Wie hält man eine Ehe lebendig, wie erfindet man sich neu? Die abenteuerliche Geschichte einer Suche nach sich selbst.
Siebenunddreißig Ehejahre hat Charles mit Maude geteilt, nun schlägt sie ihm vor, in Zukunft zu dritt zu leben, zusammen mit dem alten Freund Silas. Irritiert und verletzt macht Charles einen lange gehegten Wunsch wahr und steigt zum gefährlichsten Schwimmversuch seines Lebens in den Ärmelkanal: von Dover nach Calais, vierzigtausend Armschläge mindestens. Im Wasser, glaubt Charles, gebe es keinen Gegner, nur Sonne, Wolken und das eigene Ich. Mit dramatischer Intensität und in berauschend schönen Naturschilderungen erzählt Ulrike Draesner, wie es ist, einmal durch sein eigenes Leben zu schwimmen. Sie begleitet Charles' lange Nacht im Wasser, die sich stündlich mehr zu einer spannenden sportlichen Herausforderung über den Tiefen des Ärmelkanals entwickelt. Zug um Zug tauchen Leserin und Leser in die Dimensionen allgemeinen Menschseins ein: Entstehen und Vergehen, Schönheit und Fassungslosigkeit, bis hin zu aktuellen Fragen wie der Vermüllung der Ozeane und dem Schicksal von Flüchtlingen.
Siebenunddreißig Ehejahre hat Charles mit Maude geteilt, nun schlägt sie ihm vor, in Zukunft zu dritt zu leben, zusammen mit dem alten Freund Silas. Irritiert und verletzt macht Charles einen lange gehegten Wunsch wahr und steigt zum gefährlichsten Schwimmversuch seines Lebens in den Ärmelkanal: von Dover nach Calais, vierzigtausend Armschläge mindestens. Im Wasser, glaubt Charles, gebe es keinen Gegner, nur Sonne, Wolken und das eigene Ich. Mit dramatischer Intensität und in berauschend schönen Naturschilderungen erzählt Ulrike Draesner, wie es ist, einmal durch sein eigenes Leben zu schwimmen. Sie begleitet Charles' lange Nacht im Wasser, die sich stündlich mehr zu einer spannenden sportlichen Herausforderung über den Tiefen des Ärmelkanals entwickelt. Zug um Zug tauchen Leserin und Leser in die Dimensionen allgemeinen Menschseins ein: Entstehen und Vergehen, Schönheit und Fassungslosigkeit, bis hin zu aktuellen Fragen wie der Vermüllung der Ozeane und dem Schicksal von Flüchtlingen.
buecher-magazin.deSchwimmen ist literaturfähig, und dies nicht erst seit John von Düffel. Leander durchschwamm allnächtlich den Hellespont, um Hero in die Arme zu schließen. Kühnheit am Rande der Hybris – das ließ die Götter zürnen. Die antike Sage zog Generationen von Künstlern in den Bann. 1875 rückte dann der Ärmelkanal ins Visier der Hardcore-Schwimmer. Eine Kraftprobe für Körper und Geist, der sich nun auch Ulrike Draesners Romanheld Charles stellt. Der 62-jährige Biochemiker bangt um seine Ehe und sucht Klarheit durch Verausgabung: Strebt seine Frau Maude ernsthaft eine Ménage-à-trois an, mit Silas, seinem einstigen Freund und Konkurrenten? Alte Liebeswirren kommen hoch. Und Charles taucht ab – in die eisigen Fluten der gefährlichen Schiffsautobahn. Überwacht von einem Begleitboot kämpft er gegen elementare Gewalten, Zivilisationsmüll und physische Grenzen, gegen Sehnsüchte und Lebenslügen. Ulrike Draesner erzählt von existentieller Grenzerfahrung und dem Schmerz der Desillusion. Im steten Abgleich von Meereslaunen und Körperqualen, Erinnerungen und Trugbildern setzt sie ihren Helden einer übermächtigen Drift aus, hinab in sein innerstes Dunkel, hin zu erlösenden Ufern. Ein poetisches Psychogramm, eine großartige Parabel auf die so wechselhafte Lebensreise.
© BÜCHERmagazin, Ingeborg Waldinger (wal)
© BÜCHERmagazin, Ingeborg Waldinger (wal)
»Ein faszinierender Erkenntnistrip, höchst dramatisch, tragikomisch und überraschend.« BÜCHER magazin
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2019Im Meer der Erkenntnis
Ulrike Draesner schickt in "Kanalschwimmer" einen Mann in der Krise auf eine Reise zu sich selbst. Ihr Roman beweist beeindruckend, wie man einem bekannten Stoff eine neue Stimme verleihen kann.
Der literarische Hallraum erklingt mächtig, wenn Männer auf See nicht nur mit dem nackten Überleben ringen, sondern einen existentiellen Kampf ums Dasein an sich führen - man denke nur an Hemingways Santiago oder Melvilles Ahab. Der Protagonist von Ulrike Draesners Roman "Kanalschwimmer", Charles, ein Biochemiker wenige Jahre vor dem Ruhestand, muss seine Kräfte zwar nicht mit Meereswesen messen, er will schwimmend den Ärmelkanal durchqueren, um auf diese Weise der eigenen Lebenskrise zu trotzen, vor allem will er diese Krise und die eigene Rolle darin zuallererst einmal verstehen. Das Meer wird zum Ort der Selbsterkenntnis, Helden werden darin keine geboren.
Draesner, Autorin von Romanen wie "Vorliebe" oder "Sieben Sprünge vom Rand der Welt", Lyrikerin und seit 2018 Professorin am Leipziger Literaturinstitut, nimmt Motive auf, die gewaltig anmuten, variiert und moduliert sie aber auf eine Weise, dass sie sich zu einem feinsinnigen und sorgsam gebauten Roman fügen, dessen sanfter, dabei entschieden poetischer Ton eine unverkennbare Gegenstimme zum Chor der männlichen literarischen Eroberer des maritimen Raumes bildet. Wale, vielmehr Walskelette - das ist eine dieser Motivvariationen Draesners - geben den Anstoß für Charles' Entscheidung, sich der körperlichen Extremsituation der Kanaldurchquerung auszusetzen. Im Oxforder Naturkundemuseum fällt sein Blick auf die Skelette von fünf Meeressäugern, die an der Decke aufgehängt sind, als würden sie durch den Raum schweben - und er erkennt die Verwandtschaft. "Mit ihren langen, scharfen Knochenmäulern schneiden die Wale durch den luftigen Ozean der Zeit und singen mit dem Blut in ihren Lungen davon, was es heißt, nicht der zu sein, der man scheint."
Denn ebendies - das Trügerische - gilt in doppelter Hinsicht auch für Charles' Dasein. Ausgerechnet in jenem Moment, als das Leben sich besonders friedlich und beständig anfühlt, gerät es aus den Fugen. "Wann bricht eine Zukunft zusammen?" Wie ein Refrain kreist diese Frage fortan durch Charles' Kopf. Nach Jahren in Deutschland hat seine Frau Maude, eine Musikerin, ihn überredet, ein Haus in London zu kaufen, ein "Zuhause", wie sie es nennt, nur um ihm kurz darauf zu verkünden, dass sie fortan nicht ausschließlich mit ihm, sondern vor allem mit Silas zusammenleben will. Silas, Charles' Jugendfreund, war vor ihm mit Maude liiert. Neben der Erschütterung über die Aufkündigung einer seit Jahrzehnten währenden Beziehung - "von Anfang an hatten ihre Knochen zusammengestimmt, die Längen ihrer Glieder" - löst Maudes Mitteilung noch etwas anderes in Charles aus: Scham. Denn unter den Kühlschrankmagneten hat sie einen Brief gesteckt, den er ihr vor vierzig Jahren geschrieben hat. Wider besseres Wissen unterstellte er Silas darin, eine Affäre mit Maudes Schwester Abbie zu haben, die wiederum zu jener Zeit Charles' Freundin gewesen und kurz zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Das Perfide daran: Schon längst war Maude ihm als die eigentlich Begehrenswerte erschienen, Abbie als zweite Wahl.
Die Beziehung von Silas und Maude zerbrach nach Charles' Lüge, die Liebe von ihm und Maude begann. Das, was Charles für nicht hinterfragbar hat halten wollen, fußt auf einem Betrug. "Dem Geheimnis des Lebens auf der Spur", so heißt es auf dem Banner, das am Tag der offenen Tür über seinem Institut hängt. Dem Geheimnis des eigenen Lebens nähert Charles sich erst im Moment der persönlichen Katastrophe. Nicht blindlings, sondern akribisch vorbereitet und nach Wochen des Trainings steigt er ins Wasser, begleitet von einem Boot, von dem aus ihn ein Begleiter mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt.
Wann bricht eine Zukunft zusammen? In den Stunden, in denen Charles sich gegen die Wellen des Ärmelkanals stemmt und sich Szene für Szene die Vergangenheit vor ihm auftut - begonnen mit jener sommerlichen ménage à quatre, als er und Silas vor Jahrzehnten auf Sylt die Schwestern kennenlernten -, wandeln sich die Antwortmöglichkeiten auf diese Frage beständig: Einmal ist es der drohende physische Kollaps, einmal Maudes Entscheidung, die Zweisamkeit aufzulösen, einmal der eigene frühe Verrat. Und während sich mit zunehmender Erschöpfung gedankliche Klarheit einstellt, als würde sich eine Schutzschicht ablösen, die ihn bislang am Hinschauen und Verstehen gehindert hat, scheint die gleichermaßen entlastende wie erschreckende Einsicht, dass für die Zukunft als solche gelten könnte, was auch auf dem Wasser Gesetz ist: Nicht Charles, sondern der Mann auf dem Begleitboot entscheidet, wann das Experiment gestoppt wird, indem er ihn aus dem Wasser zieht, weil er ihn für zu schwach zum Weiterschwimmen hält.
Wie Draesner die körperliche Grenzerfahrung des Schwimmers und das damit einhergehende Gleiten in einen anderen Bewusstseinszustand zu beschreiben weiß, ist in der knappen melodischen Genauigkeit ebenso eindringlich, wie es ihre Schilderungen der englischen Küste sind, jener schroffen, gewachsenen Natur, der gegenüber die menschliche Endlichkeit umso eklatanter erscheint - was wiederum nicht bedeutet, dass die Erfahrung von vier Jahrzehnten Ehe angesichts der überzeitlichen Natur oder der urzeitlichen Knochen im Naturkundemuseum relativiert würden.
In ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Essay "Eine Frau wird älter" hat Ulrike Draesner unverstellt und voller Witz über die schmerzhaften Erfahrungen des körperlichen Alterns reflektiert. "Kanalschwimmer" kann man als literarisches Gegenstück dazu lesen. Falsche Erlösung versprechen weder das Sachbuch noch der Roman, dafür aber beglückende Einsichten. Und so ist es nur konsequent, dass der Ausgang der Kanalüberquerung und damit die Frage nach der Zukunft und Charles' Scheitern in der Schwebe bleiben muss.
WIEBKE POROMBKA
Ulrike Draesner: "Kanalschwimmer".
Roman.
Mare Verlag, Hamburg 2019. 176 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulrike Draesner schickt in "Kanalschwimmer" einen Mann in der Krise auf eine Reise zu sich selbst. Ihr Roman beweist beeindruckend, wie man einem bekannten Stoff eine neue Stimme verleihen kann.
Der literarische Hallraum erklingt mächtig, wenn Männer auf See nicht nur mit dem nackten Überleben ringen, sondern einen existentiellen Kampf ums Dasein an sich führen - man denke nur an Hemingways Santiago oder Melvilles Ahab. Der Protagonist von Ulrike Draesners Roman "Kanalschwimmer", Charles, ein Biochemiker wenige Jahre vor dem Ruhestand, muss seine Kräfte zwar nicht mit Meereswesen messen, er will schwimmend den Ärmelkanal durchqueren, um auf diese Weise der eigenen Lebenskrise zu trotzen, vor allem will er diese Krise und die eigene Rolle darin zuallererst einmal verstehen. Das Meer wird zum Ort der Selbsterkenntnis, Helden werden darin keine geboren.
Draesner, Autorin von Romanen wie "Vorliebe" oder "Sieben Sprünge vom Rand der Welt", Lyrikerin und seit 2018 Professorin am Leipziger Literaturinstitut, nimmt Motive auf, die gewaltig anmuten, variiert und moduliert sie aber auf eine Weise, dass sie sich zu einem feinsinnigen und sorgsam gebauten Roman fügen, dessen sanfter, dabei entschieden poetischer Ton eine unverkennbare Gegenstimme zum Chor der männlichen literarischen Eroberer des maritimen Raumes bildet. Wale, vielmehr Walskelette - das ist eine dieser Motivvariationen Draesners - geben den Anstoß für Charles' Entscheidung, sich der körperlichen Extremsituation der Kanaldurchquerung auszusetzen. Im Oxforder Naturkundemuseum fällt sein Blick auf die Skelette von fünf Meeressäugern, die an der Decke aufgehängt sind, als würden sie durch den Raum schweben - und er erkennt die Verwandtschaft. "Mit ihren langen, scharfen Knochenmäulern schneiden die Wale durch den luftigen Ozean der Zeit und singen mit dem Blut in ihren Lungen davon, was es heißt, nicht der zu sein, der man scheint."
Denn ebendies - das Trügerische - gilt in doppelter Hinsicht auch für Charles' Dasein. Ausgerechnet in jenem Moment, als das Leben sich besonders friedlich und beständig anfühlt, gerät es aus den Fugen. "Wann bricht eine Zukunft zusammen?" Wie ein Refrain kreist diese Frage fortan durch Charles' Kopf. Nach Jahren in Deutschland hat seine Frau Maude, eine Musikerin, ihn überredet, ein Haus in London zu kaufen, ein "Zuhause", wie sie es nennt, nur um ihm kurz darauf zu verkünden, dass sie fortan nicht ausschließlich mit ihm, sondern vor allem mit Silas zusammenleben will. Silas, Charles' Jugendfreund, war vor ihm mit Maude liiert. Neben der Erschütterung über die Aufkündigung einer seit Jahrzehnten währenden Beziehung - "von Anfang an hatten ihre Knochen zusammengestimmt, die Längen ihrer Glieder" - löst Maudes Mitteilung noch etwas anderes in Charles aus: Scham. Denn unter den Kühlschrankmagneten hat sie einen Brief gesteckt, den er ihr vor vierzig Jahren geschrieben hat. Wider besseres Wissen unterstellte er Silas darin, eine Affäre mit Maudes Schwester Abbie zu haben, die wiederum zu jener Zeit Charles' Freundin gewesen und kurz zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Das Perfide daran: Schon längst war Maude ihm als die eigentlich Begehrenswerte erschienen, Abbie als zweite Wahl.
Die Beziehung von Silas und Maude zerbrach nach Charles' Lüge, die Liebe von ihm und Maude begann. Das, was Charles für nicht hinterfragbar hat halten wollen, fußt auf einem Betrug. "Dem Geheimnis des Lebens auf der Spur", so heißt es auf dem Banner, das am Tag der offenen Tür über seinem Institut hängt. Dem Geheimnis des eigenen Lebens nähert Charles sich erst im Moment der persönlichen Katastrophe. Nicht blindlings, sondern akribisch vorbereitet und nach Wochen des Trainings steigt er ins Wasser, begleitet von einem Boot, von dem aus ihn ein Begleiter mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt.
Wann bricht eine Zukunft zusammen? In den Stunden, in denen Charles sich gegen die Wellen des Ärmelkanals stemmt und sich Szene für Szene die Vergangenheit vor ihm auftut - begonnen mit jener sommerlichen ménage à quatre, als er und Silas vor Jahrzehnten auf Sylt die Schwestern kennenlernten -, wandeln sich die Antwortmöglichkeiten auf diese Frage beständig: Einmal ist es der drohende physische Kollaps, einmal Maudes Entscheidung, die Zweisamkeit aufzulösen, einmal der eigene frühe Verrat. Und während sich mit zunehmender Erschöpfung gedankliche Klarheit einstellt, als würde sich eine Schutzschicht ablösen, die ihn bislang am Hinschauen und Verstehen gehindert hat, scheint die gleichermaßen entlastende wie erschreckende Einsicht, dass für die Zukunft als solche gelten könnte, was auch auf dem Wasser Gesetz ist: Nicht Charles, sondern der Mann auf dem Begleitboot entscheidet, wann das Experiment gestoppt wird, indem er ihn aus dem Wasser zieht, weil er ihn für zu schwach zum Weiterschwimmen hält.
Wie Draesner die körperliche Grenzerfahrung des Schwimmers und das damit einhergehende Gleiten in einen anderen Bewusstseinszustand zu beschreiben weiß, ist in der knappen melodischen Genauigkeit ebenso eindringlich, wie es ihre Schilderungen der englischen Küste sind, jener schroffen, gewachsenen Natur, der gegenüber die menschliche Endlichkeit umso eklatanter erscheint - was wiederum nicht bedeutet, dass die Erfahrung von vier Jahrzehnten Ehe angesichts der überzeitlichen Natur oder der urzeitlichen Knochen im Naturkundemuseum relativiert würden.
In ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Essay "Eine Frau wird älter" hat Ulrike Draesner unverstellt und voller Witz über die schmerzhaften Erfahrungen des körperlichen Alterns reflektiert. "Kanalschwimmer" kann man als literarisches Gegenstück dazu lesen. Falsche Erlösung versprechen weder das Sachbuch noch der Roman, dafür aber beglückende Einsichten. Und so ist es nur konsequent, dass der Ausgang der Kanalüberquerung und damit die Frage nach der Zukunft und Charles' Scheitern in der Schwebe bleiben muss.
WIEBKE POROMBKA
Ulrike Draesner: "Kanalschwimmer".
Roman.
Mare Verlag, Hamburg 2019. 176 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Wiebke Porombka liest Ulrike Draesners neuen Roman als "literarisches Gegenstück" zu deren im vergangenen Jahr erschienenen Essay "Eine Frau wird älter". Denn hier wie dort verhandelt die Autorin ohne Heilsversprechen, aber mit "beglückenden Einsichten" Krisen, Zukunftsängste und Selbstfindung, erklärt die Kritikerin. Mehr noch: Wenn ihr Draesner von dem Biochemiker Charles erzählt, der kurz vor dem Ruhestand mit einer alten Lebenslüge konfrontiert wird und in Folge beschließt, allein den Ärmelkanal zu durchschwimmen, vernimmt Porombka zwar durchaus das Rauschen von Hemingways "Santiago" oder Melvilles "Ahab" im Hintergrund. Dank Draesners zarter Poesie und ihrer "feinsinnigen" Romankonstruktion bekommt das alte Thema des männlichen Eroberers des Meeres aber einen weiblichen Kontrapunkt, schließt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2019Salzige Suppe
In Ulrike Draesners virtuoser
Extremsport-Novelle „Kanalschwimmer“ geht
ein Mann gewissen Alters ins Wasser
VON CHRISTOPH BARTMANN
Nur zögernd findet der Extremsport Eingang in die Literatur, auch wenn er, mit Iron Man und Seven Summits, allgegenwärtig ist, wenn auch meist nur als Wunschtraum einer gutbürgerlichen Selbstüberwindung „am Limit“ und jenseits davon. Was sich alles so abspielt in einem Dauerläuferhirn, wenn der Organismus auf Stress schaltet, kann man etwa in Günter Herburgers legendärem Protokoll „Lauf und Wahn“ nachlesen. Herburger, selbst Ultraläufer, hatte erlebt, wovon er schrieb. Auch Ulrike Draesners neues Buch „Kanalschwimmer“ erzählt so intensiv und immersiv von einem sportlichen Kraft-und Extremakt, dass man denken könnte, die Autorin sei die, je nachdem, sieben bis 24 zermürbende Stunden von Dover nach Calais selbst geschwommen.
Das ist sie nicht, aber nah dran an Charles’ Erleben ist sie trotzdem. Charles, so heißt der Kanalschwimmer, Biochemiker in Oxford, ist einer der nicht so wenigen Männer, die heutzutage in vorgerücktem Alter ganz plötzlich zur Tat schreiten. Nicht zur Straftat zulasten anderer, sondern eben zu einem extremsportlichen Gewaltakt gegen sich selbst und gegen die Welt, die einen nicht besser vor sich selbst geschützt hat. Charles, einem Mittelständler der Wissenschaft und des Lebens, ist auf einmal die Ehefrau abhandengekommen. Maude, Klavierlehrerin in London, hat ihn abrupt verlassen, für Silas, seinen besten Freund.
Eine komplexe Vorgeschichte von zwei englischen Schwestern und ihren zwei Ehemännern oder Liebhabern ist dabei, während Charles das trübe Gewässer quert, und schwimmend soll diese Vergangenheit von Charles irgendwie bewältigt werden. Warum sollte er sich den Wahnsinn sonst antun, wenn nicht, um am englischen Ufer heiler anzukommen, als er es einen Tag zuvor verlassen hat?
Ulrike Draesner hat sich viel vorgenommen für diesen schmalen Roman, den man eher eine Novelle nennen möchte. Erstens die minutiöse Vergegenwärtigung der Kanalüberquerung, im Blick auf die Zumutungen für den Schwimmer, aber auch mit genauer Beobachtung von Wolken, Wind und Wellen. Und zweitens die Anamnese, aus der hervorgeht, was Charles zu diesem auto-aggressiven Schritt veranlasst hat.
Die beiden Fragen, die den Leser in Atem halten werden, heißen: Schafft es Charles, mitsamt dem vorgeschriebenen Beiboot Henry, tatsächlich bis nach Frankreich? Und welchen Aufschluss wird uns die Vorgeschichte über die Ursachen seines Unglücks liefern? Ulrike Draesner schafft es spielend, unser Interesse an diesen Fragen wach zu halten, während sich der bedauernswerte Charles durch die dreckige Salzbrühe arbeitet.
An erzählerischen Mitteln, um dieses maritime Seelendrama in Szene zu setzen, fehlt es Draesner weiß Gott nicht. „Kanalschwimmer“ ist ein Virtuosenstück. Schon der erste Satz zeigt, was ihr an Kunstfertigkeit zur Verfügung steht: „Mit mildem Gelb durchsetztes frisches Blattlicht fiel von der Böschung vor dem Küchenfenster auf Boden und Tisch.“ Das ist ein brillanter ästhetischer Effekt, gegen den unsere eigene Wahrnehmungskapazität leider ein wenig abfällt: Wie sieht ein frisches Blattlicht aus, das mit mildem Gelb durchsetzt ist? Und wieso überhaupt eine Böschung vor dem Küchenfenster? Nun, die Autorin gibt die Erklärung wenige Sätze später selbst. Die Küche „befand sich im Souterrain wie üblich bei viktorianischen Küchen.“ Ulrike Draesner weiß viel, kann viel, und sie stellt manchmal auch ihre Brillanz ein wenig aus. An anderen Stellen ist sie dann einfach brillant – vor allem, wenn sie die delirierende Psyche des Kanalschwimmers sozusagen hackt und extremen Zuständen zur Sprache verhilft.
Irgendwann auf See, heißt es einmal, „schmolz die Zeit ihm bislang verborgene Wellenflanken, Gehirnflanken, Erinnerungsflanken hinab. Etwas in seinem Kopf wurde noch immer nur fügsamer, weicher“. Hier und anderswo erforscht und erweitert Draesner die Grenzen einer poetischen Sprache für körperliche und seelische Grenzerfahrungen. Auch wenn die erzählte Geschichte durchaus Freude am Konventionellen entwickelt (das gutbürgerliche Ehedrama, die Helden- und Verzweiflungstat des Gatten und so fort), ist Draesners literarisches Vorgehen experimentell. Unablässig sucht sie nach neuen Bildern, neuen Wörtern, die der Realität der Kanalschwimmererfahrung nahekommen könnten.
Diese Abenteuerlust im Sprachlichen hebt Draesners Buch über den Verdacht hinweg, es gehe hier doch letztlich nur um Selbstfindungsprobleme von Männern eines gewissen Alters. Am Ende steigert sich ihr Text in einen fast ekstatischen Hymnus auf die elementaren Gewalten. „Die flüssige Kraft des Wassers strahlte“, heißt es da etwa, „dabei war das Kanalmeer selbst nicht diese Kraft, sondern enthielt ihre aus der Tiefe entlassene Unberechenbarkeit als Strömung nach eigenem Willen.“ Dem schon früh entkräfteten Charles werden diese Worte bestimmt nicht durch den Kopf geschossen sein. Aber zum Glück steht ihm eine Dichterin zur Seite. Ob Charles wohl das andere Ufer erreicht haben wird? Ulrike Draesner wäre nicht die Virtuosin, die sie ist, wenn sie auf diese Frage nur eine Antwort gäbe.
Schafft es Charles, mitsamt dem
Beiboot „Henry“, tatsächlich
bis nach Frankreich?
Ulrike Draesner ist Lyrikerin, Romanautorin und Professorin für Deutsche Literatur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie lebt in Berlin.
Foto: imago images/gezett
Ulrike Draesner erzählt so intensiv von einem sportlichen Kraftakt, dass man denken könnte, die Autorin sei die Strecke von Dover nach Calais selbst geschwommen.
Foto: Jon Washer/AFP
Ulrike Draesner: Kanalschwimmer. Roman. Mare Verlag, Hamburg 2019,
174 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In Ulrike Draesners virtuoser
Extremsport-Novelle „Kanalschwimmer“ geht
ein Mann gewissen Alters ins Wasser
VON CHRISTOPH BARTMANN
Nur zögernd findet der Extremsport Eingang in die Literatur, auch wenn er, mit Iron Man und Seven Summits, allgegenwärtig ist, wenn auch meist nur als Wunschtraum einer gutbürgerlichen Selbstüberwindung „am Limit“ und jenseits davon. Was sich alles so abspielt in einem Dauerläuferhirn, wenn der Organismus auf Stress schaltet, kann man etwa in Günter Herburgers legendärem Protokoll „Lauf und Wahn“ nachlesen. Herburger, selbst Ultraläufer, hatte erlebt, wovon er schrieb. Auch Ulrike Draesners neues Buch „Kanalschwimmer“ erzählt so intensiv und immersiv von einem sportlichen Kraft-und Extremakt, dass man denken könnte, die Autorin sei die, je nachdem, sieben bis 24 zermürbende Stunden von Dover nach Calais selbst geschwommen.
Das ist sie nicht, aber nah dran an Charles’ Erleben ist sie trotzdem. Charles, so heißt der Kanalschwimmer, Biochemiker in Oxford, ist einer der nicht so wenigen Männer, die heutzutage in vorgerücktem Alter ganz plötzlich zur Tat schreiten. Nicht zur Straftat zulasten anderer, sondern eben zu einem extremsportlichen Gewaltakt gegen sich selbst und gegen die Welt, die einen nicht besser vor sich selbst geschützt hat. Charles, einem Mittelständler der Wissenschaft und des Lebens, ist auf einmal die Ehefrau abhandengekommen. Maude, Klavierlehrerin in London, hat ihn abrupt verlassen, für Silas, seinen besten Freund.
Eine komplexe Vorgeschichte von zwei englischen Schwestern und ihren zwei Ehemännern oder Liebhabern ist dabei, während Charles das trübe Gewässer quert, und schwimmend soll diese Vergangenheit von Charles irgendwie bewältigt werden. Warum sollte er sich den Wahnsinn sonst antun, wenn nicht, um am englischen Ufer heiler anzukommen, als er es einen Tag zuvor verlassen hat?
Ulrike Draesner hat sich viel vorgenommen für diesen schmalen Roman, den man eher eine Novelle nennen möchte. Erstens die minutiöse Vergegenwärtigung der Kanalüberquerung, im Blick auf die Zumutungen für den Schwimmer, aber auch mit genauer Beobachtung von Wolken, Wind und Wellen. Und zweitens die Anamnese, aus der hervorgeht, was Charles zu diesem auto-aggressiven Schritt veranlasst hat.
Die beiden Fragen, die den Leser in Atem halten werden, heißen: Schafft es Charles, mitsamt dem vorgeschriebenen Beiboot Henry, tatsächlich bis nach Frankreich? Und welchen Aufschluss wird uns die Vorgeschichte über die Ursachen seines Unglücks liefern? Ulrike Draesner schafft es spielend, unser Interesse an diesen Fragen wach zu halten, während sich der bedauernswerte Charles durch die dreckige Salzbrühe arbeitet.
An erzählerischen Mitteln, um dieses maritime Seelendrama in Szene zu setzen, fehlt es Draesner weiß Gott nicht. „Kanalschwimmer“ ist ein Virtuosenstück. Schon der erste Satz zeigt, was ihr an Kunstfertigkeit zur Verfügung steht: „Mit mildem Gelb durchsetztes frisches Blattlicht fiel von der Böschung vor dem Küchenfenster auf Boden und Tisch.“ Das ist ein brillanter ästhetischer Effekt, gegen den unsere eigene Wahrnehmungskapazität leider ein wenig abfällt: Wie sieht ein frisches Blattlicht aus, das mit mildem Gelb durchsetzt ist? Und wieso überhaupt eine Böschung vor dem Küchenfenster? Nun, die Autorin gibt die Erklärung wenige Sätze später selbst. Die Küche „befand sich im Souterrain wie üblich bei viktorianischen Küchen.“ Ulrike Draesner weiß viel, kann viel, und sie stellt manchmal auch ihre Brillanz ein wenig aus. An anderen Stellen ist sie dann einfach brillant – vor allem, wenn sie die delirierende Psyche des Kanalschwimmers sozusagen hackt und extremen Zuständen zur Sprache verhilft.
Irgendwann auf See, heißt es einmal, „schmolz die Zeit ihm bislang verborgene Wellenflanken, Gehirnflanken, Erinnerungsflanken hinab. Etwas in seinem Kopf wurde noch immer nur fügsamer, weicher“. Hier und anderswo erforscht und erweitert Draesner die Grenzen einer poetischen Sprache für körperliche und seelische Grenzerfahrungen. Auch wenn die erzählte Geschichte durchaus Freude am Konventionellen entwickelt (das gutbürgerliche Ehedrama, die Helden- und Verzweiflungstat des Gatten und so fort), ist Draesners literarisches Vorgehen experimentell. Unablässig sucht sie nach neuen Bildern, neuen Wörtern, die der Realität der Kanalschwimmererfahrung nahekommen könnten.
Diese Abenteuerlust im Sprachlichen hebt Draesners Buch über den Verdacht hinweg, es gehe hier doch letztlich nur um Selbstfindungsprobleme von Männern eines gewissen Alters. Am Ende steigert sich ihr Text in einen fast ekstatischen Hymnus auf die elementaren Gewalten. „Die flüssige Kraft des Wassers strahlte“, heißt es da etwa, „dabei war das Kanalmeer selbst nicht diese Kraft, sondern enthielt ihre aus der Tiefe entlassene Unberechenbarkeit als Strömung nach eigenem Willen.“ Dem schon früh entkräfteten Charles werden diese Worte bestimmt nicht durch den Kopf geschossen sein. Aber zum Glück steht ihm eine Dichterin zur Seite. Ob Charles wohl das andere Ufer erreicht haben wird? Ulrike Draesner wäre nicht die Virtuosin, die sie ist, wenn sie auf diese Frage nur eine Antwort gäbe.
Schafft es Charles, mitsamt dem
Beiboot „Henry“, tatsächlich
bis nach Frankreich?
Ulrike Draesner ist Lyrikerin, Romanautorin und Professorin für Deutsche Literatur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie lebt in Berlin.
Foto: imago images/gezett
Ulrike Draesner erzählt so intensiv von einem sportlichen Kraftakt, dass man denken könnte, die Autorin sei die Strecke von Dover nach Calais selbst geschwommen.
Foto: Jon Washer/AFP
Ulrike Draesner: Kanalschwimmer. Roman. Mare Verlag, Hamburg 2019,
174 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de