Dass er »zu sicher gelebt hat«, begreift Charles mit Anfang 60, kurz vor seinem Ruhestand. Als seine Frau Maude ihm eröffnet, dass ein anderer Mann fortan das Haus mit ihnen teilen soll, setzt er ihrem Traum zunächst einen eigenen entgegen: einmal im Leben durch den Ärmelkanal zu schwimmen. Das Wasser - stark, anziehend, gefahrvoll - verändert Charles' Sicht auf sein Leben: auf die drei Sommer der Liebe in den Siebzigern, menschliche Leidenschaften, gescheiterte Utopien.Mit beeindruckender poetischer und psychologischer Intensität, sinnlich und humorvoll erzählt Ulrike Draesner die Geschichte einer Kanalüberquerung, die äußere wie innere Grenzen testet. Ein Aufbruch im Alter, ist das möglich? Gelten die frühen Ideale noch - oder wieder? Der Kanal ist kalt, die Strömung mächtig. Am Ende wird Charles klar, dass er nicht über seinen Schatten springen muss. Er kann ihn durchschwimmen.
buecher-magazin.deSchwimmen ist literaturfähig, und dies nicht erst seit John von Düffel. Leander durchschwamm allnächtlich den Hellespont, um Hero in die Arme zu schließen. Kühnheit am Rande der Hybris – das ließ die Götter zürnen. Die antike Sage zog Generationen von Künstlern in den Bann. 1875 rückte dann der Ärmelkanal ins Visier der Hardcore-Schwimmer. Eine Kraftprobe für Körper und Geist, der sich nun auch Ulrike Draesners Romanheld Charles stellt. Der 62-jährige Biochemiker bangt um seine Ehe und sucht Klarheit durch Verausgabung: Strebt seine Frau Maude ernsthaft eine Ménage-à-trois an, mit Silas, seinem einstigen Freund und Konkurrenten? Alte Liebeswirren kommen hoch. Und Charles taucht ab – in die eisigen Fluten der gefährlichen Schiffsautobahn. Überwacht von einem Begleitboot kämpft er gegen elementare Gewalten, Zivilisationsmüll und physische Grenzen, gegen Sehnsüchte und Lebenslügen. Ulrike Draesner erzählt von existentieller Grenzerfahrung und dem Schmerz der Desillusion. Im steten Abgleich von Meereslaunen und Körperqualen, Erinnerungen und Trugbildern setzt sie ihren Helden einer übermächtigen Drift aus, hinab in sein innerstes Dunkel, hin zu erlösenden Ufern. Ein poetisches Psychogramm, eine großartige Parabel auf die so wechselhafte Lebensreise.
© BÜCHERmagazin, Ingeborg Waldinger (wal)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2019Im Meer der Erkenntnis
Ulrike Draesner schickt in "Kanalschwimmer" einen Mann in der Krise auf eine Reise zu sich selbst. Ihr Roman beweist beeindruckend, wie man einem bekannten Stoff eine neue Stimme verleihen kann.
Der literarische Hallraum erklingt mächtig, wenn Männer auf See nicht nur mit dem nackten Überleben ringen, sondern einen existentiellen Kampf ums Dasein an sich führen - man denke nur an Hemingways Santiago oder Melvilles Ahab. Der Protagonist von Ulrike Draesners Roman "Kanalschwimmer", Charles, ein Biochemiker wenige Jahre vor dem Ruhestand, muss seine Kräfte zwar nicht mit Meereswesen messen, er will schwimmend den Ärmelkanal durchqueren, um auf diese Weise der eigenen Lebenskrise zu trotzen, vor allem will er diese Krise und die eigene Rolle darin zuallererst einmal verstehen. Das Meer wird zum Ort der Selbsterkenntnis, Helden werden darin keine geboren.
Draesner, Autorin von Romanen wie "Vorliebe" oder "Sieben Sprünge vom Rand der Welt", Lyrikerin und seit 2018 Professorin am Leipziger Literaturinstitut, nimmt Motive auf, die gewaltig anmuten, variiert und moduliert sie aber auf eine Weise, dass sie sich zu einem feinsinnigen und sorgsam gebauten Roman fügen, dessen sanfter, dabei entschieden poetischer Ton eine unverkennbare Gegenstimme zum Chor der männlichen literarischen Eroberer des maritimen Raumes bildet. Wale, vielmehr Walskelette - das ist eine dieser Motivvariationen Draesners - geben den Anstoß für Charles' Entscheidung, sich der körperlichen Extremsituation der Kanaldurchquerung auszusetzen. Im Oxforder Naturkundemuseum fällt sein Blick auf die Skelette von fünf Meeressäugern, die an der Decke aufgehängt sind, als würden sie durch den Raum schweben - und er erkennt die Verwandtschaft. "Mit ihren langen, scharfen Knochenmäulern schneiden die Wale durch den luftigen Ozean der Zeit und singen mit dem Blut in ihren Lungen davon, was es heißt, nicht der zu sein, der man scheint."
Denn ebendies - das Trügerische - gilt in doppelter Hinsicht auch für Charles' Dasein. Ausgerechnet in jenem Moment, als das Leben sich besonders friedlich und beständig anfühlt, gerät es aus den Fugen. "Wann bricht eine Zukunft zusammen?" Wie ein Refrain kreist diese Frage fortan durch Charles' Kopf. Nach Jahren in Deutschland hat seine Frau Maude, eine Musikerin, ihn überredet, ein Haus in London zu kaufen, ein "Zuhause", wie sie es nennt, nur um ihm kurz darauf zu verkünden, dass sie fortan nicht ausschließlich mit ihm, sondern vor allem mit Silas zusammenleben will. Silas, Charles' Jugendfreund, war vor ihm mit Maude liiert. Neben der Erschütterung über die Aufkündigung einer seit Jahrzehnten währenden Beziehung - "von Anfang an hatten ihre Knochen zusammengestimmt, die Längen ihrer Glieder" - löst Maudes Mitteilung noch etwas anderes in Charles aus: Scham. Denn unter den Kühlschrankmagneten hat sie einen Brief gesteckt, den er ihr vor vierzig Jahren geschrieben hat. Wider besseres Wissen unterstellte er Silas darin, eine Affäre mit Maudes Schwester Abbie zu haben, die wiederum zu jener Zeit Charles' Freundin gewesen und kurz zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Das Perfide daran: Schon längst war Maude ihm als die eigentlich Begehrenswerte erschienen, Abbie als zweite Wahl.
Die Beziehung von Silas und Maude zerbrach nach Charles' Lüge, die Liebe von ihm und Maude begann. Das, was Charles für nicht hinterfragbar hat halten wollen, fußt auf einem Betrug. "Dem Geheimnis des Lebens auf der Spur", so heißt es auf dem Banner, das am Tag der offenen Tür über seinem Institut hängt. Dem Geheimnis des eigenen Lebens nähert Charles sich erst im Moment der persönlichen Katastrophe. Nicht blindlings, sondern akribisch vorbereitet und nach Wochen des Trainings steigt er ins Wasser, begleitet von einem Boot, von dem aus ihn ein Begleiter mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt.
Wann bricht eine Zukunft zusammen? In den Stunden, in denen Charles sich gegen die Wellen des Ärmelkanals stemmt und sich Szene für Szene die Vergangenheit vor ihm auftut - begonnen mit jener sommerlichen ménage à quatre, als er und Silas vor Jahrzehnten auf Sylt die Schwestern kennenlernten -, wandeln sich die Antwortmöglichkeiten auf diese Frage beständig: Einmal ist es der drohende physische Kollaps, einmal Maudes Entscheidung, die Zweisamkeit aufzulösen, einmal der eigene frühe Verrat. Und während sich mit zunehmender Erschöpfung gedankliche Klarheit einstellt, als würde sich eine Schutzschicht ablösen, die ihn bislang am Hinschauen und Verstehen gehindert hat, scheint die gleichermaßen entlastende wie erschreckende Einsicht, dass für die Zukunft als solche gelten könnte, was auch auf dem Wasser Gesetz ist: Nicht Charles, sondern der Mann auf dem Begleitboot entscheidet, wann das Experiment gestoppt wird, indem er ihn aus dem Wasser zieht, weil er ihn für zu schwach zum Weiterschwimmen hält.
Wie Draesner die körperliche Grenzerfahrung des Schwimmers und das damit einhergehende Gleiten in einen anderen Bewusstseinszustand zu beschreiben weiß, ist in der knappen melodischen Genauigkeit ebenso eindringlich, wie es ihre Schilderungen der englischen Küste sind, jener schroffen, gewachsenen Natur, der gegenüber die menschliche Endlichkeit umso eklatanter erscheint - was wiederum nicht bedeutet, dass die Erfahrung von vier Jahrzehnten Ehe angesichts der überzeitlichen Natur oder der urzeitlichen Knochen im Naturkundemuseum relativiert würden.
In ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Essay "Eine Frau wird älter" hat Ulrike Draesner unverstellt und voller Witz über die schmerzhaften Erfahrungen des körperlichen Alterns reflektiert. "Kanalschwimmer" kann man als literarisches Gegenstück dazu lesen. Falsche Erlösung versprechen weder das Sachbuch noch der Roman, dafür aber beglückende Einsichten. Und so ist es nur konsequent, dass der Ausgang der Kanalüberquerung und damit die Frage nach der Zukunft und Charles' Scheitern in der Schwebe bleiben muss.
WIEBKE POROMBKA
Ulrike Draesner: "Kanalschwimmer".
Roman.
Mare Verlag, Hamburg 2019. 176 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulrike Draesner schickt in "Kanalschwimmer" einen Mann in der Krise auf eine Reise zu sich selbst. Ihr Roman beweist beeindruckend, wie man einem bekannten Stoff eine neue Stimme verleihen kann.
Der literarische Hallraum erklingt mächtig, wenn Männer auf See nicht nur mit dem nackten Überleben ringen, sondern einen existentiellen Kampf ums Dasein an sich führen - man denke nur an Hemingways Santiago oder Melvilles Ahab. Der Protagonist von Ulrike Draesners Roman "Kanalschwimmer", Charles, ein Biochemiker wenige Jahre vor dem Ruhestand, muss seine Kräfte zwar nicht mit Meereswesen messen, er will schwimmend den Ärmelkanal durchqueren, um auf diese Weise der eigenen Lebenskrise zu trotzen, vor allem will er diese Krise und die eigene Rolle darin zuallererst einmal verstehen. Das Meer wird zum Ort der Selbsterkenntnis, Helden werden darin keine geboren.
Draesner, Autorin von Romanen wie "Vorliebe" oder "Sieben Sprünge vom Rand der Welt", Lyrikerin und seit 2018 Professorin am Leipziger Literaturinstitut, nimmt Motive auf, die gewaltig anmuten, variiert und moduliert sie aber auf eine Weise, dass sie sich zu einem feinsinnigen und sorgsam gebauten Roman fügen, dessen sanfter, dabei entschieden poetischer Ton eine unverkennbare Gegenstimme zum Chor der männlichen literarischen Eroberer des maritimen Raumes bildet. Wale, vielmehr Walskelette - das ist eine dieser Motivvariationen Draesners - geben den Anstoß für Charles' Entscheidung, sich der körperlichen Extremsituation der Kanaldurchquerung auszusetzen. Im Oxforder Naturkundemuseum fällt sein Blick auf die Skelette von fünf Meeressäugern, die an der Decke aufgehängt sind, als würden sie durch den Raum schweben - und er erkennt die Verwandtschaft. "Mit ihren langen, scharfen Knochenmäulern schneiden die Wale durch den luftigen Ozean der Zeit und singen mit dem Blut in ihren Lungen davon, was es heißt, nicht der zu sein, der man scheint."
Denn ebendies - das Trügerische - gilt in doppelter Hinsicht auch für Charles' Dasein. Ausgerechnet in jenem Moment, als das Leben sich besonders friedlich und beständig anfühlt, gerät es aus den Fugen. "Wann bricht eine Zukunft zusammen?" Wie ein Refrain kreist diese Frage fortan durch Charles' Kopf. Nach Jahren in Deutschland hat seine Frau Maude, eine Musikerin, ihn überredet, ein Haus in London zu kaufen, ein "Zuhause", wie sie es nennt, nur um ihm kurz darauf zu verkünden, dass sie fortan nicht ausschließlich mit ihm, sondern vor allem mit Silas zusammenleben will. Silas, Charles' Jugendfreund, war vor ihm mit Maude liiert. Neben der Erschütterung über die Aufkündigung einer seit Jahrzehnten währenden Beziehung - "von Anfang an hatten ihre Knochen zusammengestimmt, die Längen ihrer Glieder" - löst Maudes Mitteilung noch etwas anderes in Charles aus: Scham. Denn unter den Kühlschrankmagneten hat sie einen Brief gesteckt, den er ihr vor vierzig Jahren geschrieben hat. Wider besseres Wissen unterstellte er Silas darin, eine Affäre mit Maudes Schwester Abbie zu haben, die wiederum zu jener Zeit Charles' Freundin gewesen und kurz zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Das Perfide daran: Schon längst war Maude ihm als die eigentlich Begehrenswerte erschienen, Abbie als zweite Wahl.
Die Beziehung von Silas und Maude zerbrach nach Charles' Lüge, die Liebe von ihm und Maude begann. Das, was Charles für nicht hinterfragbar hat halten wollen, fußt auf einem Betrug. "Dem Geheimnis des Lebens auf der Spur", so heißt es auf dem Banner, das am Tag der offenen Tür über seinem Institut hängt. Dem Geheimnis des eigenen Lebens nähert Charles sich erst im Moment der persönlichen Katastrophe. Nicht blindlings, sondern akribisch vorbereitet und nach Wochen des Trainings steigt er ins Wasser, begleitet von einem Boot, von dem aus ihn ein Begleiter mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt.
Wann bricht eine Zukunft zusammen? In den Stunden, in denen Charles sich gegen die Wellen des Ärmelkanals stemmt und sich Szene für Szene die Vergangenheit vor ihm auftut - begonnen mit jener sommerlichen ménage à quatre, als er und Silas vor Jahrzehnten auf Sylt die Schwestern kennenlernten -, wandeln sich die Antwortmöglichkeiten auf diese Frage beständig: Einmal ist es der drohende physische Kollaps, einmal Maudes Entscheidung, die Zweisamkeit aufzulösen, einmal der eigene frühe Verrat. Und während sich mit zunehmender Erschöpfung gedankliche Klarheit einstellt, als würde sich eine Schutzschicht ablösen, die ihn bislang am Hinschauen und Verstehen gehindert hat, scheint die gleichermaßen entlastende wie erschreckende Einsicht, dass für die Zukunft als solche gelten könnte, was auch auf dem Wasser Gesetz ist: Nicht Charles, sondern der Mann auf dem Begleitboot entscheidet, wann das Experiment gestoppt wird, indem er ihn aus dem Wasser zieht, weil er ihn für zu schwach zum Weiterschwimmen hält.
Wie Draesner die körperliche Grenzerfahrung des Schwimmers und das damit einhergehende Gleiten in einen anderen Bewusstseinszustand zu beschreiben weiß, ist in der knappen melodischen Genauigkeit ebenso eindringlich, wie es ihre Schilderungen der englischen Küste sind, jener schroffen, gewachsenen Natur, der gegenüber die menschliche Endlichkeit umso eklatanter erscheint - was wiederum nicht bedeutet, dass die Erfahrung von vier Jahrzehnten Ehe angesichts der überzeitlichen Natur oder der urzeitlichen Knochen im Naturkundemuseum relativiert würden.
In ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Essay "Eine Frau wird älter" hat Ulrike Draesner unverstellt und voller Witz über die schmerzhaften Erfahrungen des körperlichen Alterns reflektiert. "Kanalschwimmer" kann man als literarisches Gegenstück dazu lesen. Falsche Erlösung versprechen weder das Sachbuch noch der Roman, dafür aber beglückende Einsichten. Und so ist es nur konsequent, dass der Ausgang der Kanalüberquerung und damit die Frage nach der Zukunft und Charles' Scheitern in der Schwebe bleiben muss.
WIEBKE POROMBKA
Ulrike Draesner: "Kanalschwimmer".
Roman.
Mare Verlag, Hamburg 2019. 176 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Wiebke Porombka liest Ulrike Draesners neuen Roman als "literarisches Gegenstück" zu deren im vergangenen Jahr erschienenen Essay "Eine Frau wird älter". Denn hier wie dort verhandelt die Autorin ohne Heilsversprechen, aber mit "beglückenden Einsichten" Krisen, Zukunftsängste und Selbstfindung, erklärt die Kritikerin. Mehr noch: Wenn ihr Draesner von dem Biochemiker Charles erzählt, der kurz vor dem Ruhestand mit einer alten Lebenslüge konfrontiert wird und in Folge beschließt, allein den Ärmelkanal zu durchschwimmen, vernimmt Porombka zwar durchaus das Rauschen von Hemingways "Santiago" oder Melvilles "Ahab" im Hintergrund. Dank Draesners zarter Poesie und ihrer "feinsinnigen" Romankonstruktion bekommt das alte Thema des männlichen Eroberers des Meeres aber einen weiblichen Kontrapunkt, schließt die Rezensentin.
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»Ein faszinierender Erkenntnistrip, höchst dramatisch, tragikomisch und überraschend.« BÜCHER magazin