Gewinner des Premio Alfaguara de Novela: Eine mitreißende Geschichte über kollektive Manipulation und den Kampf um Selbstbehauptung in einem totalitären System. Zehn Jahre sind seit dem Ausbruch des Krieges vergangen, und der Erzähler weiß noch immer nicht, wofür seine im Krieg verschollenen Söhne überhaupt gekämpft haben. Er und seine Frau befolgen Befehle und bewirtschaften ihren Hof, bis angeordnet wird, dass alle Bewohner der Gegend in die neue Hauptstadt umziehen müssen. Diese Stadt erscheint zunächst als wahres Paradies. Unter einer atemberaubenden Glaskuppel findet sich ein endloses Gewirr aus durchsichtigen Straßenzügen, Gebäuden, Geschäften. Für alles Lebensnotwendige ist gesorgt, und die Frau lebt sich schnell in ihr neues Leben ein. Doch der Mann findet keine Ruhe in dieser vollkommenen Transparenz, in der es weder Geheimnisse noch blickdichte Mauern gibt. Wer gegen die unausgesprochenen Regeln verstößt, muss mit den schlimmsten Konsequenzen rechnen, wie der Erzähler bald feststellt. Wird er am Ende kapitulieren und sich einfügen, oder gelingt ihm die Flucht aus diesem Alptraum? Eine spannende Parabel über Autoritarismus, Propaganda und das Verschwinden der Privatsphäre - und eine eindringliche Erzählung von den Anstrengungen, die wir unternehmen, um noch unter den widrigsten Umständen Liebe, Hoffnung und Menschlichkeit zu bewahren.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Prächtig amüsiert hat sich Rezensentin Marlen Hobrack bei der Lektüre von Michel Decars Kleinkünstler-Roman. Hauptfigur László Carassin leidet so offensichtlich an Selbstüberschätzung, dass er auf den Leser nur liebenswürdig wirken kann, meint Hobrack. Der nicht gerade erfolgreiche Kleinkünstler gewinnt zur Abwechslung 7.500 Euro und geht damit erstmal nach Bulgarien, um seinen Lebensabend dort zu verbringen - was mit der Summe ja kaum gelingen kann, spöttelt Hobrack. Decar schafft es, so Hobrack, in Zeiten der "massenmedialen Dauerbeschallung" in kurzweiliger Art und Weise einen sympathischen Dichter zu kreieren, der diesem Trend trotzt - und in seinem Scheitern nahbar wirkt. Außerdem mutet der Roman, lesen wir, an vielen Stellen so an, als würde nun eine höhere Handlung, etwa ein Krimi, beginnen, was genauso schnell wieder versandet. Decar gelingt somit eine perfekte Definition von Literatur selbst: "Nichts ist signifikant, alles ist überdeterminiert", schließt Hobrack.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2022Unsicher, aber frei
Ray Lorigas Roman "Kapitulation"
Der spanische Schriftsteller Ray Loriga hat eine Parabel geschrieben über einen sinnlosen Krieg, kollektive Manipulation und einen schleichenden Totalitarismus. Eine Parabel also, wie sie in jede Zeit passt, aber in die jetzige besonders gut. "Kapitulation" heißt diese bedrückende Geschichte eines Mannes, der zunächst fast naiv allen Verordnungen von oben folgt und schließlich durch seine Zweifel an dem neuen System zugrunde geht und alles verliert.
Drei große Kapitel hat das Gleichnis des 1967 geborenen Loriga, erzählt aus der Ich-Perspektive eines Mannes, der wie fast alle anderen Figuren ohne Namen auskommen muss. Als Nacherzählung gibt der Protagonist in kleineren Zwischenkapiteln alles aus seiner Perspektive wieder, auch die knappen Gespräche werden im gleichen ruhigen, manchmal derben, aber im Grunde sachlichen Ton nacherzählt. Höhepunkte der Handlung werden nur in Nebensätzen erwähnt.
Die drei Kapitel markieren die Lebensabschnitte des Ich-Erzählers antithetisch: Zunächst glaubt man dem Mann, dass die im ersten Kapitel dokumentierte Reise, die er auf sich nehmen muss, zu einem besseren Leben führen wird. Mit seiner Frau, dem Ziehsohn und den anderen Dorfbewohnern soll er sich wegen des Krieges in die "Durchsichtige Stadt" aufmachen. Doch im dritten Kapitel merkt der Leser zusammen mit dem Erzähler, dass das Leben außerhalb der Wände der neuen Stadt, obschon ärmer und unsicher, lebendiger und vor allem frei war.
Doch zunächst herrscht ein unerschütterliches Vertrauen des Protagonisten und seiner Frau in die Regierung, von der sie kaum etwas mitbekommen, weil niemand im Dorf Zugang zu Nachrichten hat. Seit mehr als zehn Jahren herrscht schon Krieg, doch allen ist unklar, wofür eigentlich gekämpft wird und wer der Feind ist. Wie in jeder guten Parabel bleiben Orte und Namen nur das und nicht mehr, was dazu führt, dass dem Leser der erzählte Krieg noch sinnloser erscheint.
Was der Mann zwar nur in Nebensätzen erwähnt, aber doch so häufig, dass man merkt, wie sehr es ihn beschäftigt, ist, dass seine zwei Söhne Pablo und Augusto (die einzigen Figuren mit Namen) Soldaten im Krieg sind. Von beiden haben er und seine Frau seit Monaten nichts mehr gehört.
Schon bei der Reise des ersten Kapitels wird klar, dass es Loriga in seiner Parabel auch wichtig ist, Klassenverhältnisse aufzuzeigen: Die "Herren des Wassers", die schon während des Krieges ihr Grundstück an der einzigen Quelle hatten, trieben stetig die Preise hoch und zwangen andere Dorfbewohner dazu, noch ihre letzten Diamanten gegen einen Kanister Wasser zu tauschen. Sie bestimmen auch, wer auf der Reise Wasser bekommt und wer zurückbleiben muss.
Obwohl der Auftakt des Romans eine Odyssee beschreibt, bei der die Dorfbewohner wie vorgeschrieben zur Durchsichtigen Stadt laufen, scheinen sie da noch selbstbestimmt. Konflikte werden, typisch menschlich, nach dem Prinzip des Stärkeren gelöst. Aber sie sind dem unpersönlichen Naturgesetz unterworfen: dem Gegenteil zum regulierten Leben in der Durchsichtigen Stadt. Dort gibt es nicht einmal Gerüche und schon gar keine Wände, Jobs werden ungefragt zugewiesen, sodass der Protagonist die stumpfsinnige Aufgabe bekommt, Fäkalien zur Herstellung der gläsernen Wände tagein, tagaus zu transportieren. Seine Frau, die in ihrem früheren Leben mehr Bildung genoss, darf Bibliothekarin werden.
Später werden die Zustände immer absurder; der Protagonist muss mitansehen, wie seine Frau es mit jemand anderem treibt, muss akzeptieren, dass es keine Regierung gibt, dass das System angeblich für alle gleich ist, es immer die gleiche Temperatur und Lichtflut gibt. Und während er als scheinbar Einziger nicht vollends zufrieden mit dieser total kontrollierten Situation ist, steigt die Spannung bei der Lektüre und die Verzweiflung des Buchhelden, der sich fragt, ob er kapitulieren soll. ANNA FLÖRCHINGER
Ray Loriga: "Kapitulation". Roman.
Aus dem Spanischen von Alexander Dobler. CulturBooks Verlag, Hamburg 2022. 200 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ray Lorigas Roman "Kapitulation"
Der spanische Schriftsteller Ray Loriga hat eine Parabel geschrieben über einen sinnlosen Krieg, kollektive Manipulation und einen schleichenden Totalitarismus. Eine Parabel also, wie sie in jede Zeit passt, aber in die jetzige besonders gut. "Kapitulation" heißt diese bedrückende Geschichte eines Mannes, der zunächst fast naiv allen Verordnungen von oben folgt und schließlich durch seine Zweifel an dem neuen System zugrunde geht und alles verliert.
Drei große Kapitel hat das Gleichnis des 1967 geborenen Loriga, erzählt aus der Ich-Perspektive eines Mannes, der wie fast alle anderen Figuren ohne Namen auskommen muss. Als Nacherzählung gibt der Protagonist in kleineren Zwischenkapiteln alles aus seiner Perspektive wieder, auch die knappen Gespräche werden im gleichen ruhigen, manchmal derben, aber im Grunde sachlichen Ton nacherzählt. Höhepunkte der Handlung werden nur in Nebensätzen erwähnt.
Die drei Kapitel markieren die Lebensabschnitte des Ich-Erzählers antithetisch: Zunächst glaubt man dem Mann, dass die im ersten Kapitel dokumentierte Reise, die er auf sich nehmen muss, zu einem besseren Leben führen wird. Mit seiner Frau, dem Ziehsohn und den anderen Dorfbewohnern soll er sich wegen des Krieges in die "Durchsichtige Stadt" aufmachen. Doch im dritten Kapitel merkt der Leser zusammen mit dem Erzähler, dass das Leben außerhalb der Wände der neuen Stadt, obschon ärmer und unsicher, lebendiger und vor allem frei war.
Doch zunächst herrscht ein unerschütterliches Vertrauen des Protagonisten und seiner Frau in die Regierung, von der sie kaum etwas mitbekommen, weil niemand im Dorf Zugang zu Nachrichten hat. Seit mehr als zehn Jahren herrscht schon Krieg, doch allen ist unklar, wofür eigentlich gekämpft wird und wer der Feind ist. Wie in jeder guten Parabel bleiben Orte und Namen nur das und nicht mehr, was dazu führt, dass dem Leser der erzählte Krieg noch sinnloser erscheint.
Was der Mann zwar nur in Nebensätzen erwähnt, aber doch so häufig, dass man merkt, wie sehr es ihn beschäftigt, ist, dass seine zwei Söhne Pablo und Augusto (die einzigen Figuren mit Namen) Soldaten im Krieg sind. Von beiden haben er und seine Frau seit Monaten nichts mehr gehört.
Schon bei der Reise des ersten Kapitels wird klar, dass es Loriga in seiner Parabel auch wichtig ist, Klassenverhältnisse aufzuzeigen: Die "Herren des Wassers", die schon während des Krieges ihr Grundstück an der einzigen Quelle hatten, trieben stetig die Preise hoch und zwangen andere Dorfbewohner dazu, noch ihre letzten Diamanten gegen einen Kanister Wasser zu tauschen. Sie bestimmen auch, wer auf der Reise Wasser bekommt und wer zurückbleiben muss.
Obwohl der Auftakt des Romans eine Odyssee beschreibt, bei der die Dorfbewohner wie vorgeschrieben zur Durchsichtigen Stadt laufen, scheinen sie da noch selbstbestimmt. Konflikte werden, typisch menschlich, nach dem Prinzip des Stärkeren gelöst. Aber sie sind dem unpersönlichen Naturgesetz unterworfen: dem Gegenteil zum regulierten Leben in der Durchsichtigen Stadt. Dort gibt es nicht einmal Gerüche und schon gar keine Wände, Jobs werden ungefragt zugewiesen, sodass der Protagonist die stumpfsinnige Aufgabe bekommt, Fäkalien zur Herstellung der gläsernen Wände tagein, tagaus zu transportieren. Seine Frau, die in ihrem früheren Leben mehr Bildung genoss, darf Bibliothekarin werden.
Später werden die Zustände immer absurder; der Protagonist muss mitansehen, wie seine Frau es mit jemand anderem treibt, muss akzeptieren, dass es keine Regierung gibt, dass das System angeblich für alle gleich ist, es immer die gleiche Temperatur und Lichtflut gibt. Und während er als scheinbar Einziger nicht vollends zufrieden mit dieser total kontrollierten Situation ist, steigt die Spannung bei der Lektüre und die Verzweiflung des Buchhelden, der sich fragt, ob er kapitulieren soll. ANNA FLÖRCHINGER
Ray Loriga: "Kapitulation". Roman.
Aus dem Spanischen von Alexander Dobler. CulturBooks Verlag, Hamburg 2022. 200 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main