßende Frechheit und Vordringlichkeit gründlich beseitigt" werde. Dies war mehr als der häufig anzutreffende "Salonantisemitismus". Und schon 1891 verlangte Stille dezidiert die "Vernichtung" der angeblichen "Judenmacht". Diese Forderungen bereiteten, wie Döscher plausibel nachweist, den geistigen Boden für Hitlers Rasse- und Raumpolitik. Eine Bestätigung der umstrittenen Thesen Daniel Goldhagens will er darin nicht sehen, da der Weg zum Holocaust bei allen Kontinuitäten eben doch komplizierter gewesen sei.
MICHAEL EPKENHANS.
Hans-Jürgen Döscher: "Kampf gegen das Juden-thum": Gustav Stille (1845-1920). Antisemit im deutschen Kaiserreich. Metropol Verlag, Berlin 2008. 173 S., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gustav Stilles Rassismus
Die Suche nach den Ursachen des Holocaust bleibt eine zentrale Aufgabe der deutschen Geschichtswissenschaft. Einen weiteren Mosaikstein dazu liefert die Biographie Hans-Jürgen Döschers über Gustav Stille. Stille, 1845 geboren, war ein beliebter Arzt im ländlichen Raum zwischen Elbe und Weser. 1904 verlieh ihm Wilhelm II. den Titel eines Sanitätsrats, 1917 sogar den eines Geheimen Sanitätsrats. Der Kaiser würdigte damit Stilles Tätigkeit als Landarzt und die Arbeit als Freiwilliger in Lazaretten der Armee. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist der Arzt vor allem als Schriftsteller heimischer Mundart. Heute vergessen, damals aber von großer Bedeutung war jedoch "Kampf gegen das Judenthum" - so der Titel von Stille "erfolgreichster" Schrift, die es zwischen 1891 und 1912 auf immerhin acht Auflagen brachte.
Vor dem Hintergrund der "Großen Depression" der 1870er und 1880er Jahre machte Stille - wie viele andere Zeitgenossen - stereotyp die Juden für alle Missstände in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft verantwortlich. Bereits 1880 forderte er in einem (bei Döscher erstmals dokumentierten) Briefwechsel mit Karl Kautsky, dem bedeutendsten Theoretiker der SPD, dass "den Semiten einmal ordentlich auf die Finger geklopft" werde, "ihr Geschnodder und Gemauschel, ihr System von Lug und Trug, ihre anmaßende Frechheit und Vordringlichkeit gründlich beseitigt" werde. Dies war mehr als der häufig anzutreffende "Salonantisemitismus". Und schon 1891 verlangte Stille dezidiert die "Vernichtung" der angeblichen "Judenmacht". Diese Forderungen bereiteten, wie Döscher plausibel nachweist, den geistigen Boden für Hitlers Rasse- und Raumpolitik. Eine Bestätigung der umstrittenen Thesen Daniel Goldhagens will er darin nicht sehen, da der Weg zum Holocaust bei allen Kontinuitäten eben doch komplizierter gewesen sei.
MICHAEL EPKENHANS.
Hans-Jürgen Döscher: "Kampf gegen das Juden-thum": Gustav Stille (1845-1920). Antisemit im deutschen Kaiserreich. Metropol Verlag, Berlin 2008. 173 S., 19,- [Euro].
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