Wie das kleine "Manelchen" zum weltweisen Denker wurde; wie Kant aus dem Chaos den Kosmos neu erschaffen hat; wie der Herr Professor aus Königsberg die Philosophie revolutionierte. Manfred Geier beschreibt Leben und Werk des bedeutendsten deutschen Philosophen. Und er erzählt die Geschichte eines Aufklärers, dessen Schriften bis heute erstaunliche Aktualität haben.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Christine Pries findet Manfred Geiers "glänzend geschriebenes Buch" über Immanuel Kant rundum gelungen. Von den drei neuen Biografien Kants, die anlässlich seines 200. Todestags am 12. Februar 2004 erschienen sind, vermittelt Geiers Biografie ihres Erachtens das "lebendigste Bild" des Königsberger Philosophen. Geier sehe in den Motiven des "bestirnten Himmels über mir und des moralischen Gesetztes in mir" (Kant) das Movens von Kants Leben und Werk. Aus dieser "ungewöhnlichen Perspektive" rekonstruiere er dessen theoretische und praktische Philosophie sowie die geschichtsphilosophischen Schriften. Dabei demonstriere Geier mit seinem "Blick aus der Gegenwart" die ungebrochene Aktualität Kants. Besonders gefallen hat Pries der Enthusiasmus, mit dem Geier bei der Sache ist, und der auf den Leser überspringe. So glaubt man, "den großen Unbekannten förmlich vor sich zu sehen", versichert die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2003Hört auf, in seinem Namen den Skeptizismus zu predigen
Kurz vor seinem zweihundertsten Todesjahr scheint die Debatte über Kant eben erst eröffnet: Neue Biographien und Kommentare zum Philosophen aus Königsberg / Von Gustav Falke
Viel zitiert und viel gescholten ist Hegels Satz, Kant gleiche mit seinem erkenntniskritischen Unterfangen jenem Scholastikus, der schwimmen lernen wollte, ohne ins Wasser zu gehen. Die philosophisch Linken wie die philosophisch Konservativen haben den Ausspruch als autoritativen Beleg genommen, daß Kant nur formal, nicht sachhaltig philosophiere, die Liberalen haben darin ein Zeichen für Hegels unkritische, dogmatische Haltung gesehen. So einfach kann es sich mit dem Gegensatz von Kant und Hegel freilich kaum verhalten. Kant glaubt in der "Kritik der reinen Vernunft" alles Wesentliche für ein System der Metaphysik - "die Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft" - versammelt. Hegel will mit der "Wissenschaft der Logik" Kants transzendentale Logik vollenden, und seine politische Philosophie basiert auf ebendem "freien Willen, der den freien Willen will", den Kant als Grundlage herausgearbeitet hatte. Daß Kant ein Trockenschwimmer sei, meint dann nur, er hat den Prinzipien der Synthesis a priori und der Autonomie des Willens, auf denen auch Hegel fußt, nicht ausreichend materiale Geltung verschafft. Deshalb unternimmt Hegel in der "Wissenschaft der Logik" eine kritische Prüfung aller historisch relevanten Grundbegriffe der Philosophie wie der damaligen Fachwissenschaften. Und in der Rechtsphilosophie wie in der Geschichtsphilosophie untersucht er die Institutionen der Freiheit und ihr Werden.
Kant und Hegel eint das Bemühen um eine moderne Metaphysik. Moderne, von der Subjektivität ausgehende Metaphysik, das ist das Projekt der klassischen deutschen Philosophie, mit der klassischen Musik und der Literatur der Klassik sozusagen Deutschlands Beitrag zur Geschichte des Weltgeistes. Kants zweihundertstes Todesjahr 2004 wäre Anlaß, an es zu erinnern. Doch seit der Kritik am Deutschen Idealismus, seit Feuerbach, Kierkegaard, Marx, wurde aus dem "Kant und Hegel" ein "Kant oder Hegel". Zum Schaden beider Seiten. Die an Hegel ausgerichteten Köpfe erlagen der Geschichtsphilosophie. Statt zuerst nach der Wahrheit eines Gedankens, der normativen Richtigkeit von Handlungen zu fragen, galt es, deren historischen Ort zu bestimmen (bürgerlich, bewußtseinsphilosophisch und so weiter). Die von Kant ausgehende Tradition umgekehrt zog sich mit ihrer Suche nach Allgemeinheit und Notwendigkeit vor den Ergebnissen der Naturwissenschaften und den konkreten Aufgaben von Politik und Gesellschaft in immer formalere Begriffe zurück. So stehen heute in der Philosophie abstrakt-allgemeine geschichtsphilosophische Entwürfe (Ende der Geschichte, Verwindung der Metaphysik, Dialektik der Aufklärung) abstrakt-allgemeinen Prinzipien gegenüber (Nicht-Widerspruchsprinzip, Autonomie des Willens, Schönheit als freies Spiel der Erkenntniskräfte).
Wie bestimmend der Gegensatz zwischen Formalismus und Geschichtsphilosophie für die gegenwärtige Philosophie ist, zeigt sich, wenn ein so bedeutendes Werk wie Otfried Höffes Kommentar der "Kritik der reinen Vernunft" ihn trotz entgegengesetzter Absichten noch einmal befördert. Höffe sieht in Hegel ganz selbstverständlich einen Kantianer, einen kreativen Kant-Nachfolger. Höffe ist als Aristoteles-Kenner mit sachhaltigem Philosophieren gründlich vertraut. Höffe nimmt, auch wenn er den Begriff aus strategischen Erwägungen vermeidet, Kant als systematischen Metaphysiker. Und Höffe hat sich weit in die Grundsatzdebatten der modernen Naturwissenschaften eingearbeitet. Zumal letzteres dürfte das glänzende Gelingen des Kommentars erklären. Die angestammte Kant-Kenntnis ist mit einem neuen oder erneuerten Interesse an der philosophischen Grundlegung der Naturwissenschaften zusammengekommen. Vom Bacon-Motto bis zur selten beachteten abschließenden Methodenlehre werden Aufbau und Argumentation in modernen Worten nachgezeichnet; kurz wird erläutert, worauf Kant sich bezieht und wovon er sich abgrenzt; die wichtigen Differenzen der Forschung werden unparteilich dargestellt und unpolemisch beurteilt. Vor allem aber wird geprüft, wie weit Kants Systematik den neuesten naturwissenschaftlichen Entdeckungen standhält, inwieweit sie revidiert werden muß, was sie zu ihrer Erhellung beiträgt. Man kann sich einen philosophischen Kant-Kommentar überhaupt nicht besser vorstellen, denn hier wird gleichzeitig der historischen Lektüre aufgeholfen und gegenwärtige Philosophie betrieben. Doch eben mit der Rehabilitierung Kants als Systematiker geht die Ausdünnung von dessen Denken einher.
Der Relativierung der transzendentalen Ästhetik durch nicht-euklidische Geometrien auf der einen Seite und die Phänomenologie des Zeitbewußtseins auf der anderen begegnet Höffe, indem er Kants Begründungsprogramm auf Räumlichkeit als äußeres Nebeneinander und Zeitlichkeit als inneres Nacheinander reduziert. Kant möge sich gelegentlich unvorsichtig ausgedrückt haben und den Wissenschaften seiner Zeit allzusehr verhaftet gewesen sein. "Im Sinne einer klaren Trennung von transzendentaler und mathematischer Geometrie verzichtet Kant selber auf mathematische Ansprüche. Die Entscheidung für eine bestimmte Raumvorstellung und gegen jede andere läßt sich mit Hilfe des transzendentalen Raumes gar nicht treffen." Gleichermaßen schätze Kant zwar die Bedeutung der Mathematik für die Naturwissenschaften sehr hoch ein. Das meine jedoch keineswegs eine bestimmte Mathematik. Begründet werde nur, daß alle Anschauungen als raum-zeitliche Erstreckungen einen quantitativen Charakter haben. Und auch ein bestimmtes Kausalgesetz könne die Philosophie unmöglich deduzieren. Es gehe Kant vielmehr nur um die transzendentale Notwendigkeit des Kausalprinzips. Grundlage aller Naturgesetze sei die nichtumkehrbare Ereignisfolge. Noch der Probabilismus der Quantenmechanik enthalte eine in Naturgesetzen präzise formulierbare Determination. - Nur sind Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Quantitativität und Ereignisfolgenhaftigkeit äußerste Abstraktionen, für die Naturwissenschaften kaum von großem Interesse.
Höffe stellt als eine besondere Leistung Kants heraus, daß dieser Sinnlichkeit und Verstand, Gegebenes und Gesetztes zugleich trenne und vermittle. Theorie muß sich auf Erfahrung beziehen, und Erfahrung wird erst in der Theorie ihrer selbst sicher. Das gilt analog für das Verhältnis von Fachwissenschaften und Philosophie. Die Philosophie kann den Fachwissenschaften keine Vorschriften machen, aber sie kann sie über ihre notwendigen Voraussetzungen und ihren Zusammenhang zum Ganzen der Erkenntnis aufklären. Die vorherrschende sprachanalytische Philosophie habe die Frage nach Wahrheit aufgegeben und so in der Erkenntnistheorie dem Naturalismus das Feld überlassen.
Zumal die Kognitionswissenschaften, so Höffe, überschritten zunehmend ihre Befugnisse, und damit drohe die Gefahr, daß sich - deutlich sichtbar etwa bei den Gehirnforschern - "professionelle Fachkenntnis mit philosophischem Dilettantismus verbindet und die ganzheitlichen Weltbilder naiv ausfallen" - dies mit hochproblematischen moralischen Konsequenzen, die sich bis hinein ins Rechts- und Erziehungssystem auswirken. Sosehr Höffe allerdings die kritische Prüfung der fachwissenschaftlichen Begrifflichkeiten und Selbstinterpretationen zur philosophischen Aufgabe erklärt, so sehr betreibt er das Gegenteil. Er rettet Kant, indem er ihn formalisiert. Man könnte auch sagen, er hält die Metaphysik von allen Hegelschen kreativen Ergänzungen frei.
Der Beck-Verlag hat nicht nur den auf einige Zeit wohl besten Kommentar zur "Kritik der reinen Vernunft" vorgelegt, sondern, allerdings in einer Übersetzung (F.A.Z vom 24. Dezember 2001), auch die beste Kant-Biographie. Werbe- und Klappentexter zitieren im Moment Heines Ausspruch zu Tode, daß man von Kant keine Lebensgeschichte schreiben könne, denn Kant habe weder ein Leben noch eine Geschichte gehabt. Wenige Seiten später vermutet Heine immerhin, daß die pedantische Aufmachung der "Kritik der reinen Vernunft" bloße Konzession gewesen sei, um vor der Schulphilosophie nicht als unseriös dazustehen. In den kleineren Schriften wundere man sich über die gute, oft sehr witzige Schreibart. Und wer sich in den lateinischen Periodenbau der - eben noch nicht durch Goethe gereinigten - Sprache hineingelesen hat, wird auch am Stil der Hauptwerke viel Vergnügen haben.
Im übrigen ist Kants Lob urbaner Geselligkeit so prominent, daß das Bild von ihm als Prototyp aller preußischen Schulmeister einfach nicht stimmen kann. "Die Kant-Legende" wäre ein schöner Buchtitel. Was Manfred Kühn an Belegen für Kants Interesse an gutem Essen, gutem Wein, guter Kleidung, fachfremden Tischgesprächen, sogar Frauen, für seinen Witz und Charme und seinen modernen Vortragsstil zusammenträgt, ist aber schon quantitativ erstaunlich. Kant habe, schreiben Zeitgenossen, "lieber etwas Galanterie als Nachlässigkeit im Anzuge" gehabt und es für besser gehalten, "ein stilvoller Narr als ein stilloser Narr zu sein." Kants Freund und Hegels Lieblingsautor Hippel witzelte, Kant werde über kurz oder lang eine Kritik der Kochkunst schreiben. Und auch wenn er sich streng auf die eine Pfeife zur morgendlichen Meditation begrenzte, wurden die Pfeifenköpfe mit der Zeit doch immer größer.
Mit Kleidern in den Farben der Natur, von Goldschnüren eingefaßt, unterschied Kant sich deutlich von seinen "stärker geistlich und pietistisch gesonnenen Kollegen, die bescheideneres Schwarz oder allenfalls Grau trugen". Hier liegt ein Schwerpunkt von Kühns Darstellung. Ausführlich belegt er, wie breit Kants Wurzeln in die Leibniz-Wolffische Metaphysik hineinragen. Damit war Kant geradezu ein natürlicher Feind der Pietisten, die unter Friedrich Wilhelm I. die offizielle Religiosität dominierten und an der Königsberger Universität die Besetzungspolitik bestimmten. Es ist ein ganz rätselhafter Reflex der deutschen Forschung, überall, wo im achtzehnten Jahrhundert Subjektivität zentral wird wie eben in Kants "gutem Willen", einen pietistischen Einfluß zu diagnostizieren.
Kühn stellt ausführlich dar, daß die Pietisten Kants akademische Karriere lange behinderten. Gegen den "Geist des Pietismus" sind solche Belege natürlich machtlos. Kühn belegt allerdings auch, daß Kant sich überhaupt allen Bekundungen christlichen Glaubens, Tischgebeten, offiziellen Gottesdiensten, so weit als möglich verweigerte. Das kurioseste Beispiel gibt die Beschwerde über geistliche Lärmbelästigung, "die stentorische Andacht der Heuchler im Gefängnisse. Ich denke nicht, daß sie zu klagen Ursache haben würden, als ob ihr Seelenheil Gefahr liefe, wenn gleich ihre Stimme beim Singen dahin gemäßigt würde, daß sie sich selbst bei zugemachten Fenstern hören könnten. Das Zeugnis, um welches ihnen wohl eigentlich zu thun scheint, als ob sie sehr gottesfürchtige Leute wären, können sie dessenungeachtet doch bekommen."
Kühns Fakten richten sich letztlich gegen die systematische Bedeutung der Postulate von Seele, Freiheit, Gott. Schon Heine hatte in Kant den deutschen Robespierre gesehen und vermutet, daß er die Resurrektion des in der theoretischen Philosophie guillotinierten Gottes als Postulat der praktischen Philosophie keineswegs nur aus Mitleid mit den Bedürfnissen seines Dieners Lampe, sondern vor allem "wegen der Polizei" unternommen habe. Kühns Materialien bestätigen das, und es ist trotzdem falsch. Eine Postulatenreligion ist philosophisch gewiß unbefriedigend. Doch die Rettung, daß Kant gar keine Religion gehabt habe, rettet Kant in die Belanglosigkeit. Hätte Kühn Kants Streitigkeiten mit Jacobi, Herder, Fichte in ihrem systematischen Zusammenhang untersucht, hätte er gesehen, daß es dort um einen philosophischen Gottesbegriff ging. Nicht was Kant geglaubt hat, ist dann von Interesse, sondern was genau er warum postuliert. Tatsächlich entspringt der Gedanke Gottes bei ihm aus dem Bedürfnis, in der Geschichte der Welt ein Ziel und eine Ordnung zu erkennen. Von der Leibnizschen Theodizee ist das nicht weit entfernt und auch von Hegel, der in der "Wissenschaft der Logik" Gott in seinem ewigen Wesen und in der Geschichtsphilosophie den Gang Gottes in der Welt darstellen will. Fragt man, wie es am Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland zu einer klassischen Musik, einer klassischen Dichtung und einer klassischen Philosophie kommen konnte, so dürfte das scheinbar rückständige Weiterleben des Bachschen Kontrapunktes und der Leibnizschen, bei Goethe der Spinosischen Metaphysik einen Teil der Antwort bilden.
Hegels eingangs zitierter Ausspruch hat indes eine zweite Seite. Unkritisch sei die Erkenntniskritik in ihrem Ergebnis, daß wir zum Ding-an-sich im allgemeinen und zu Gott, Freiheit und Unsterblichkeit im besonderen keine bestimmten Aussagen machen könnten. Das negative Ergebnis setze positive und gänzlich ungeprüfte Vorstellungen von dem voraus, was wir da angeblich nicht erkennen können. Kant gab in der zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" an, das Wissen einschränken zu wollen, um für den Glauben Platz zu bekommen. Für Hegel, der Glauben und Wissen zusammenbringen wollte, war das die Rückkehr zum kritisierten gemeinen Menschenverstand. Mit Schrecken verfolgte er, wie die protestantische Orthodoxie ihre alten dogmatischen Hüte jetzt mit dem Etikett "Von Kant geprüft" versah und wie in Kants Namen der platteste Skeptizismus Karriere machte. "Die Kantische Philosophie dient so als ein Polster für die Trägheit des Denkens, die sich damit beruhigt, daß bereits alles bewiesen und abgetan sei."
Der Ruhepolsterkantianismus beherrscht auch heute das Feld. Steffen Dietzsch beginnt seine Biographie mit Überbaukritik. Kant räume auf mit der aufklärerischen Robinsonade des "auf-sich selbst zurückgeworfenen einzelnen". Und "wie bei Smith der Markt als das ,unsinnliche Dritte' den Raum schafft, in dem alle Werte erzeugt werden, ist bei Kant das Transzendentale das ,unsinnliche Dritte', in dessen Medium sich für ein Subjekt die Wahrheit eines Objekts erst herstellen läßt". Marx oder die Warenanalyse des "Kapitals", die hier abgespult wird, dürfen freilich so wenig mehr genannt werden wie der Strick im Hause des Henkers. Das Buch endet denn auch mit Anspielungen auf die jetzigen Interessen des Autors. Kant unterscheide sich von der populären Aufklärung und von der Philosophie sub species (sic!) aeternitatis durch "sein Wissen um das Bruchstückhafte, Endliche und vor allem das Selbstgemachte allen Wissens."
Manfred Geier unternimmt erst gar keine theoretischen Umwege. Er beginnt damit, daß die letzten, großen Fragen keine eindeutigen und endgültigen Antworten zulassen. "Es gibt hier keine Gewißheit." Er endet damit, daß wir das Übersinnliche grundsätzlich weder beweisen noch widerlegen können. "Wir werden es niemals wissen können." Und auch zwischendurch erfahren wir ständig, daß Kant uns die Unaussprechlichkeit des Unbegreiflichen gelehrt habe. Im übrigen kann man aus beiden Bücher das Wichtige über Kants dann doch ereignisarmes Leben lernen. Dietzsch hat Stärken bei der Universitätsgeschichte, Geier bei Kants naturwissenschaftlichen Kenntnissen. Beide nennen die große Bedeutung des Pietismus für Kant.
Josef Simons Kant-Buch in diesem Zusammenhang zu nennen ist vielleicht ungerecht. Simon stellt im Medium eines sachlich wie sprachlich überaus eleganten Kant-Referats sein eigenes System dar, das eine eigene Kritik erforderte. An Kant knüpft er an, weil dort alle Erkenntnis an die Sinnlichkeit gebunden werde. Kant deutet er kreativ um, wenn er in dem notwendigen Bezug auf Sinnlichkeit eine apriorische Situiertheit des transzendentalen Subjektes erkennt. Jeder denkt notwendig als ein Dieser, hier und jetzt lebend. Kants Interesse an allgemeiner und notwendiger Erkenntnis muß Simon dabei allerdings wegschieben. Kants eigentliche Funktion ist ihm eben doch die eines Ruhepolsters. Mit der "Kritik der Vernunft" ist bewiesen, daß es keine Erkenntnis der Dinge-an-sich geben kann. Und Ding-an-sich ist vor allem das Innere des andern. Aber was sollte dieses Ansich des andern denn überhaupt sein, würde Hegel als Kritiker der Erkenntniskritik fragen, wenn nicht das, was in seinem Sprechen und Handeln für uns in Erscheinung tritt? Kurz vor dem zweihundertsten Todestag des Königsberger Philosophen sieht es so aus, als sei die Debatte über Kant eben erst eröffnet.
Steffen Dietzsch: "Immanuel Kant". Eine Biographie. Verlag Reclam Leipzig, Leipzig 2003. 368 S., 17 Abb., geb., 24,90 [Euro].
Manfred Geier: "Kants Welt". Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 350 S., 31 Abb., geb., 24,90 [Euro].
Otfried Höffe: "Kants Kritik der reinen Vernunft". Die Grundlegung der modernen Philosophie. C. H. Beck Verlag, München 2003. 378 S., geb., 24,90 [Euro].
Manfred Kühn: "Kant". Eine Biographie. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. C. H. Beck Verlag, München 2003. 639 S., 28 Abb., geb., 29,90 [Euro].
Josef Simon: "Kant". Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie. Walter de Gruyter Verlag, Berlin, New York 2003. 590 S., geb., 38,95 [Euro].
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Kurz vor seinem zweihundertsten Todesjahr scheint die Debatte über Kant eben erst eröffnet: Neue Biographien und Kommentare zum Philosophen aus Königsberg / Von Gustav Falke
Viel zitiert und viel gescholten ist Hegels Satz, Kant gleiche mit seinem erkenntniskritischen Unterfangen jenem Scholastikus, der schwimmen lernen wollte, ohne ins Wasser zu gehen. Die philosophisch Linken wie die philosophisch Konservativen haben den Ausspruch als autoritativen Beleg genommen, daß Kant nur formal, nicht sachhaltig philosophiere, die Liberalen haben darin ein Zeichen für Hegels unkritische, dogmatische Haltung gesehen. So einfach kann es sich mit dem Gegensatz von Kant und Hegel freilich kaum verhalten. Kant glaubt in der "Kritik der reinen Vernunft" alles Wesentliche für ein System der Metaphysik - "die Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft" - versammelt. Hegel will mit der "Wissenschaft der Logik" Kants transzendentale Logik vollenden, und seine politische Philosophie basiert auf ebendem "freien Willen, der den freien Willen will", den Kant als Grundlage herausgearbeitet hatte. Daß Kant ein Trockenschwimmer sei, meint dann nur, er hat den Prinzipien der Synthesis a priori und der Autonomie des Willens, auf denen auch Hegel fußt, nicht ausreichend materiale Geltung verschafft. Deshalb unternimmt Hegel in der "Wissenschaft der Logik" eine kritische Prüfung aller historisch relevanten Grundbegriffe der Philosophie wie der damaligen Fachwissenschaften. Und in der Rechtsphilosophie wie in der Geschichtsphilosophie untersucht er die Institutionen der Freiheit und ihr Werden.
Kant und Hegel eint das Bemühen um eine moderne Metaphysik. Moderne, von der Subjektivität ausgehende Metaphysik, das ist das Projekt der klassischen deutschen Philosophie, mit der klassischen Musik und der Literatur der Klassik sozusagen Deutschlands Beitrag zur Geschichte des Weltgeistes. Kants zweihundertstes Todesjahr 2004 wäre Anlaß, an es zu erinnern. Doch seit der Kritik am Deutschen Idealismus, seit Feuerbach, Kierkegaard, Marx, wurde aus dem "Kant und Hegel" ein "Kant oder Hegel". Zum Schaden beider Seiten. Die an Hegel ausgerichteten Köpfe erlagen der Geschichtsphilosophie. Statt zuerst nach der Wahrheit eines Gedankens, der normativen Richtigkeit von Handlungen zu fragen, galt es, deren historischen Ort zu bestimmen (bürgerlich, bewußtseinsphilosophisch und so weiter). Die von Kant ausgehende Tradition umgekehrt zog sich mit ihrer Suche nach Allgemeinheit und Notwendigkeit vor den Ergebnissen der Naturwissenschaften und den konkreten Aufgaben von Politik und Gesellschaft in immer formalere Begriffe zurück. So stehen heute in der Philosophie abstrakt-allgemeine geschichtsphilosophische Entwürfe (Ende der Geschichte, Verwindung der Metaphysik, Dialektik der Aufklärung) abstrakt-allgemeinen Prinzipien gegenüber (Nicht-Widerspruchsprinzip, Autonomie des Willens, Schönheit als freies Spiel der Erkenntniskräfte).
Wie bestimmend der Gegensatz zwischen Formalismus und Geschichtsphilosophie für die gegenwärtige Philosophie ist, zeigt sich, wenn ein so bedeutendes Werk wie Otfried Höffes Kommentar der "Kritik der reinen Vernunft" ihn trotz entgegengesetzter Absichten noch einmal befördert. Höffe sieht in Hegel ganz selbstverständlich einen Kantianer, einen kreativen Kant-Nachfolger. Höffe ist als Aristoteles-Kenner mit sachhaltigem Philosophieren gründlich vertraut. Höffe nimmt, auch wenn er den Begriff aus strategischen Erwägungen vermeidet, Kant als systematischen Metaphysiker. Und Höffe hat sich weit in die Grundsatzdebatten der modernen Naturwissenschaften eingearbeitet. Zumal letzteres dürfte das glänzende Gelingen des Kommentars erklären. Die angestammte Kant-Kenntnis ist mit einem neuen oder erneuerten Interesse an der philosophischen Grundlegung der Naturwissenschaften zusammengekommen. Vom Bacon-Motto bis zur selten beachteten abschließenden Methodenlehre werden Aufbau und Argumentation in modernen Worten nachgezeichnet; kurz wird erläutert, worauf Kant sich bezieht und wovon er sich abgrenzt; die wichtigen Differenzen der Forschung werden unparteilich dargestellt und unpolemisch beurteilt. Vor allem aber wird geprüft, wie weit Kants Systematik den neuesten naturwissenschaftlichen Entdeckungen standhält, inwieweit sie revidiert werden muß, was sie zu ihrer Erhellung beiträgt. Man kann sich einen philosophischen Kant-Kommentar überhaupt nicht besser vorstellen, denn hier wird gleichzeitig der historischen Lektüre aufgeholfen und gegenwärtige Philosophie betrieben. Doch eben mit der Rehabilitierung Kants als Systematiker geht die Ausdünnung von dessen Denken einher.
Der Relativierung der transzendentalen Ästhetik durch nicht-euklidische Geometrien auf der einen Seite und die Phänomenologie des Zeitbewußtseins auf der anderen begegnet Höffe, indem er Kants Begründungsprogramm auf Räumlichkeit als äußeres Nebeneinander und Zeitlichkeit als inneres Nacheinander reduziert. Kant möge sich gelegentlich unvorsichtig ausgedrückt haben und den Wissenschaften seiner Zeit allzusehr verhaftet gewesen sein. "Im Sinne einer klaren Trennung von transzendentaler und mathematischer Geometrie verzichtet Kant selber auf mathematische Ansprüche. Die Entscheidung für eine bestimmte Raumvorstellung und gegen jede andere läßt sich mit Hilfe des transzendentalen Raumes gar nicht treffen." Gleichermaßen schätze Kant zwar die Bedeutung der Mathematik für die Naturwissenschaften sehr hoch ein. Das meine jedoch keineswegs eine bestimmte Mathematik. Begründet werde nur, daß alle Anschauungen als raum-zeitliche Erstreckungen einen quantitativen Charakter haben. Und auch ein bestimmtes Kausalgesetz könne die Philosophie unmöglich deduzieren. Es gehe Kant vielmehr nur um die transzendentale Notwendigkeit des Kausalprinzips. Grundlage aller Naturgesetze sei die nichtumkehrbare Ereignisfolge. Noch der Probabilismus der Quantenmechanik enthalte eine in Naturgesetzen präzise formulierbare Determination. - Nur sind Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Quantitativität und Ereignisfolgenhaftigkeit äußerste Abstraktionen, für die Naturwissenschaften kaum von großem Interesse.
Höffe stellt als eine besondere Leistung Kants heraus, daß dieser Sinnlichkeit und Verstand, Gegebenes und Gesetztes zugleich trenne und vermittle. Theorie muß sich auf Erfahrung beziehen, und Erfahrung wird erst in der Theorie ihrer selbst sicher. Das gilt analog für das Verhältnis von Fachwissenschaften und Philosophie. Die Philosophie kann den Fachwissenschaften keine Vorschriften machen, aber sie kann sie über ihre notwendigen Voraussetzungen und ihren Zusammenhang zum Ganzen der Erkenntnis aufklären. Die vorherrschende sprachanalytische Philosophie habe die Frage nach Wahrheit aufgegeben und so in der Erkenntnistheorie dem Naturalismus das Feld überlassen.
Zumal die Kognitionswissenschaften, so Höffe, überschritten zunehmend ihre Befugnisse, und damit drohe die Gefahr, daß sich - deutlich sichtbar etwa bei den Gehirnforschern - "professionelle Fachkenntnis mit philosophischem Dilettantismus verbindet und die ganzheitlichen Weltbilder naiv ausfallen" - dies mit hochproblematischen moralischen Konsequenzen, die sich bis hinein ins Rechts- und Erziehungssystem auswirken. Sosehr Höffe allerdings die kritische Prüfung der fachwissenschaftlichen Begrifflichkeiten und Selbstinterpretationen zur philosophischen Aufgabe erklärt, so sehr betreibt er das Gegenteil. Er rettet Kant, indem er ihn formalisiert. Man könnte auch sagen, er hält die Metaphysik von allen Hegelschen kreativen Ergänzungen frei.
Der Beck-Verlag hat nicht nur den auf einige Zeit wohl besten Kommentar zur "Kritik der reinen Vernunft" vorgelegt, sondern, allerdings in einer Übersetzung (F.A.Z vom 24. Dezember 2001), auch die beste Kant-Biographie. Werbe- und Klappentexter zitieren im Moment Heines Ausspruch zu Tode, daß man von Kant keine Lebensgeschichte schreiben könne, denn Kant habe weder ein Leben noch eine Geschichte gehabt. Wenige Seiten später vermutet Heine immerhin, daß die pedantische Aufmachung der "Kritik der reinen Vernunft" bloße Konzession gewesen sei, um vor der Schulphilosophie nicht als unseriös dazustehen. In den kleineren Schriften wundere man sich über die gute, oft sehr witzige Schreibart. Und wer sich in den lateinischen Periodenbau der - eben noch nicht durch Goethe gereinigten - Sprache hineingelesen hat, wird auch am Stil der Hauptwerke viel Vergnügen haben.
Im übrigen ist Kants Lob urbaner Geselligkeit so prominent, daß das Bild von ihm als Prototyp aller preußischen Schulmeister einfach nicht stimmen kann. "Die Kant-Legende" wäre ein schöner Buchtitel. Was Manfred Kühn an Belegen für Kants Interesse an gutem Essen, gutem Wein, guter Kleidung, fachfremden Tischgesprächen, sogar Frauen, für seinen Witz und Charme und seinen modernen Vortragsstil zusammenträgt, ist aber schon quantitativ erstaunlich. Kant habe, schreiben Zeitgenossen, "lieber etwas Galanterie als Nachlässigkeit im Anzuge" gehabt und es für besser gehalten, "ein stilvoller Narr als ein stilloser Narr zu sein." Kants Freund und Hegels Lieblingsautor Hippel witzelte, Kant werde über kurz oder lang eine Kritik der Kochkunst schreiben. Und auch wenn er sich streng auf die eine Pfeife zur morgendlichen Meditation begrenzte, wurden die Pfeifenköpfe mit der Zeit doch immer größer.
Mit Kleidern in den Farben der Natur, von Goldschnüren eingefaßt, unterschied Kant sich deutlich von seinen "stärker geistlich und pietistisch gesonnenen Kollegen, die bescheideneres Schwarz oder allenfalls Grau trugen". Hier liegt ein Schwerpunkt von Kühns Darstellung. Ausführlich belegt er, wie breit Kants Wurzeln in die Leibniz-Wolffische Metaphysik hineinragen. Damit war Kant geradezu ein natürlicher Feind der Pietisten, die unter Friedrich Wilhelm I. die offizielle Religiosität dominierten und an der Königsberger Universität die Besetzungspolitik bestimmten. Es ist ein ganz rätselhafter Reflex der deutschen Forschung, überall, wo im achtzehnten Jahrhundert Subjektivität zentral wird wie eben in Kants "gutem Willen", einen pietistischen Einfluß zu diagnostizieren.
Kühn stellt ausführlich dar, daß die Pietisten Kants akademische Karriere lange behinderten. Gegen den "Geist des Pietismus" sind solche Belege natürlich machtlos. Kühn belegt allerdings auch, daß Kant sich überhaupt allen Bekundungen christlichen Glaubens, Tischgebeten, offiziellen Gottesdiensten, so weit als möglich verweigerte. Das kurioseste Beispiel gibt die Beschwerde über geistliche Lärmbelästigung, "die stentorische Andacht der Heuchler im Gefängnisse. Ich denke nicht, daß sie zu klagen Ursache haben würden, als ob ihr Seelenheil Gefahr liefe, wenn gleich ihre Stimme beim Singen dahin gemäßigt würde, daß sie sich selbst bei zugemachten Fenstern hören könnten. Das Zeugnis, um welches ihnen wohl eigentlich zu thun scheint, als ob sie sehr gottesfürchtige Leute wären, können sie dessenungeachtet doch bekommen."
Kühns Fakten richten sich letztlich gegen die systematische Bedeutung der Postulate von Seele, Freiheit, Gott. Schon Heine hatte in Kant den deutschen Robespierre gesehen und vermutet, daß er die Resurrektion des in der theoretischen Philosophie guillotinierten Gottes als Postulat der praktischen Philosophie keineswegs nur aus Mitleid mit den Bedürfnissen seines Dieners Lampe, sondern vor allem "wegen der Polizei" unternommen habe. Kühns Materialien bestätigen das, und es ist trotzdem falsch. Eine Postulatenreligion ist philosophisch gewiß unbefriedigend. Doch die Rettung, daß Kant gar keine Religion gehabt habe, rettet Kant in die Belanglosigkeit. Hätte Kühn Kants Streitigkeiten mit Jacobi, Herder, Fichte in ihrem systematischen Zusammenhang untersucht, hätte er gesehen, daß es dort um einen philosophischen Gottesbegriff ging. Nicht was Kant geglaubt hat, ist dann von Interesse, sondern was genau er warum postuliert. Tatsächlich entspringt der Gedanke Gottes bei ihm aus dem Bedürfnis, in der Geschichte der Welt ein Ziel und eine Ordnung zu erkennen. Von der Leibnizschen Theodizee ist das nicht weit entfernt und auch von Hegel, der in der "Wissenschaft der Logik" Gott in seinem ewigen Wesen und in der Geschichtsphilosophie den Gang Gottes in der Welt darstellen will. Fragt man, wie es am Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland zu einer klassischen Musik, einer klassischen Dichtung und einer klassischen Philosophie kommen konnte, so dürfte das scheinbar rückständige Weiterleben des Bachschen Kontrapunktes und der Leibnizschen, bei Goethe der Spinosischen Metaphysik einen Teil der Antwort bilden.
Hegels eingangs zitierter Ausspruch hat indes eine zweite Seite. Unkritisch sei die Erkenntniskritik in ihrem Ergebnis, daß wir zum Ding-an-sich im allgemeinen und zu Gott, Freiheit und Unsterblichkeit im besonderen keine bestimmten Aussagen machen könnten. Das negative Ergebnis setze positive und gänzlich ungeprüfte Vorstellungen von dem voraus, was wir da angeblich nicht erkennen können. Kant gab in der zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" an, das Wissen einschränken zu wollen, um für den Glauben Platz zu bekommen. Für Hegel, der Glauben und Wissen zusammenbringen wollte, war das die Rückkehr zum kritisierten gemeinen Menschenverstand. Mit Schrecken verfolgte er, wie die protestantische Orthodoxie ihre alten dogmatischen Hüte jetzt mit dem Etikett "Von Kant geprüft" versah und wie in Kants Namen der platteste Skeptizismus Karriere machte. "Die Kantische Philosophie dient so als ein Polster für die Trägheit des Denkens, die sich damit beruhigt, daß bereits alles bewiesen und abgetan sei."
Der Ruhepolsterkantianismus beherrscht auch heute das Feld. Steffen Dietzsch beginnt seine Biographie mit Überbaukritik. Kant räume auf mit der aufklärerischen Robinsonade des "auf-sich selbst zurückgeworfenen einzelnen". Und "wie bei Smith der Markt als das ,unsinnliche Dritte' den Raum schafft, in dem alle Werte erzeugt werden, ist bei Kant das Transzendentale das ,unsinnliche Dritte', in dessen Medium sich für ein Subjekt die Wahrheit eines Objekts erst herstellen läßt". Marx oder die Warenanalyse des "Kapitals", die hier abgespult wird, dürfen freilich so wenig mehr genannt werden wie der Strick im Hause des Henkers. Das Buch endet denn auch mit Anspielungen auf die jetzigen Interessen des Autors. Kant unterscheide sich von der populären Aufklärung und von der Philosophie sub species (sic!) aeternitatis durch "sein Wissen um das Bruchstückhafte, Endliche und vor allem das Selbstgemachte allen Wissens."
Manfred Geier unternimmt erst gar keine theoretischen Umwege. Er beginnt damit, daß die letzten, großen Fragen keine eindeutigen und endgültigen Antworten zulassen. "Es gibt hier keine Gewißheit." Er endet damit, daß wir das Übersinnliche grundsätzlich weder beweisen noch widerlegen können. "Wir werden es niemals wissen können." Und auch zwischendurch erfahren wir ständig, daß Kant uns die Unaussprechlichkeit des Unbegreiflichen gelehrt habe. Im übrigen kann man aus beiden Bücher das Wichtige über Kants dann doch ereignisarmes Leben lernen. Dietzsch hat Stärken bei der Universitätsgeschichte, Geier bei Kants naturwissenschaftlichen Kenntnissen. Beide nennen die große Bedeutung des Pietismus für Kant.
Josef Simons Kant-Buch in diesem Zusammenhang zu nennen ist vielleicht ungerecht. Simon stellt im Medium eines sachlich wie sprachlich überaus eleganten Kant-Referats sein eigenes System dar, das eine eigene Kritik erforderte. An Kant knüpft er an, weil dort alle Erkenntnis an die Sinnlichkeit gebunden werde. Kant deutet er kreativ um, wenn er in dem notwendigen Bezug auf Sinnlichkeit eine apriorische Situiertheit des transzendentalen Subjektes erkennt. Jeder denkt notwendig als ein Dieser, hier und jetzt lebend. Kants Interesse an allgemeiner und notwendiger Erkenntnis muß Simon dabei allerdings wegschieben. Kants eigentliche Funktion ist ihm eben doch die eines Ruhepolsters. Mit der "Kritik der Vernunft" ist bewiesen, daß es keine Erkenntnis der Dinge-an-sich geben kann. Und Ding-an-sich ist vor allem das Innere des andern. Aber was sollte dieses Ansich des andern denn überhaupt sein, würde Hegel als Kritiker der Erkenntniskritik fragen, wenn nicht das, was in seinem Sprechen und Handeln für uns in Erscheinung tritt? Kurz vor dem zweihundertsten Todestag des Königsberger Philosophen sieht es so aus, als sei die Debatte über Kant eben erst eröffnet.
Steffen Dietzsch: "Immanuel Kant". Eine Biographie. Verlag Reclam Leipzig, Leipzig 2003. 368 S., 17 Abb., geb., 24,90 [Euro].
Manfred Geier: "Kants Welt". Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 350 S., 31 Abb., geb., 24,90 [Euro].
Otfried Höffe: "Kants Kritik der reinen Vernunft". Die Grundlegung der modernen Philosophie. C. H. Beck Verlag, München 2003. 378 S., geb., 24,90 [Euro].
Manfred Kühn: "Kant". Eine Biographie. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. C. H. Beck Verlag, München 2003. 639 S., 28 Abb., geb., 29,90 [Euro].
Josef Simon: "Kant". Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie. Walter de Gruyter Verlag, Berlin, New York 2003. 590 S., geb., 38,95 [Euro].
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Das lebendigste Bild von Kant gelingt zweifelsohne Manfred Geier. Frankfurter Rundschau