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Inzwischen vertreten Ethnologen und Archäologen vielfach die Ansicht, Reden von und über rituellen Kannibalismus seien grundsätzlich Fantasien, realen rituellen Kannibalismus habe es nie gegeben. Diese Skepsis gegenüber den schriftlichen Nachrichten ist berechtigt, bedenkt man, daß die meisten Autoren bekennen, sie hätten die geschilderten Vorkommnisse nicht selbst erlebt, sondern nur davon gehört. Für die Interpretation der Schriftzeugnisse heißt das, daß wir darin zwar etwas über das schreibende Subjekt erfahren, aber nichts oder nur vermittelt etwas über das beschriebene Objekt. Hier liegt…mehr

Produktbeschreibung
Inzwischen vertreten Ethnologen und Archäologen vielfach die Ansicht, Reden von und über rituellen Kannibalismus seien grundsätzlich Fantasien, realen rituellen Kannibalismus habe es nie gegeben. Diese Skepsis gegenüber den schriftlichen Nachrichten ist berechtigt, bedenkt man, daß die meisten Autoren bekennen, sie hätten die geschilderten Vorkommnisse nicht selbst erlebt, sondern nur davon gehört. Für die Interpretation der Schriftzeugnisse heißt das, daß wir darin zwar etwas über das schreibende Subjekt erfahren, aber nichts oder nur vermittelt etwas über das beschriebene Objekt. Hier liegt ein methodisches und erkenntnistheoretisches Problem. Wenn sich der rituelle Kannibalismus der ethnographischen Berichte und der archäologischen Befunde zusehends in kannibalische Fantasien frühneuzeitlicher Reisender und moderner Wissenschaftler auflöst, dann stellt sich die Frage: Was ist der eigentliche Sinn der kannibalischen Rede?
Der kannibalische Diskurs bewegt sich nicht um das Menschenessen allein, sondern um alle Sphären des Essens und der Nahrungsaufnahme. Die Rede über Kannibalismus impliziert auch das Sprechen über Körper- und Seelenvorstellungen, über Leib- und Geistfeindlichkeit, über die soziale Relevanz der Sinnesorgane und ihre Hierarchie, über das Verhältnis zwischen Lebenden und Toten, über die Vorfahren, die Ahnen, die Gruppenidentität und nicht zuletzt auch über Generationen- und Geschlechterkonflikte.
Der Kannibalismus, so hat sich herausgestellt, ist eine Metapher, die die Möglichkeit bietet, zu verdrängen, zu verstecken und zu verstellen, er ist eine Figur, in der das Verdrängte latent präsent bleibt. Um zu verstehen, was die Texte und Bilder über Kannibalismus eigentlich bedeuten, bedarf es daher diskursiver Analyse und psychoanalytischer Theorie. Unter welchen Bedingungen und in welcher Gestalt kannibalische Vorstellungen, die immer latent vorhanden sind, besonders stark hervortreten, kann aber nur die psychohistorische Analyse klären.

Inhalt:
Hedwig Röckelein: Einleitung - Kannibalismus und europäische Kultur - Hedwig Röckelein: Hexenessen im Frühmittelalter - Lorenz Wilkens: Opfer und Opferabschaffung im christlichen Kult - Charles Zika: Kannibalismus und Hexerei. Die Rolle der Bilder im frühneuzeitlichen Europa - Annerose Menninger: Die Kannibalen Amerikas und die Phantasien der Eroberer. Zum Problem der Wirklichkeitswahrnehmung außereuropäischer Kulturen durch europäische Reisende in der frühen Neuzeit - Daniel Fulda: "Wann wir die Menschenfresser nicht in Africa oder sonsten / sondern vor unser Hausthür suchen müssen". Hungeranthropophagie im Dreißigjährigen Krieg und der europäische Kannibalismusdiskurs - Karl Kaser: Ahnen und Kannibalen. Zum Problem von Formen und Symbolik verblassender kannibalischer Praktiken auf dem Balkan - Alf Gerlach: Kannibalische Liebe, kannibalischer Haß. Psychoanalytische Überlegungen zu kannibalischen Phantasien und Ritualen - Thomas Kleinspehn: Fressen und Gefressenwerden. Psychohistorische Überlegungen zum Kannibalismus
Autorenporträt
Dr. Hedwig Röckelein ist Professorin für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Göttingen.