Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2009Reizstromwäsche
"Die Liebe ist eine zu häufige Blume" - wenn ein Lyriker das sagt, dann hat er wohl einen anderen Eros im Sinn. Tom Schulz, 1970 in der Oberlausitz geboren und auch als Übersetzer und Herausgeber hervorgetreten, setzt auf den Eros der Sprache. Er spricht von einem "Gedicht, das mit der Sprache schlief". Sein Band "Kanon vor dem Verschwinden" hat freilich keinen kulturkonservativen Kanon im Sinn. Er steht in der Tradition von Dadaismus und Surrealismus. Gern persifliert er das Pathos großer Poesie - wenn auch mit mäßigem Witz. Dylan Thomas' Wendung "Dem Tod soll kein Reich bleiben" wird zu "dem Tod soll keine Gründerzeitvilla bleiben". Und bei der Zeile "durch soviel Kuhmist geschritten" sollen wir an Benns Artistik denken: "Durch soviel Formen geschritten". Die Titel der Gedichte von Tom Schulz suggerieren Welthaltigkeit. Da figurieren Orte von Cordoba bis zu den Isarauen, von der Saarschleife bis Anatolien. "Die Holledau, die blöde" klingt als Titel lustig. Doch das Spiel der Worte gibt dem Ort keine Chance. Es ist ohne Geduld. Schulz erfindet zum Mobilfunk einen "Debilfunk". "Reizstromwäsche" kombiniert nach schlichtem Rezept zwei Begriffe zu einem neuen. Loben wir aber den Ausdruck, den Tom Schulz für bestimmte Ästheten findet: Kunstanrichter. Er passt recht hübsch auf den Autor und was er anrichtet. (Tom Schulz: "Kanon vor dem Verschwinden". Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2009. 104 S., geb., 17,40 [Euro].) H.H.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die Liebe ist eine zu häufige Blume" - wenn ein Lyriker das sagt, dann hat er wohl einen anderen Eros im Sinn. Tom Schulz, 1970 in der Oberlausitz geboren und auch als Übersetzer und Herausgeber hervorgetreten, setzt auf den Eros der Sprache. Er spricht von einem "Gedicht, das mit der Sprache schlief". Sein Band "Kanon vor dem Verschwinden" hat freilich keinen kulturkonservativen Kanon im Sinn. Er steht in der Tradition von Dadaismus und Surrealismus. Gern persifliert er das Pathos großer Poesie - wenn auch mit mäßigem Witz. Dylan Thomas' Wendung "Dem Tod soll kein Reich bleiben" wird zu "dem Tod soll keine Gründerzeitvilla bleiben". Und bei der Zeile "durch soviel Kuhmist geschritten" sollen wir an Benns Artistik denken: "Durch soviel Formen geschritten". Die Titel der Gedichte von Tom Schulz suggerieren Welthaltigkeit. Da figurieren Orte von Cordoba bis zu den Isarauen, von der Saarschleife bis Anatolien. "Die Holledau, die blöde" klingt als Titel lustig. Doch das Spiel der Worte gibt dem Ort keine Chance. Es ist ohne Geduld. Schulz erfindet zum Mobilfunk einen "Debilfunk". "Reizstromwäsche" kombiniert nach schlichtem Rezept zwei Begriffe zu einem neuen. Loben wir aber den Ausdruck, den Tom Schulz für bestimmte Ästheten findet: Kunstanrichter. Er passt recht hübsch auf den Autor und was er anrichtet. (Tom Schulz: "Kanon vor dem Verschwinden". Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2009. 104 S., geb., 17,40 [Euro].) H.H.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Hans-Peter Räkel fürchtet sich ein wenig vor diesen Texten. Schaurig schön, kann man sagen, ist sein Empfinden beim Lesen der Gedichte von Tom Schulz. Die Angst, die Dinge zu benennen geht einher mit Umdeutungen und surrealistischen Kalauern, die Räkel wieder Spaß machen. So wird der Kanon vom Verschwinden wieder eine Feier des Lebens, findet Räkel. Und dann und wann ein Gedicht so schön, dass der Rezensent sich die Augen reibt. Ein zärtliches Gefühl plötzlich. Die Pole also, zwischen denen Schulz sich bewegt, so klärt Räkel, seien Furcht und Liebe. Und wo ein Haupt- oder Aussagesatz dem eigentlichen Niveau des Dichters nicht ganz gerecht wird, nimmt sich der Rezensent die Freiheit, einfach drüberwegzulesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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