Die sechs auf der Jahrestagung zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant gehaltenen Vorträge wurden in diesen Band 164 der Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin aufgenommen. Heiner F. Klemme (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) umriss in einem ersten Schritt die Bedeutung der Begriffe Humanität und Selbstherrschaft, Mündigkeit und Selbsterhaltung, die nach Kant den Grund und das Ziel unseres ethischen und rechtlich-politischen Handelns konkretisieren. Danach stellte er in einem zweiten Schritt Martin Heideggers einflussreiche Kritik am Humanismus vor, mit der er sich unmittelbar nach dem Zweiten \5(/eltkrieg gegen das Erbe der Aufklärung gewandt hatte. Aus der Perspektive von Kants Konzeption der Humanität betrachtet, steht Heideggers Denken mit seiner Negation von Philosophie, Ethik und Wissenschaft in den Diensten einer Politik der Unmündigkeit. In der Auseinandersetzung mit Heidegger wurde deutlich, dass Kants Philosophie der Selbsterhaltung der Vernunft nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Hermann Klenner (MLS, Berlin) sprach zu Immanuel Kant im Widerstreit Kants eigenen Lebens, im Widerstreit mit dem Recht Preußens und zu Frankreichs Revolution sowie mit dem Völkerrecht. Er erörterte die scharfen Gegensätze zwischen dem englischen bürgerlichen Konservatismus, der deutschen Feudal-Reaktion einerseits und andererseits Immanuel Kants Zustimmung zur Französischen Revolution. Gerda Haßler (MLS, Potsdam) stellte dar, wie der Begriff des Transzendentalen ein seit zwei Jahrhunderten funktionierendes kognitives Modell in Frage stellte, das unter anderem zur Entwicklung einer eigenen Semantiktheorie geführt hatte. Neben der Preisfrage der Berliner Akademie zum Ursprung unserer Erkenntnis (1799) als einer der ersten institutionellen Reaktionen auf Kant wurden drei verschiedene Richtungen von Antworten der Sprachtheorien auf seine Herausforderung behandelt. Ulrich Busch (MLS, Berlin) erörterte Kants, Fichtes und Goethes unterschiedliche Antworten auf die Frage nach der Funktionalität des Geldes. Obwohl Kant kein ökonomisches Werk hinterlassen und Äußerungen zur Wirtschaft oder zu ökonomischen Kategorien sich bei ihm sehr vereinzelt finden, hat Kant die zentrale Bedeutung der Ökonomie einschließlich ihrer monetären Dimension in den 1790er]ahren erfasst und in ihren praktischen Konsequenzen begriffen. Der Position von Kant wurde Fichtes gänzlich andere Behandlung des Geldes sowie Goethes philosophisch-literarische Deutung in seiner Faust-Dichtung gegenübergestellt. Annette Vogt (MLS, Berlin) ging der Frage nach, ob sich in der Mathematikgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Mathematiker finden lassen, die Kantianer waren. Sie stellte dazu eine Analyse von Promotionen von Frauen an der Berliner Universitätin den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften sowie Philosophie vor. Bis 1933 war die Philosophie zwingend als Nebenfach bei allen Promotionsprüfungen vorgeschrieben, auch in Mathematik und Naturwissenschaften. Hans-Christoph Rauh (Berlin) befasste sich mit der Behandlung Kants in der DDR-Philosophie. Kant hatte es im Rahmen der allein vorherrschenden marxistisch-leninistischen DDR-Philosophie des dialektischen und historischen Materialismus von Anbeginn schwer, unvoreingenommen rezipiert zu werden. Erst in den Siebzigerjahren wurde Kant zu einer theoretischen Quelle des Marxismus erklärt. Trotzdem wirkte Kant aufklärerisch-kritisch in die DDR-Philosophie hinein. Wenn auch die kritische Aufarbeitung der Kant-Rezeption in der DDR manchen ungerecht erscheinen mag, so greift sie doch wichtige Probleme auf, über die es nachzudenken lohnt.