Die moderne Wissenschaft hat tiefgreifend unser Verständnis der Natur geprägt. In den letzten drei Jahrhunderten bildete diese Idee der Natur den Hintergrund all unseres Tuns. Aufgrund der ökologischen Folgen des menschlichen Handelns tritt die Natur jedoch heute aus dem Hintergrund auf die Bühne, wie Bruno Latour in seinem faszinierenden Buch zeigt. Die Luft, die Meere, die Gletscher, das Klima, die Böden, alles interagiert mit uns. Wir haben die Epoche der Geohistorie betreten, das Zeitalter des Anthropozäns - mit dem Risiko eines Krieges aller gegen alle.
Die alte Natur verschwindet und weicht einem Wesen, das schwierig zu bestimmen ist. Es ist alles andere als stabil und besteht aus einer Reihe von Feedbackschleifen in ständiger Bewegung. Gaia ist sein Name. Latour argumentiert, dass die komplexe und mehrdeutige Gaia-Hypothese, wie sie von James Lovelock entwickelt wurde, ein idealer Weg ist, um die ethischen, politischen, theologischen und wissenschaftlichen Aspekte des nunmehr veralteten Begriffs der Natur zu entwirren. Er legt den Grundstein für eine zukünftige Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, Theologen, Aktivisten und Künstlern, während wir beginnen, mit dem neuen Klimaregime zu leben.
Die alte Natur verschwindet und weicht einem Wesen, das schwierig zu bestimmen ist. Es ist alles andere als stabil und besteht aus einer Reihe von Feedbackschleifen in ständiger Bewegung. Gaia ist sein Name. Latour argumentiert, dass die komplexe und mehrdeutige Gaia-Hypothese, wie sie von James Lovelock entwickelt wurde, ein idealer Weg ist, um die ethischen, politischen, theologischen und wissenschaftlichen Aspekte des nunmehr veralteten Begriffs der Natur zu entwirren. Er legt den Grundstein für eine zukünftige Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, Theologen, Aktivisten und Künstlern, während wir beginnen, mit dem neuen Klimaregime zu leben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2017Die Welt ist halt kein Blätterteig
Nach der Natur ist vor der Politik: Bruno Latour entwirft ein Klimaregime für das Anthropozän
Die Klimaskeptiker haben mit Donald Trump ihr großes Los gezogen. Doch ihre wichtigste Schlacht gewannen sie schon sehr viel früher: als es ihnen gelang, sich keineswegs als Leugner der aufgehäuften Belege für die vom Menschen verursachten Folgen für das Klima zu präsentieren, sondern als Skeptiker. Als sie den Namen einer ehrenwerten philosophischen Tradition kaperten, mit der sie tatsächlich gar nichts am Hut haben, als ob ihre Leugnung Resultat gediegenen Abwägens von Gründen und Begründungen sei.
Verschwörungstheorie kommt da bei einem harten Kern dieser selbsternannten Skeptiker bekanntlich hinzu: Wissenschaftler, die über das Thema Klima an Reputation und Gelder kommen wollen, sorgten für falsche apokalyptische Warnungen und Schuldzuweisungen. Aber die Breitenwirkung ihrer Kampagnen verdankte sich eher noch einem bestimmten Bild von Wissenschaft, an das sie ihre vermeintliche Skepsis knüpfen. Denn zeige der Blick auf die präsentierten Modelle, Daten und Prognosen nicht, dass Modelle manchmal miteinander konkurrierten, Daten mit Unsicherheiten behaftet seien, ja die Wissenschaftler eben selbst untereinander manchmal uneins seien über die angemessene Kombination der vielen Puzzleteile, die aus verschiedenen Forschungsfeldern bezogen werden?
Wo bleibe da die Eindeutigkeit, mit der die Natur spricht, wenn sie von richtiger Wissenschaft traktiert wird, die ihre unverrückbaren Gesetze aufdeckt? Zeige das nicht, dass menschliche Interessen im Spiel sind, sich Politisches einmengt, wo reine Objektivität herrschen müsste, die sich um uns nicht im Geringsten kümmert? Da bleibe nur die "skeptische" Distanz - die zufällig ganz gut zu klaren wirtschaftlichen Interessen und allgemeiner zur Neigung passt, sich nicht Wirtschaftswachstum auf gebahnten Wegen und eingefahrene Lebensstile madig machen zu lassen.
Mit Bruno Latour gesprochen, dem Pariser Wissenschaftsforscher und Philosophen, sind die Klimaskeptiker exemplarische Moderne: Sie gehen von einer scharfen Grenze aus, die die menschlichen Angelegenheiten von den natürlichen Tatsachen trennt, welche die Wissenschaften aufzeichnen. Dass es aber genau diese scharfe Grenze nicht gibt, das ist der springende Punkt bei Bruno Latour seit seinen frühen Arbeiten zu Laborforschung. Ihr Kernsatz lautet: Wir sind nie modern gewesen, denn diese Grenze war - sieht man nur genauer hin, wie die Wissenschaften prozedieren - immer eine bloße Behauptung, ein Art Festreden-Image der Wissenschaft.
Weder ist "die Natur" bloß gegeben, noch erforschen wir sie wie Leute vom Sirius; und genauso voreilig ist es - der Leitgedanke von Latours "symmetrischer Anthropologie" -, eigensinnige Akteure bloß auf der menschlichen, also kulturellen Seite zu verorten, während auf der Seite der natürlichen Gegenstände und Artefakte nur Ursachen sich brav verketten, wenn auch manchmal mit für uns fatalen Folgen.
Diese Grundeinsichten prägen auch Latours nun auf Deutsch erschienene "Vorträge über das neue Klimaregime", hervorgegangen aus den traditionsreichen Gifford Lectures, zu denen er 2013 eingeladen worden war. Ihr zentrales Motiv lässt sich so formulieren: Wir sind nie modern gewesen, doch mittlerweile zeigt uns die Klimaforschung ganz konkret, wie die vermeintlich von uns klar abgetrennten Gegenstände der Forschung auf uns zurückwirken. Die moderne Grenzziehung zwischen ihnen und uns entpuppt sich damit endgültig als illusionär. Das alte Klimaregime hielt an ihr fest: die selbsternannten Skeptiker wie die optimistischen Ingenieure, aber auch jene, die den Menschen als Gärtner und Wächter des Planeten oder der Schöpfung ansehen.
Gaia ist nicht der Blaue Planet
Was es deshalb nach Latour braucht, ist ein neues Klimaregime. Ein Regime, das die alte Opposition Natur/Kultur definitiv hinter sich lässt, indem es sich an ein realistisches Bild von den (Klima-)Wissenschaften hält, an deren Verfahren, im Forschungsprozess immer neue relevante Agenten - "Wirkmächte" ist der von Latour gewählte Terminus -, Interaktionen und Rückkoppelungsschleifen zu entdecken. Woraus sich kein Ganzes ergibt, keine selbstregulierende kybernetische Maschine namens "Blauer Planet", kein unter Bewahrungs- oder Ingenieursaspekten ins Auge zu fassender Globus, sondern eine historisch offene, auf einander durchdringenden Funktionsebenen interagierende Vielfalt von Wirkmächten, menschlichen wie nicht-menschlichen.
Sie bekommt von Latour den Namen Gaia. Das ist vielleicht eine großzügige Interpretation von Lovelocks Konzept, aber jedenfalls eine interessante. Und wer angesichts mancher Gaia-Adoranten gleich ausholen möchte zum Vorwurf, damit sei einer naiven Ersatzreligion beigepflichtet, liegt bei einem Autor wie Latour ganz falsch. Religion kommt bei ihm durchaus ins Spiel, aber nur insofern, als das neue Klimaregime erst die definitive Säkularisierung unseres Weltverhältnisses bringen soll.
Denn Latour sieht dieses Verhältnis immer noch durchzogen von religiösen Erbschaften, auch und gerade dort, wo es nach dem Selbstverständnis der Akteure gut materialistisch und ganz säkular zugehen soll. Diese Erbschaften seien letztlich dafür verantwortlich, dass die Befunde und Prognosen der Klimaforschung so wenig Effekt zeigen. Um das einsichtig zu machen, veranstaltet Latour großes Ideentheater unter Verwendung von Eric Voegelins ideengeschichtlichen Thesen zur Gnosis und zu Utopien als in die historische Zeit geholten Jenseitshoffnungen.
Eine Stimme für den Ozean
Es läuft auf die These hinaus, dass wir Modernen von einem möglichen Ende der Welt nichts hören wollen, weil das apokalyptische Ende der Zeit schon längst in einen ruhigen, virtuell zeitlosen Geschichtslauf konvertiert wurde. Ob es diese Ableitung aus der Tiefe der Zeit braucht, um zu erklären, warum die Befunde der Klimaforschung keine Kehrtwenden hervorbringen, darüber kann man unterschiedlicher Ansicht sein. Aber Latour geht hier nun einmal aufs Ganze, will zeigen, dass wir Modernen noch immer in Idealisierungen stecken, Erbschaften alter Transzendenz, die uns daran hindern, jenseits der Unterscheidung religiös/säkular wirklich im Diesseits, bei der konkreten, endlichen Materialität der Welt und ihrer vielfältigen Akteure anzukommen. Eben bei Gaia, Gegengestalt von Utopie und Zeitlosigkeit, die sich nicht hübsch hierarchisch geschichtet gibt - "Die Welt ist kein Blätterteig" -, für eine "sehr weltliche Endlichkeit" steht und dafür, endlich die Gegenwart ernst zu nehmen.
Das meint natürlich, die Gegenwart als den Ort von wirklichen Entscheidungen ernst zu nehmen, also auch von Kämpfen um diese Entscheidungen mit Blick auf eine offensichtlich für alle riskant gewordene Zukunft im Anthropozän (wobei es kaum eine Rolle spielt, ob und wann die geologische Epochenbezeichnung sich offiziell durchsetzen wird). Was dazu gefordert ist, fasst Latour unter die Direktive einer "Repolitisierung der Ökologie": Statt wie im alten Klimaregime die Politik hinter den Verweisen auf die Gegebenheiten "der Natur" und ihre Abbildungen in der Wissenschaft tendenziell verschwinden zu lassen, müsse sie nun explizit verfochten werden.
Denn die gern geübte Berufung auf Natur wie Wissenschaft als unanfechtbare, miteinander verknüpfte Schlichtungsinstanzen fällt nun aus. Sich wie manche Ökologen einzubilden, über die unverrückbare Wahrheit zu verfügen, der gegenüber die Opponenten bloß verschiedene Varianten rationaler Defizienz erkennen ließen, greift nicht mehr. Hält man an diesem alten Regime fest, verdecke man nur die Realität der Kämpfe, indem man sich mit vermeintlich ihnen enthobenen Einsichten tröstet; und man ist dann auch machtlos gegenüber ihren möglichen Radikalisierungen.
Besser also, so Latours Maxime, man bekennt sich zum Krieg, nicht um ihn zu führen, sondern um ihm durch eine neue Form von Unterhandlungen möglichst zuvorzukommen. Es ist diese Stelle, wo Latour ein Stück weit Überlegungen Carl Schmitts als Leitfaden nimmt. Das ist, wie manchmal bei Latour, etwas überinstrumentiert. Doch die riskante Verwendung eines "toxischen" Autors wie Schmitt soll braven Naturschützern und Wissenschaftlern, die auf ihre ultimative Objektivität pochen, offensichtlich einen kleinen Schock verpassen; wobei sie es im Vorbeigehen sogar mit Schmitts "Raumordnungskriegen" zu tun bekommen, um aus der Reserve gelockt zu werden.
Wie die Unterhandlungen im menschliche wie nichtmenschliche Akteure umfassenden neuen Klimaregime aussehen können, ließ Latour einmal in theatralem Rahmen von Studenten, die sich zu Vertretern einiger dieser Akteure machten, simulieren. Da sprach er wieder, der Ozean, wenn auch anders als weiland bei Victor Hugo.
Klar, wer das für einen Vorschlag hält, wodurch das Pariser Klimaabkommen von 2015 übermorgen zu ersetzen ist, wird es an Spott nicht fehlen lassen. Aber der täte einem Autor unrecht, der einen genauen Blick für das Prozedieren der Wissenschaften verknüpft mit Sinn für sehr grundsätzliche Erkundungen ehrwürdiger Begriffe, die er in neue Konstellationen bringt: etwas groß die Gesten, überbordend manchmal die Rhetorik, riskant die Zuspitzungen, aber überlegt und anregend jedenfalls.
HELMUT MAYER
Bruno Latour: "Der Kampf um Gaia". Acht Vorträge über das neue Klimaregime.
Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 523 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach der Natur ist vor der Politik: Bruno Latour entwirft ein Klimaregime für das Anthropozän
Die Klimaskeptiker haben mit Donald Trump ihr großes Los gezogen. Doch ihre wichtigste Schlacht gewannen sie schon sehr viel früher: als es ihnen gelang, sich keineswegs als Leugner der aufgehäuften Belege für die vom Menschen verursachten Folgen für das Klima zu präsentieren, sondern als Skeptiker. Als sie den Namen einer ehrenwerten philosophischen Tradition kaperten, mit der sie tatsächlich gar nichts am Hut haben, als ob ihre Leugnung Resultat gediegenen Abwägens von Gründen und Begründungen sei.
Verschwörungstheorie kommt da bei einem harten Kern dieser selbsternannten Skeptiker bekanntlich hinzu: Wissenschaftler, die über das Thema Klima an Reputation und Gelder kommen wollen, sorgten für falsche apokalyptische Warnungen und Schuldzuweisungen. Aber die Breitenwirkung ihrer Kampagnen verdankte sich eher noch einem bestimmten Bild von Wissenschaft, an das sie ihre vermeintliche Skepsis knüpfen. Denn zeige der Blick auf die präsentierten Modelle, Daten und Prognosen nicht, dass Modelle manchmal miteinander konkurrierten, Daten mit Unsicherheiten behaftet seien, ja die Wissenschaftler eben selbst untereinander manchmal uneins seien über die angemessene Kombination der vielen Puzzleteile, die aus verschiedenen Forschungsfeldern bezogen werden?
Wo bleibe da die Eindeutigkeit, mit der die Natur spricht, wenn sie von richtiger Wissenschaft traktiert wird, die ihre unverrückbaren Gesetze aufdeckt? Zeige das nicht, dass menschliche Interessen im Spiel sind, sich Politisches einmengt, wo reine Objektivität herrschen müsste, die sich um uns nicht im Geringsten kümmert? Da bleibe nur die "skeptische" Distanz - die zufällig ganz gut zu klaren wirtschaftlichen Interessen und allgemeiner zur Neigung passt, sich nicht Wirtschaftswachstum auf gebahnten Wegen und eingefahrene Lebensstile madig machen zu lassen.
Mit Bruno Latour gesprochen, dem Pariser Wissenschaftsforscher und Philosophen, sind die Klimaskeptiker exemplarische Moderne: Sie gehen von einer scharfen Grenze aus, die die menschlichen Angelegenheiten von den natürlichen Tatsachen trennt, welche die Wissenschaften aufzeichnen. Dass es aber genau diese scharfe Grenze nicht gibt, das ist der springende Punkt bei Bruno Latour seit seinen frühen Arbeiten zu Laborforschung. Ihr Kernsatz lautet: Wir sind nie modern gewesen, denn diese Grenze war - sieht man nur genauer hin, wie die Wissenschaften prozedieren - immer eine bloße Behauptung, ein Art Festreden-Image der Wissenschaft.
Weder ist "die Natur" bloß gegeben, noch erforschen wir sie wie Leute vom Sirius; und genauso voreilig ist es - der Leitgedanke von Latours "symmetrischer Anthropologie" -, eigensinnige Akteure bloß auf der menschlichen, also kulturellen Seite zu verorten, während auf der Seite der natürlichen Gegenstände und Artefakte nur Ursachen sich brav verketten, wenn auch manchmal mit für uns fatalen Folgen.
Diese Grundeinsichten prägen auch Latours nun auf Deutsch erschienene "Vorträge über das neue Klimaregime", hervorgegangen aus den traditionsreichen Gifford Lectures, zu denen er 2013 eingeladen worden war. Ihr zentrales Motiv lässt sich so formulieren: Wir sind nie modern gewesen, doch mittlerweile zeigt uns die Klimaforschung ganz konkret, wie die vermeintlich von uns klar abgetrennten Gegenstände der Forschung auf uns zurückwirken. Die moderne Grenzziehung zwischen ihnen und uns entpuppt sich damit endgültig als illusionär. Das alte Klimaregime hielt an ihr fest: die selbsternannten Skeptiker wie die optimistischen Ingenieure, aber auch jene, die den Menschen als Gärtner und Wächter des Planeten oder der Schöpfung ansehen.
Gaia ist nicht der Blaue Planet
Was es deshalb nach Latour braucht, ist ein neues Klimaregime. Ein Regime, das die alte Opposition Natur/Kultur definitiv hinter sich lässt, indem es sich an ein realistisches Bild von den (Klima-)Wissenschaften hält, an deren Verfahren, im Forschungsprozess immer neue relevante Agenten - "Wirkmächte" ist der von Latour gewählte Terminus -, Interaktionen und Rückkoppelungsschleifen zu entdecken. Woraus sich kein Ganzes ergibt, keine selbstregulierende kybernetische Maschine namens "Blauer Planet", kein unter Bewahrungs- oder Ingenieursaspekten ins Auge zu fassender Globus, sondern eine historisch offene, auf einander durchdringenden Funktionsebenen interagierende Vielfalt von Wirkmächten, menschlichen wie nicht-menschlichen.
Sie bekommt von Latour den Namen Gaia. Das ist vielleicht eine großzügige Interpretation von Lovelocks Konzept, aber jedenfalls eine interessante. Und wer angesichts mancher Gaia-Adoranten gleich ausholen möchte zum Vorwurf, damit sei einer naiven Ersatzreligion beigepflichtet, liegt bei einem Autor wie Latour ganz falsch. Religion kommt bei ihm durchaus ins Spiel, aber nur insofern, als das neue Klimaregime erst die definitive Säkularisierung unseres Weltverhältnisses bringen soll.
Denn Latour sieht dieses Verhältnis immer noch durchzogen von religiösen Erbschaften, auch und gerade dort, wo es nach dem Selbstverständnis der Akteure gut materialistisch und ganz säkular zugehen soll. Diese Erbschaften seien letztlich dafür verantwortlich, dass die Befunde und Prognosen der Klimaforschung so wenig Effekt zeigen. Um das einsichtig zu machen, veranstaltet Latour großes Ideentheater unter Verwendung von Eric Voegelins ideengeschichtlichen Thesen zur Gnosis und zu Utopien als in die historische Zeit geholten Jenseitshoffnungen.
Eine Stimme für den Ozean
Es läuft auf die These hinaus, dass wir Modernen von einem möglichen Ende der Welt nichts hören wollen, weil das apokalyptische Ende der Zeit schon längst in einen ruhigen, virtuell zeitlosen Geschichtslauf konvertiert wurde. Ob es diese Ableitung aus der Tiefe der Zeit braucht, um zu erklären, warum die Befunde der Klimaforschung keine Kehrtwenden hervorbringen, darüber kann man unterschiedlicher Ansicht sein. Aber Latour geht hier nun einmal aufs Ganze, will zeigen, dass wir Modernen noch immer in Idealisierungen stecken, Erbschaften alter Transzendenz, die uns daran hindern, jenseits der Unterscheidung religiös/säkular wirklich im Diesseits, bei der konkreten, endlichen Materialität der Welt und ihrer vielfältigen Akteure anzukommen. Eben bei Gaia, Gegengestalt von Utopie und Zeitlosigkeit, die sich nicht hübsch hierarchisch geschichtet gibt - "Die Welt ist kein Blätterteig" -, für eine "sehr weltliche Endlichkeit" steht und dafür, endlich die Gegenwart ernst zu nehmen.
Das meint natürlich, die Gegenwart als den Ort von wirklichen Entscheidungen ernst zu nehmen, also auch von Kämpfen um diese Entscheidungen mit Blick auf eine offensichtlich für alle riskant gewordene Zukunft im Anthropozän (wobei es kaum eine Rolle spielt, ob und wann die geologische Epochenbezeichnung sich offiziell durchsetzen wird). Was dazu gefordert ist, fasst Latour unter die Direktive einer "Repolitisierung der Ökologie": Statt wie im alten Klimaregime die Politik hinter den Verweisen auf die Gegebenheiten "der Natur" und ihre Abbildungen in der Wissenschaft tendenziell verschwinden zu lassen, müsse sie nun explizit verfochten werden.
Denn die gern geübte Berufung auf Natur wie Wissenschaft als unanfechtbare, miteinander verknüpfte Schlichtungsinstanzen fällt nun aus. Sich wie manche Ökologen einzubilden, über die unverrückbare Wahrheit zu verfügen, der gegenüber die Opponenten bloß verschiedene Varianten rationaler Defizienz erkennen ließen, greift nicht mehr. Hält man an diesem alten Regime fest, verdecke man nur die Realität der Kämpfe, indem man sich mit vermeintlich ihnen enthobenen Einsichten tröstet; und man ist dann auch machtlos gegenüber ihren möglichen Radikalisierungen.
Besser also, so Latours Maxime, man bekennt sich zum Krieg, nicht um ihn zu führen, sondern um ihm durch eine neue Form von Unterhandlungen möglichst zuvorzukommen. Es ist diese Stelle, wo Latour ein Stück weit Überlegungen Carl Schmitts als Leitfaden nimmt. Das ist, wie manchmal bei Latour, etwas überinstrumentiert. Doch die riskante Verwendung eines "toxischen" Autors wie Schmitt soll braven Naturschützern und Wissenschaftlern, die auf ihre ultimative Objektivität pochen, offensichtlich einen kleinen Schock verpassen; wobei sie es im Vorbeigehen sogar mit Schmitts "Raumordnungskriegen" zu tun bekommen, um aus der Reserve gelockt zu werden.
Wie die Unterhandlungen im menschliche wie nichtmenschliche Akteure umfassenden neuen Klimaregime aussehen können, ließ Latour einmal in theatralem Rahmen von Studenten, die sich zu Vertretern einiger dieser Akteure machten, simulieren. Da sprach er wieder, der Ozean, wenn auch anders als weiland bei Victor Hugo.
Klar, wer das für einen Vorschlag hält, wodurch das Pariser Klimaabkommen von 2015 übermorgen zu ersetzen ist, wird es an Spott nicht fehlen lassen. Aber der täte einem Autor unrecht, der einen genauen Blick für das Prozedieren der Wissenschaften verknüpft mit Sinn für sehr grundsätzliche Erkundungen ehrwürdiger Begriffe, die er in neue Konstellationen bringt: etwas groß die Gesten, überbordend manchmal die Rhetorik, riskant die Zuspitzungen, aber überlegt und anregend jedenfalls.
HELMUT MAYER
Bruno Latour: "Der Kampf um Gaia". Acht Vorträge über das neue Klimaregime.
Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 523 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Es genügt, dieses Buch des momentan weltweit meistzitierten und meistübersetzten französischen Autors, Bruno Latour, zu öffnen, um zu erkennen, wie ein Denker der Extraklasse seine ganze begriffliche und theoretische Innovationskraft in den Dienst der Betrachtung der großen Fragen unserer Epoche stellen kann.«
Le Monde 05.12.2016
Le Monde 05.12.2016