Dilek und Tekin sind ein junges Paar in Istanbul. Nicht erst seit dem Juli 2016 hat sich auch für sie die Stadt verändert. Als Dilek Jahre später in ein Flugzeug steigt, weiß ihr Freund nichts davon, niemand soll wissen, dass sie, die online »Kangal« heißt, bald in Frankfurt landet. Ayla ist überrascht, als ihre Cousine Dilek sich bei ihr meldet, die gemeinsamen Sommer sind lange her. Und während sich Tekin in Istanbul auf die Suche macht, fragt sich Ayla: Wer ist Dilek heute? Sie will ihr glauben, aber ist das, was Dilek fürchtet, auch wahr?
Anna Yeliz Schentke erzählt furchtlos und aufrichtig von der Freundschaft in instabilen Zeiten. »Kangal« ist ein atemloser Roman über aktuelle Unterdrückung und über eine Generation, die auf der Suche ist: nach einer gemeinsamen Sprache, nach Sicherheit und Zugehörigkeit.
Longlist des Deutschen Buchpreises 2022
Anna Yeliz Schentke erzählt furchtlos und aufrichtig von der Freundschaft in instabilen Zeiten. »Kangal« ist ein atemloser Roman über aktuelle Unterdrückung und über eine Generation, die auf der Suche ist: nach einer gemeinsamen Sprache, nach Sicherheit und Zugehörigkeit.
Longlist des Deutschen Buchpreises 2022
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.2022Kein Terror im Paradies
Politische Namen fallen nicht in diesem Roman, aber das ist auch gar nicht nötig: Anna Yeliz Schentke bietet mit ihrem Debüt "Kangal" ein Panorama engagierter Lebenswege in der Türkei.
Als standhaft und mutig wird der Kangal beschrieben, als sehr intelligent, als selbstsicher. Dieser anatolische Hütehund kann Herden und Besitztümer notfalls allein vor Angreifern und Eindringlingen verteidigen, er nimmt es dabei selbst mit Bären und Wölfen auf. Die Schriftstellerin Anna Yeliz Schentke hat ihren Debütroman nach diesem wohl stärksten aller Hunde benannt, ihre Heldin Dilek, die das Buch auf der Flucht aus der Türkei und in ihrer Anfangszeit in Frankfurt begleitet, bevor sie ein weiteres Mal verschwindet, hat sich im Netz den Namen Kangal1210 gegeben.
"Ich bin in Deutschland, weil ich sonst im Gefängnis säße", sagt Dilek, als sie endlich den Mut hat, sich ihrer schon lange in Deutschland lebenden Cousine wenigstens in groben Zügen anzuvertrauen. Die Rückfrage bestätigt Dileks Sorge, Ayla sei zumindest ahnungslos, wenn nicht gar gefährlich: "Was hast du gemacht?" In Istanbul gehörte Dilek zur Redaktion der Universitätszeitung, die in den Jahren vor dem Putschversuch von 2016 sechs der dreißig Professoren interviewt hatte, die später verhaftet worden waren. Im Netz veröffentlicht sie Botschaften, die viral gehen und der Polizei aufgefallen sind.
Es gebe Material über Dilek, aber keine Akte, erfährt ihr Freund Tekin von Sinem, einer Anwältin, die seit Kindheitstagen mit Dileks verstorbener Mutter befreundet war. Tekin ist in Istanbul geblieben. Was ihm bleibt, ist nicht viel: Baran zu fragen, was der weiß und was er der Polizei gesagt hat. Mit Sinem zu sprechen. Auf den hellen Fleck über dem Küchentisch zu starren, über dem das Foto hing, das Dilek mitgenommen hat auf ihre Flucht - und immer wieder auf den Bildschirm seines Handys: "The number you've called is temporarily not available. Lütfen daha sonra tekrar deneyin."
Aus drei Perspektiven erzählt die 1990 in Frankfurt geborene Autorin die Geschichte von Dileks Flucht. Und noch mehr: Mit den Schilderungen von Dilek, Tekin und Ayla, die meist mit einer neuen Episode ansetzen, mitunter aber auch direkt weitererzählen, wo die andere Figur aufgehört hat, entwickelt sie ein Spektrum unterschiedlicher Sichtweisen auf ein zum Zerreißen gespanntes Land, auf türkisches Leben in Istanbul und in Deutschland zwischen liberalen Werten und Tradition, zwischen Aufbegehren und Arrangement mit den Erwartungen. Das Kunststück, das Anna Yeliz Schentke im ebenso unaufgeregten wie eindringlichen Ton ihrer Erzähler gelingt: Sowenig ihre Figuren einander auch verstehen - wer liest, was sie zu sagen haben, kann sie alle verstehen, ihren Widersprüchen zum Trotz.
Als Hilal einmal vorbeikommt, sagt Tekin ihr, Dilek sei wohl "durchgedreht und nach Deutschland geflogen". Vermutlich habe Sina etwas in ihr ausgelöst, als sie von Barans neuerlicher Verhaftung erzählt hatte. Da wird Hilal ärgerlich: "Tekin, mach nicht diesen Fehler", sagt sie ihm, "das ist genau das, was sie wollen. Dass wir uns gegenseitig verantwortlich machen. Dafür, dass wir eingesperrt werden, dass Leute verschwinden. Wenn Dilek geht, dann hat sie einen Grund dafür." Hilal studiert Kunst in Istanbul und lebt mit Soraya zusammen - nach außen soll es wirken wie eine WG, tatsächlich sind die beiden jungen Frauen ein Paar. Als ein Mann in einer Bar Verdacht schöpft, wird Hilal verprügelt, sie verliert ein Auge. Später landet Soraya im Gefängnis. "Wir haben auf Ihrem Handy insgesamt sechs Kontakte gefunden, die nachweislich terroristisch aktiv sind", wird ihr beim Verhör vorgehalten. Sie solle Namen nennen.
Mehr als zweitausend Kilometer entfernt ärgert sich Melek über Leute, die so tun, "als ob man drüben direkt eingeknastet wird, wenn man mal was sagt". Sie war es, die Ayla abgeholt und in ihrer WG aufgenommen hat, als Aylas Verlobter sie geschlagen und sie beschlossen hatte, nicht länger in der gemeinsamen Wohnung bleiben zu können. Aber Melek sagt auch: "Die Leute hier, die sich Türken nennen, die sind konservativer als der Staat persönlich." Das könnte auf Aylas Vater gemünzt sein, der seiner Tochter über die Proteste in der Türkei nur sagte, das habe nichts mit ihr, nichts mit ihnen zu tun. Die Menschen dort hätten alle die Nähe zu Allah vergessen.
Denn Schentkes Panorama ist nicht auf die junge Generation beschränkt: An den beiden Schwestern Elif und Ezgi, den Müttern von Dilek und Ayla, schildert sie Lebenswege, die von Zufällen in unüberbrückbare Differenzen, in den Kontaktabbruch geführt worden sind. Für beide hatte ihr Vater damals vorgesehen, zur Ausbildung nach Deutschland zu gehen, damit die jungen Frauen nach ihrer Rückkehr in die Türkei bessere Aussichten hätten. Elif hatte sich widersetzt, und auch Ezgi hatte vorgehabt, später in der Türkei zu studieren, aber sie hat sich in Deutschland verliebt, wurde schwanger und fand sich mit einem Leben ab, das sie selbst in eine konventionelle Rolle und ihren Mann ins väterliche Geschäft brachte.
Dass ihre Tante gestorben ist, erfährt Ayla erst von Dilek. Ezgi nennt als Grund für den Kontaktabbruch, Elif habe sich damals nicht mit ihrem, Ezgis Ehemann abfinden können. Dabei ging es der Verstorbenen, das weiß Dilek, um viel mehr, "um alles, wofür sie schon immer gekämpft hat: Unabhängigkeit, Freiheit". Nach der Freude über das Wiedersehen mit ihrer Cousine, nach dem Angebot, Ayla könne statt bei Melek auf der Couch auch bei ihr im ungenutzten Zimmer der frisch gemieteten Wohnung einziehen, sind es die Reisepläne der Familie in die Türkei, die sie zum Vorwurf verleiten, im Urlaubsparadies den staatlichen Terror auszublenden: "Du und deine Familie, ihr habt keinen Grund, in die Türkei zu fahren. Und wenn ihr das trotzdem macht, dann seid ihr nicht besser als die, wegen denen ich hier sein muss."
Misstrauen und Empfindlichkeit auf allen Seiten: Ayla offenbart ihrer Mutter, dass sie heimlich studiert, und hält ihren Eltern vor, sie hätten ihr zwar beigebracht, sich Türkin zu nennen, "aber was das bedeuten soll, das soll ich selbst herausfinden". Sinan wünscht sich, ihr Baran hätte den Freundeskreis in Istanbul nie kennengelernt. Baran bittet Tekin beim letzten Treffen, in Ruhe gelassen zu werden. In zwei Monaten sei sein Prozess, und er würde all das nur ihretwegen auf sich nehmen. Tekin berappelt sich nach der ersten Wut, von Dilek in Istanbul sitzengelassen zu werden, und sieht in Elifs Tod einen Grund für Dileks Unabhängigkeit - an den eigenen Vater hat sie kaum Erinnerungen. Tekins Eltern hingegen sind alt, er kann sie nicht alleinlassen. Und er will auch nicht in einem fremden Land sitzen und in den Nachrichten verfolgen, dass sich in seiner Heimat etwas zum Guten ändert.
Dilek hingegen nimmt ihre Angst aus Istanbul mit nach Frankfurt: Wer von ihren Kontakten in Deutschland nutzt die türkische Denunziations-App? Ist Halim, neben ihr der zweite Türke im Sprachkurs, womöglich Polizist, in Frankfurt zur Fortbildung "Erkennung terroristischer Aktivitäten im Ausland"? In der Heimat könnten sie die Wohnung stürmen und einfach mitnehmen, wen sie finden, ohne dass man die Polizei rufen könne. "Sie sind die Polizei. Wer sind sie hier?"
In Anna Yeliz Schentkes Roman fallen keine politischen Namen, Ismi Lazim Degil ("der, der keinen Namen braucht") steht für den Präsidenten. Das ist auch nicht nötig. Nach den Parlamentswahlen von 2018 ist Erdogans AKP ein Bündnis mit der MHP eingegangen. Deren Gründer Alparslan Türkes hatte 1969 die rechtsextremen "Grauen Wölfe" gegründet, die für Morde und Anschläge in vielen Ländern verantwortlich gemacht werden. Sie sind auch in Deutschland aktiv. Dass sich eine junge Frau, die für ihren Onlinewiderstand den Namen eines Hundes gewählt hat, der es mit Wölfen aufnimmt, womöglich auch ihrer erwehren muss, ist nicht aus der Welt. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Anna Yeliz Schentke: "Kangal". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022.
208 S., geb., 21,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Politische Namen fallen nicht in diesem Roman, aber das ist auch gar nicht nötig: Anna Yeliz Schentke bietet mit ihrem Debüt "Kangal" ein Panorama engagierter Lebenswege in der Türkei.
Als standhaft und mutig wird der Kangal beschrieben, als sehr intelligent, als selbstsicher. Dieser anatolische Hütehund kann Herden und Besitztümer notfalls allein vor Angreifern und Eindringlingen verteidigen, er nimmt es dabei selbst mit Bären und Wölfen auf. Die Schriftstellerin Anna Yeliz Schentke hat ihren Debütroman nach diesem wohl stärksten aller Hunde benannt, ihre Heldin Dilek, die das Buch auf der Flucht aus der Türkei und in ihrer Anfangszeit in Frankfurt begleitet, bevor sie ein weiteres Mal verschwindet, hat sich im Netz den Namen Kangal1210 gegeben.
"Ich bin in Deutschland, weil ich sonst im Gefängnis säße", sagt Dilek, als sie endlich den Mut hat, sich ihrer schon lange in Deutschland lebenden Cousine wenigstens in groben Zügen anzuvertrauen. Die Rückfrage bestätigt Dileks Sorge, Ayla sei zumindest ahnungslos, wenn nicht gar gefährlich: "Was hast du gemacht?" In Istanbul gehörte Dilek zur Redaktion der Universitätszeitung, die in den Jahren vor dem Putschversuch von 2016 sechs der dreißig Professoren interviewt hatte, die später verhaftet worden waren. Im Netz veröffentlicht sie Botschaften, die viral gehen und der Polizei aufgefallen sind.
Es gebe Material über Dilek, aber keine Akte, erfährt ihr Freund Tekin von Sinem, einer Anwältin, die seit Kindheitstagen mit Dileks verstorbener Mutter befreundet war. Tekin ist in Istanbul geblieben. Was ihm bleibt, ist nicht viel: Baran zu fragen, was der weiß und was er der Polizei gesagt hat. Mit Sinem zu sprechen. Auf den hellen Fleck über dem Küchentisch zu starren, über dem das Foto hing, das Dilek mitgenommen hat auf ihre Flucht - und immer wieder auf den Bildschirm seines Handys: "The number you've called is temporarily not available. Lütfen daha sonra tekrar deneyin."
Aus drei Perspektiven erzählt die 1990 in Frankfurt geborene Autorin die Geschichte von Dileks Flucht. Und noch mehr: Mit den Schilderungen von Dilek, Tekin und Ayla, die meist mit einer neuen Episode ansetzen, mitunter aber auch direkt weitererzählen, wo die andere Figur aufgehört hat, entwickelt sie ein Spektrum unterschiedlicher Sichtweisen auf ein zum Zerreißen gespanntes Land, auf türkisches Leben in Istanbul und in Deutschland zwischen liberalen Werten und Tradition, zwischen Aufbegehren und Arrangement mit den Erwartungen. Das Kunststück, das Anna Yeliz Schentke im ebenso unaufgeregten wie eindringlichen Ton ihrer Erzähler gelingt: Sowenig ihre Figuren einander auch verstehen - wer liest, was sie zu sagen haben, kann sie alle verstehen, ihren Widersprüchen zum Trotz.
Als Hilal einmal vorbeikommt, sagt Tekin ihr, Dilek sei wohl "durchgedreht und nach Deutschland geflogen". Vermutlich habe Sina etwas in ihr ausgelöst, als sie von Barans neuerlicher Verhaftung erzählt hatte. Da wird Hilal ärgerlich: "Tekin, mach nicht diesen Fehler", sagt sie ihm, "das ist genau das, was sie wollen. Dass wir uns gegenseitig verantwortlich machen. Dafür, dass wir eingesperrt werden, dass Leute verschwinden. Wenn Dilek geht, dann hat sie einen Grund dafür." Hilal studiert Kunst in Istanbul und lebt mit Soraya zusammen - nach außen soll es wirken wie eine WG, tatsächlich sind die beiden jungen Frauen ein Paar. Als ein Mann in einer Bar Verdacht schöpft, wird Hilal verprügelt, sie verliert ein Auge. Später landet Soraya im Gefängnis. "Wir haben auf Ihrem Handy insgesamt sechs Kontakte gefunden, die nachweislich terroristisch aktiv sind", wird ihr beim Verhör vorgehalten. Sie solle Namen nennen.
Mehr als zweitausend Kilometer entfernt ärgert sich Melek über Leute, die so tun, "als ob man drüben direkt eingeknastet wird, wenn man mal was sagt". Sie war es, die Ayla abgeholt und in ihrer WG aufgenommen hat, als Aylas Verlobter sie geschlagen und sie beschlossen hatte, nicht länger in der gemeinsamen Wohnung bleiben zu können. Aber Melek sagt auch: "Die Leute hier, die sich Türken nennen, die sind konservativer als der Staat persönlich." Das könnte auf Aylas Vater gemünzt sein, der seiner Tochter über die Proteste in der Türkei nur sagte, das habe nichts mit ihr, nichts mit ihnen zu tun. Die Menschen dort hätten alle die Nähe zu Allah vergessen.
Denn Schentkes Panorama ist nicht auf die junge Generation beschränkt: An den beiden Schwestern Elif und Ezgi, den Müttern von Dilek und Ayla, schildert sie Lebenswege, die von Zufällen in unüberbrückbare Differenzen, in den Kontaktabbruch geführt worden sind. Für beide hatte ihr Vater damals vorgesehen, zur Ausbildung nach Deutschland zu gehen, damit die jungen Frauen nach ihrer Rückkehr in die Türkei bessere Aussichten hätten. Elif hatte sich widersetzt, und auch Ezgi hatte vorgehabt, später in der Türkei zu studieren, aber sie hat sich in Deutschland verliebt, wurde schwanger und fand sich mit einem Leben ab, das sie selbst in eine konventionelle Rolle und ihren Mann ins väterliche Geschäft brachte.
Dass ihre Tante gestorben ist, erfährt Ayla erst von Dilek. Ezgi nennt als Grund für den Kontaktabbruch, Elif habe sich damals nicht mit ihrem, Ezgis Ehemann abfinden können. Dabei ging es der Verstorbenen, das weiß Dilek, um viel mehr, "um alles, wofür sie schon immer gekämpft hat: Unabhängigkeit, Freiheit". Nach der Freude über das Wiedersehen mit ihrer Cousine, nach dem Angebot, Ayla könne statt bei Melek auf der Couch auch bei ihr im ungenutzten Zimmer der frisch gemieteten Wohnung einziehen, sind es die Reisepläne der Familie in die Türkei, die sie zum Vorwurf verleiten, im Urlaubsparadies den staatlichen Terror auszublenden: "Du und deine Familie, ihr habt keinen Grund, in die Türkei zu fahren. Und wenn ihr das trotzdem macht, dann seid ihr nicht besser als die, wegen denen ich hier sein muss."
Misstrauen und Empfindlichkeit auf allen Seiten: Ayla offenbart ihrer Mutter, dass sie heimlich studiert, und hält ihren Eltern vor, sie hätten ihr zwar beigebracht, sich Türkin zu nennen, "aber was das bedeuten soll, das soll ich selbst herausfinden". Sinan wünscht sich, ihr Baran hätte den Freundeskreis in Istanbul nie kennengelernt. Baran bittet Tekin beim letzten Treffen, in Ruhe gelassen zu werden. In zwei Monaten sei sein Prozess, und er würde all das nur ihretwegen auf sich nehmen. Tekin berappelt sich nach der ersten Wut, von Dilek in Istanbul sitzengelassen zu werden, und sieht in Elifs Tod einen Grund für Dileks Unabhängigkeit - an den eigenen Vater hat sie kaum Erinnerungen. Tekins Eltern hingegen sind alt, er kann sie nicht alleinlassen. Und er will auch nicht in einem fremden Land sitzen und in den Nachrichten verfolgen, dass sich in seiner Heimat etwas zum Guten ändert.
Dilek hingegen nimmt ihre Angst aus Istanbul mit nach Frankfurt: Wer von ihren Kontakten in Deutschland nutzt die türkische Denunziations-App? Ist Halim, neben ihr der zweite Türke im Sprachkurs, womöglich Polizist, in Frankfurt zur Fortbildung "Erkennung terroristischer Aktivitäten im Ausland"? In der Heimat könnten sie die Wohnung stürmen und einfach mitnehmen, wen sie finden, ohne dass man die Polizei rufen könne. "Sie sind die Polizei. Wer sind sie hier?"
In Anna Yeliz Schentkes Roman fallen keine politischen Namen, Ismi Lazim Degil ("der, der keinen Namen braucht") steht für den Präsidenten. Das ist auch nicht nötig. Nach den Parlamentswahlen von 2018 ist Erdogans AKP ein Bündnis mit der MHP eingegangen. Deren Gründer Alparslan Türkes hatte 1969 die rechtsextremen "Grauen Wölfe" gegründet, die für Morde und Anschläge in vielen Ländern verantwortlich gemacht werden. Sie sind auch in Deutschland aktiv. Dass sich eine junge Frau, die für ihren Onlinewiderstand den Namen eines Hundes gewählt hat, der es mit Wölfen aufnimmt, womöglich auch ihrer erwehren muss, ist nicht aus der Welt. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Anna Yeliz Schentke: "Kangal". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022.
208 S., geb., 21,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Judith von Sternburg findet in Anna Yeliz Schentkes "Kangal" viele Gründe, sich für sich selbst zu schämen, wenn sie Klischees und Stereotypen begegnet, die sie offenbar teilt. Worum gehts? Hauptprotagonisten in diesem Romandebüt sind Dilek, die im Internet für ihre politischen Erdogan-kritischen Aktivitäten den Decknamen "Kangal1210" benutzt und nach einer Reihe zerschlagener Demos Istanbul fluchtartig in Richtung Deutschland verlässt, wo sie auf besonders Erdogan-treue Anhänger stößt. Dann ist da ihr Freund Tekin, den sie nicht in ihren Fluchtplan eingeweiht hat, und ihre in Frankfurt lebende Cousine Ayla, die zum Missfallen ihrer Eltern ihren Ehemann verlassen hat, weil er sie geschlagen hat. Was sie in ihren Augen für die Deutschen zu einem Klischee macht. Das alles ist kunstvoll miteinander verwoben und Schentke hebt auch nie den Zeigefinger, versichert die betroffene Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Auf herausragende Weise gelingt es Schentke, die politische Gegenwart anhand dreier individueller und miteinander verflochtener Beziehungen zu fassen, ohne das Private gegen das Politische auszuspielen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230719