Kleine Verhältnisse, große Geschichte: Zwei Nachbarsfamilien in Weitwinkelaufnahme
Kathrin Schmidt greift weit aus: Entlang der spannungsreichen Beziehungen der Familien Kapok und Schaechter erzählt sie von Krieg, Flucht, Teilung, Bespitzelung und neuer Freiheit - und von Liebe, Freundschaft, Schuld und Glück.
Die Siedlung Eintracht, einst direkt an der Berliner Mauer gelegen, hat ihre Abgeschiedenheit bewahrt. Jahrzehntelang hat Werner Kapok sein Elternhaus, in das seine Schwester Renate gezogen ist, gemieden. Stattdessen gründete er eine eigene Familie und verließ sie schnell wieder. Später gab er seine Professur auf und verschwand. Nun kehrt er zurück, und die Familiengeschichte holt ihn ein. Denn im Haus gegenüber wohnen immer noch die Schaechter-Schwestern Barbara und Claudia, mit denen er groß geworden ist und seine Sehnsüchte teilte. Dass sie ihn, jede für sich, in die Liebe einführten, haben sie einander bis heute verschwiegen. Als dann auch noch Werners verlorener Sohn auftaucht, kann nichts bleiben, wie es war.
Alte Geheimnisse, vergessene Leidenschaften, noch immer schwelende Konflikte müssen ans Licht. Kathrin Schmidt erzählt eine große Geschichte aus kleinen Verhältnissen, führt ihre Leser in abgelegene Gegenden, vergangene Zeiten und in die deutsche und europäische Gegenwart. Kunstvoll, mit Gespür fürs Detail, große Gefühle und niedere Instinkte.
Kathrin Schmidt greift weit aus: Entlang der spannungsreichen Beziehungen der Familien Kapok und Schaechter erzählt sie von Krieg, Flucht, Teilung, Bespitzelung und neuer Freiheit - und von Liebe, Freundschaft, Schuld und Glück.
Die Siedlung Eintracht, einst direkt an der Berliner Mauer gelegen, hat ihre Abgeschiedenheit bewahrt. Jahrzehntelang hat Werner Kapok sein Elternhaus, in das seine Schwester Renate gezogen ist, gemieden. Stattdessen gründete er eine eigene Familie und verließ sie schnell wieder. Später gab er seine Professur auf und verschwand. Nun kehrt er zurück, und die Familiengeschichte holt ihn ein. Denn im Haus gegenüber wohnen immer noch die Schaechter-Schwestern Barbara und Claudia, mit denen er groß geworden ist und seine Sehnsüchte teilte. Dass sie ihn, jede für sich, in die Liebe einführten, haben sie einander bis heute verschwiegen. Als dann auch noch Werners verlorener Sohn auftaucht, kann nichts bleiben, wie es war.
Alte Geheimnisse, vergessene Leidenschaften, noch immer schwelende Konflikte müssen ans Licht. Kathrin Schmidt erzählt eine große Geschichte aus kleinen Verhältnissen, führt ihre Leser in abgelegene Gegenden, vergangene Zeiten und in die deutsche und europäische Gegenwart. Kunstvoll, mit Gespür fürs Detail, große Gefühle und niedere Instinkte.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Kathrin Schmidts neuer Roman, der aus der Perspektive zweier Schwestern auf hundert Jahre Zeitgeschichte zurückblickt, erinnert Rezensentin Katrin Bettina Müller an Nino Haratischwilis "Acht Leben". Doch wo dort vor allem Mitgefühl herrscht, überzeugt Schmidt durch ihren distanzierten Blick auf das Geschehen, erklärt die Kritikerin. Sie wird zwar in den Bann gezogen durch die Geschichte um die beiden alleinstehenden fünfzigjährigen Schwestern, die zurückgezogen im Treptower Gartenhaus ihrer Familie leben, auf dem Dachboden alte Super-8-Filme finden und beginnen, das bisher verschwiegene Schicksal ihrer jüdischen Familie zu rekonstruieren. Doch nimmt die Rezenensondern auch die Möglichkeit, die Empfindungen der Figuren nur erahnen zu können, dankbar an. Gelegentlich mag das Verhältnis zwischen den Romanhelden und dem historischen Material ein wenig ächzen, einige Figuren bleiben bisweilen auch auf der Strecke, meint Müller. Wie Schmidt jedoch die Beziehung der beiden Schwestern und deren spätes Liebesglück knapp, aber doch vertraut schildert, versöhnt die Kritikerin schnell wieder mit diesem Roman.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.11.2016Strickende Zeitmaschine
Kathrin Schmidt folgt in„Kapoks Schwestern“ den Spuren zweier Familien
im 20. Jahrhundert und lässt sie über die Zufälle der Geschichte obsiegen
VON JÖRG MAGENAU
Die Kleingartenkolonie „Eintracht“ in Berlin-Treptow ist, wie alle Kleingartenkolonien, ein eher überschaubares Gelände. Früher verlief hier die Mauer, dahinter war der ferne Westen, das schränkte den Horizont zusätzlich ein. Und doch macht die Erzählerin Kathrin Schmidt in ihrem Roman „Kapoks Schwestern“ aus dieser Gegend ein Tor zur Welt. Wenn man mit ihr die Häuser der benachbarten Familien Kapok und Schaechter betritt, muss man sich auf eine lange und verwinkelte Reise durch das ganze 20. Jahrhundert gefasst machen. Die Gegenwart ist ja immer nur die dünne Haut des Augenblicks auf der Geschichte, oder wie Kathrin Schmidt das etwas kraftvoller formuliert: „Die Zeit ist eine Dampframme, der nichts widersteht.“ Die Frage ist – und die untersucht sie hartnäckig in allen ihren Büchern – was die einzelnen Menschen dieser „Dampframme“ entgegenzusetzen haben, ob sie von ihr nur plattgemacht werden oder ob sie die einwirkenden Kräfte auch beeinflussen können.
Ein Vierteljahrhundert ist zu Beginn des Romans seit der sogenannten Wende vergangen, die das Leben der ostdeutschen Protagonisten in zwei Hälfte teilt. An einem Augusttag des Jahres 2014 kehrt Werner Kapok in die Kleingartenkolonie zurück, in der er aufwuchs, und sieht aus dem Fenster die Schaechter-Schwestern von nebenan. Jetzt sind beide Ende fünfzig, immer noch ziemlich schick und „einen Tick über dem Horizont der alteingesessenen Siedlungsbewohner“ existierend. Er versucht zunächst, ihrem Blick auszuweichen, da er einst, in früher Jugend, erst mit der einen, dann mit der anderen etwas „zu laufen hatte“, und sie bei ihm und er bei ihnen die sexuelle Initiation erlebte. Dass Claudia, die ältere, schwanger wurde und an der folgenden Abtreibung im Lauf der Jahre immer schwerer zu tragen hatte, weiß er nicht. Aber er weiß, dass er womöglich etwas verpasst hat, als er in seiner Ratlosigkeit damals „die dicke Ditte“ heiratete.
Von dieser langsamen, aber doch heftiger werdenden Wiederbegegnung aus blendet Kathrin Schmidt zurück in die Familiengeschichten: Die Kapoks waren eher biedere Kommunisten mit, wie der Name schon sagt Kapo-Mentalität, die in der DDR eigentlich sogar für die Partei ein bisschen zu dumm gewesen sind. Vielleicht wäre es Werner gelungen, aus dieser geistigen Enge auszubrechen. Immerhin hatte er es 1990 zum Professor an der Humboldt-Universität geschafft, allerdings im Fach Marxismus, und da erlosch der Bedarf recht schnell. Ernüchtert und verunsichert zog er sich danach in ein ostdeutsches Provinznest zurück und beschloss, erst einmal verrückt zu werden und sich auszuklinken aus den Zeitläuften.
Die Schaechters waren eine vergleichsweise intellektuelle Familie. Ihre jüdische Herkunft ist den Schwestern lange nicht aufgefallen, so wie das in vielen jüdisch-kommunistischen Familien in der DDR gewesen ist. Wie prägend dann aber doch die familiären Zusammenhänge blieben, belegt das weitverzweigte Netz der Verwandtschaft, das bis nach Bosnien, nach Indien und Israel reicht. Man verliert als Leser gelegentlich den Überblick, darf sich aber mit einer Vielzahl überraschender Geschichten trösten.
Da ist zum Beispiel Lea, eine Tante der Schwestern, die als kleines Mädchen auf der Flucht der Großeltern in die Sowjetunion zurückgelassen werden musste und deren Spur sich dann verlor: Sie lebte in einer muslimischen Familie in Bosnien, und erst im hohen Alter kommt es zu einer Wiederbegegnung und zu ihrer Rückkehr nach Berlin, wo sie im Kreis der Familie stirbt und neben dem Bruder begraben wird, den sie nie mehr wiedersah. So triumphieren Familienbande auch da, wo sie ganz und gar zerrissen sind.
Dann taucht plötzlich ein ferner Verwandter in Indien auf und bietet den Schwestern (und der Erzählerin) Gelegenheit zu einer Reise nach Kalkutta, wo ihnen ein schwer verletztes Kind ins Taxi geworfen wird: Eine Fügung, ein Wink des Schicksals. Die Erzählerin oder vielmehr die „Dampframme Zeit“ kann schließlich alles. Und so lässt sie die ältere der Schwestern dann doch noch zu einem Kind kommen. Kathrin Schmidt kann solche Szenen lakonisch und rührend erzählen. So breit die Anlage des Romans, so knapp ist sie dann mit Worten. Da bewährt sich der Blick der studierten Psychologin, die aber als Erzählerin niemals vordergründig psychologisiert.
Schmidt verzichtet auf chronologische Ordnung und springt quer durch die Zeiten und Weltgegenden. Es ist ja immer alles gegenwärtig. Die Brüche, die dabei bewältigt werden müssen, sind jedoch gewaltig. Der erzählerische Bogen reicht vom Ersten Weltkrieg über den Nationalsozialismus, Verfolgung, Deportation, Flucht und sowjetisches Exil unter Stalin durch die DDR-Zeit hindurch bis in die Gegenwart. Der Roman ächzt gewaltig unter der Stofffülle, die er zu transportieren hat. Manchmal hat man das Gefühl, die Figuren sind nur dazu da, bestimmte historische Momente – Sarajevo 1914, Berlin 1933, Moskau 1939 und so weiter zu illustrieren, und manches ferne Familienmitglied hat dann rasch wieder seine erzählerische Schuldigkeit getan. Die Stasi spielt dann auch noch eine Rolle – ein Thema, das sich durch fast alle Romane von Kathrin Schmidt zieht. Diesmal ist es Werner Kapok, der sich einst als Zuträger verpflichtete, sich aber der jüngeren Schaechter-Schwester offenbarte, sodass sie die Berichte über sich der Einfachheit halber lieber gleich selber schrieb. Dennoch trägt er ein schlechtes Gewissen mit sich herum.
Der Familienroman ist kein ganz unproblematisches Genre. Er geht von der Prämisse aus, dass all das, was jeder einzelnen Figur historisch vorausging, prägend für sie ist, ob sie darum weiß oder nicht. „Kapoks Schwestern“ lotet dieses Spannungsverhältnis bis an seine Grenzen aus. Die Mutter der Schaechter-Schwestern häkelte gerne topflappenartige Kopfbedeckungen. Dass es sich dabei um Kippas handelte, war ihnen nie aufgefallen. Die Mutter häkelte motorisch und ohne Bewusstsein. Darin gibt sie das Muster ab, das auch für das Erzählen gilt, so wie Kathrin Schmidt es vorführt, wenn sie als Autorin gewissermaßen mit Zeitmaschen strickt. „Was die Zeit macht“, heißt es im Roman, „scheint sie planvoll zu tun, als liege auf ihren Knien ein schnittmustergleicher Lebensplan, nach dem sie einen jeden hierhin oder dorthin schiebt und Weichen stellt, die offenbar im Verborgenen bleiben.“
Diese verborgenen Zusammenhänge führen zu einer spannungsreichen Doppelbewegung des Erzählens, in dem die Figuren stets liebevoll aufgehoben sind und doch die Kraft und die Lebendigkeit besitzen, sie selbst zu sein. Daraus ergibt sich das Paradox, dass Kathrin Schmidt keine zeithistorische Erzählerin ist, obwohl ihre Bücher randvoll mit Historie sind. Sie schreibt keine DDR-Romane, sondern Bücher, die in der DDR spielen. Das ist ein Unterschied. Es geht doch immer vor allem um die einzelnen Menschen und um das Leben, die Liebe, die Lüste und das körperliche In-der-Welt-Sein, egal in welcher Epoche und in welchem System.
Es gibt hier keine Chronologie,
alles ist gleich gegenwärtig
Romane, die in der DDR spielen,
sind darum keine DDR-Romane
Kathrin Schmidt: Kapoks Schwestern. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2016. 448 Seiten,
22 Euro. E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kathrin Schmidt folgt in„Kapoks Schwestern“ den Spuren zweier Familien
im 20. Jahrhundert und lässt sie über die Zufälle der Geschichte obsiegen
VON JÖRG MAGENAU
Die Kleingartenkolonie „Eintracht“ in Berlin-Treptow ist, wie alle Kleingartenkolonien, ein eher überschaubares Gelände. Früher verlief hier die Mauer, dahinter war der ferne Westen, das schränkte den Horizont zusätzlich ein. Und doch macht die Erzählerin Kathrin Schmidt in ihrem Roman „Kapoks Schwestern“ aus dieser Gegend ein Tor zur Welt. Wenn man mit ihr die Häuser der benachbarten Familien Kapok und Schaechter betritt, muss man sich auf eine lange und verwinkelte Reise durch das ganze 20. Jahrhundert gefasst machen. Die Gegenwart ist ja immer nur die dünne Haut des Augenblicks auf der Geschichte, oder wie Kathrin Schmidt das etwas kraftvoller formuliert: „Die Zeit ist eine Dampframme, der nichts widersteht.“ Die Frage ist – und die untersucht sie hartnäckig in allen ihren Büchern – was die einzelnen Menschen dieser „Dampframme“ entgegenzusetzen haben, ob sie von ihr nur plattgemacht werden oder ob sie die einwirkenden Kräfte auch beeinflussen können.
Ein Vierteljahrhundert ist zu Beginn des Romans seit der sogenannten Wende vergangen, die das Leben der ostdeutschen Protagonisten in zwei Hälfte teilt. An einem Augusttag des Jahres 2014 kehrt Werner Kapok in die Kleingartenkolonie zurück, in der er aufwuchs, und sieht aus dem Fenster die Schaechter-Schwestern von nebenan. Jetzt sind beide Ende fünfzig, immer noch ziemlich schick und „einen Tick über dem Horizont der alteingesessenen Siedlungsbewohner“ existierend. Er versucht zunächst, ihrem Blick auszuweichen, da er einst, in früher Jugend, erst mit der einen, dann mit der anderen etwas „zu laufen hatte“, und sie bei ihm und er bei ihnen die sexuelle Initiation erlebte. Dass Claudia, die ältere, schwanger wurde und an der folgenden Abtreibung im Lauf der Jahre immer schwerer zu tragen hatte, weiß er nicht. Aber er weiß, dass er womöglich etwas verpasst hat, als er in seiner Ratlosigkeit damals „die dicke Ditte“ heiratete.
Von dieser langsamen, aber doch heftiger werdenden Wiederbegegnung aus blendet Kathrin Schmidt zurück in die Familiengeschichten: Die Kapoks waren eher biedere Kommunisten mit, wie der Name schon sagt Kapo-Mentalität, die in der DDR eigentlich sogar für die Partei ein bisschen zu dumm gewesen sind. Vielleicht wäre es Werner gelungen, aus dieser geistigen Enge auszubrechen. Immerhin hatte er es 1990 zum Professor an der Humboldt-Universität geschafft, allerdings im Fach Marxismus, und da erlosch der Bedarf recht schnell. Ernüchtert und verunsichert zog er sich danach in ein ostdeutsches Provinznest zurück und beschloss, erst einmal verrückt zu werden und sich auszuklinken aus den Zeitläuften.
Die Schaechters waren eine vergleichsweise intellektuelle Familie. Ihre jüdische Herkunft ist den Schwestern lange nicht aufgefallen, so wie das in vielen jüdisch-kommunistischen Familien in der DDR gewesen ist. Wie prägend dann aber doch die familiären Zusammenhänge blieben, belegt das weitverzweigte Netz der Verwandtschaft, das bis nach Bosnien, nach Indien und Israel reicht. Man verliert als Leser gelegentlich den Überblick, darf sich aber mit einer Vielzahl überraschender Geschichten trösten.
Da ist zum Beispiel Lea, eine Tante der Schwestern, die als kleines Mädchen auf der Flucht der Großeltern in die Sowjetunion zurückgelassen werden musste und deren Spur sich dann verlor: Sie lebte in einer muslimischen Familie in Bosnien, und erst im hohen Alter kommt es zu einer Wiederbegegnung und zu ihrer Rückkehr nach Berlin, wo sie im Kreis der Familie stirbt und neben dem Bruder begraben wird, den sie nie mehr wiedersah. So triumphieren Familienbande auch da, wo sie ganz und gar zerrissen sind.
Dann taucht plötzlich ein ferner Verwandter in Indien auf und bietet den Schwestern (und der Erzählerin) Gelegenheit zu einer Reise nach Kalkutta, wo ihnen ein schwer verletztes Kind ins Taxi geworfen wird: Eine Fügung, ein Wink des Schicksals. Die Erzählerin oder vielmehr die „Dampframme Zeit“ kann schließlich alles. Und so lässt sie die ältere der Schwestern dann doch noch zu einem Kind kommen. Kathrin Schmidt kann solche Szenen lakonisch und rührend erzählen. So breit die Anlage des Romans, so knapp ist sie dann mit Worten. Da bewährt sich der Blick der studierten Psychologin, die aber als Erzählerin niemals vordergründig psychologisiert.
Schmidt verzichtet auf chronologische Ordnung und springt quer durch die Zeiten und Weltgegenden. Es ist ja immer alles gegenwärtig. Die Brüche, die dabei bewältigt werden müssen, sind jedoch gewaltig. Der erzählerische Bogen reicht vom Ersten Weltkrieg über den Nationalsozialismus, Verfolgung, Deportation, Flucht und sowjetisches Exil unter Stalin durch die DDR-Zeit hindurch bis in die Gegenwart. Der Roman ächzt gewaltig unter der Stofffülle, die er zu transportieren hat. Manchmal hat man das Gefühl, die Figuren sind nur dazu da, bestimmte historische Momente – Sarajevo 1914, Berlin 1933, Moskau 1939 und so weiter zu illustrieren, und manches ferne Familienmitglied hat dann rasch wieder seine erzählerische Schuldigkeit getan. Die Stasi spielt dann auch noch eine Rolle – ein Thema, das sich durch fast alle Romane von Kathrin Schmidt zieht. Diesmal ist es Werner Kapok, der sich einst als Zuträger verpflichtete, sich aber der jüngeren Schaechter-Schwester offenbarte, sodass sie die Berichte über sich der Einfachheit halber lieber gleich selber schrieb. Dennoch trägt er ein schlechtes Gewissen mit sich herum.
Der Familienroman ist kein ganz unproblematisches Genre. Er geht von der Prämisse aus, dass all das, was jeder einzelnen Figur historisch vorausging, prägend für sie ist, ob sie darum weiß oder nicht. „Kapoks Schwestern“ lotet dieses Spannungsverhältnis bis an seine Grenzen aus. Die Mutter der Schaechter-Schwestern häkelte gerne topflappenartige Kopfbedeckungen. Dass es sich dabei um Kippas handelte, war ihnen nie aufgefallen. Die Mutter häkelte motorisch und ohne Bewusstsein. Darin gibt sie das Muster ab, das auch für das Erzählen gilt, so wie Kathrin Schmidt es vorführt, wenn sie als Autorin gewissermaßen mit Zeitmaschen strickt. „Was die Zeit macht“, heißt es im Roman, „scheint sie planvoll zu tun, als liege auf ihren Knien ein schnittmustergleicher Lebensplan, nach dem sie einen jeden hierhin oder dorthin schiebt und Weichen stellt, die offenbar im Verborgenen bleiben.“
Diese verborgenen Zusammenhänge führen zu einer spannungsreichen Doppelbewegung des Erzählens, in dem die Figuren stets liebevoll aufgehoben sind und doch die Kraft und die Lebendigkeit besitzen, sie selbst zu sein. Daraus ergibt sich das Paradox, dass Kathrin Schmidt keine zeithistorische Erzählerin ist, obwohl ihre Bücher randvoll mit Historie sind. Sie schreibt keine DDR-Romane, sondern Bücher, die in der DDR spielen. Das ist ein Unterschied. Es geht doch immer vor allem um die einzelnen Menschen und um das Leben, die Liebe, die Lüste und das körperliche In-der-Welt-Sein, egal in welcher Epoche und in welchem System.
Es gibt hier keine Chronologie,
alles ist gleich gegenwärtig
Romane, die in der DDR spielen,
sind darum keine DDR-Romane
Kathrin Schmidt: Kapoks Schwestern. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2016. 448 Seiten,
22 Euro. E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2016Flucht in die Arme einer Ersatzfrau
Kathrin Schmidt porträtiert in "Kapoks Schwestern" ein abgründiges deutsches Jahrhundert
Die Schaechter-Schwestern und der Kapok-Werner, die hatten sich zu DDR-Zeiten in der Kulisse einer Arbeitersiedlung zunächst beäugt und dann miteinander befasst. Das hatte die ein oder andere Verwicklung mit sich gebracht. Eine Abtreibung und auch eine politisch motivierte Trennung, denn Werner Kapok, der kurz vor der Wende in Berlin eine Professur für Zivilisationsforschung erhält, war Spitzel. Das hatte ihm die eine Schaechter-Schwester übelgenommen. Was folgte: die Flucht in die Arme einer Ersatzfrau samt Zeugung eines missratenen Sohns sowie die demütigende Erfahrung, nach der Wende akademisch den Anschluss verloren zu haben. Als Konsequenz folgte der Rückzug in die ostdeutsche Provinz, wo ihn die verlustig gegangene Kapok-Schwester am Ende des Romans aufsucht und der Liebe eine zweite Chance gibt. Soweit die Rahmenhandlung des neuen Romans von Kathrin Schmidt.
Nicht weniger als ein abgründiges deutsches Jahrhundert findet darin Platz. Die Schaechters nämlich, das wird schnell thematisiert, sind Juden. Und jüdisch zu sein sollte in der DDR aus klassenkämpferischen Erwägungen heraus keine Rolle spielen. Aber natürlich hat es auch in der DDR Antisemitismus gegeben. Der Vater von Werner Kapok, ein Proletarier, wie er im Parteibuche steht, nennt seinen Kollegen, den feingeistigen Joachim Schaechter, und seine Familie "jüdische Großkotze", womit Kathrin Schmidt nicht zum letzten Mal in diesem Roman das Klischee vom kunstsinnigen Juden bedient.
In "Kapoks Schwestern" schickt die Autorin nun die Ahnen der Schaechters von Wien aus nach Sarajevo auf die Spuren einer verlorengegangenen Schwester, vom Moskauer Exil in die frühe DDR, von Amerika nach Kalkutta und zurück ins wiedervereinigte Berlin. Mütterlicherseits wird das Schicksal der Familie Bokshorn verfolgt, väterlicherseits das der Schaechters beleuchtet. Dazwischen proletarisieren die Kapoks mit ihrem Alltagsantisemitismus. Kathrin Schmidt vernäht in dieser Gemengelage so viele tragische Lebenswege, dass man leicht die Übersicht verliert. Schon ertappt man sich dabei, mit dem Bleistift auf dem Buchrücken einen Stammbaum nach dem Vorbild der großen Russen anzufertigen.
Doch etwas unterscheidet diesen historischen Weitwurf, über dem leitmotivisch die Frage der jüdischen Identität schwebt, von den klassischen Vorbildern. Es fehlt ihm die sinnträchtige Auslassung, das retardierende Moment, kurz: das poetische Surplus, das den faktenreichen Stoff atmen und den Leser mehr fühlen als verstehen lässt. Bei Tolstoi kann das die halluzinatorische Widergabe eines Schlachtszenarios sein oder die etwas strapaziöse Schilderung der Schnepfenjagd. Bei Kathrin Schmidt gibt es weder das eine noch das andere. Der Erzähler regiert durch, denn der Stoff schreit nach seiner Bewältigung: die Rolle der Schaechters und Kopoks in den zwanziger Jahren, während der Nazidiktatur, im Exil, in der DDR, nach der Wiedervereinigung. Die Autorin haspelt ihr Erzählmaterial mit beeindruckender Beflissenheit ab, und man hätte ihr entweder raten müssen, es auf die doppelte Länge auszuschmücken oder selektiver damit zu verfahren. Die Schaechter-Schwestern lassen einen bei allem, was sie zu berichten wissen, seltsam kalt.
Eine solche Entwicklung verwundert, denn Kathrin Schmidt begann ihre Autorenlaufbahn als Lyrikerin. Ihr Stil wurde früh mit dem Magischen Realismus in Verbindung gebracht. Noch der buchpreisgekrönte Roman "Du stirbst nicht" von 2009, der von einem autobiographisch grundierten Hirnschlagschicksal berichtet, zeichnet sich durch eindringliche Sprachbilder und Originalität aus. Von all dem ist in "Kapoks Schwestern" nichts zu merken. Kathrin Schmidt ist konventionell geworden. Konventionell in der Puzzlehaftigkeit, mit der sie über Generationen hinweg das Organigramm zweier Familien entblättert. Konventionell aber vor allem sprachlich, will heißen: Gediegenes Aberzählen geht zu Ungunsten von Experimenten. Gelungen sind vor allem die Passagen, die im historischen Horizont der Autorin selbst angelegt sind. Die Leute arbeiten im Roman vor der Wende als Näherinnen des VEB Herrenbekleidung Fortschritt, in volkseigenen Betrieben wie dem Transformatorenwerk, als Korrespondenten des "Zentralorgans" oder im Konsum an der Kasse. Später dann ändern sich die Jobs.
Das Bezirksamt Marzahn wird zum Schauplatz einer sich anbahnenden Liebesgeschichte, in der die Identitätsfrage sich noch einmal in aller Aufgeladenheit stellt. Am Ende einer Tour de Force durch den Morast des zwanzigsten Jahrhunderts hat man allerdings fast vergessen, dass dieser Roman ja auch die Gegenwart verhandeln will. Jüdisch zu sein nach 45. Jüdisch zu sein in der DDR, wo es ja gerade darum gegangen war, es nicht weiter thematisieren zu sollen. Eine wunderbare Schlusspointe entschädigt für Schmidts Weitschweifigkeit.
Der Besuch bei Verwandten in Kalkutta bringt der einen Schaechterin das abgetriebene Kind in Gestalt einer indischen Vollwaisen zurück. Fern jeder Genealogie wird dieses Kind die Familientradition fortsetzen - nämlich durch den Besuch einer jüdischen Schule. So wird erstens eine runde Sache aus dieser Familienchronik und zweitens die Frage nach dem jüdischen Erbe auf gewitzte Weise vom Blut getrennt. Solchem Erfindungsreichtum hätte die Autorin öfter nachgehen sollen, um ihren Familienroman mit einem Denkstil zu veredeln, der ihn von so vielen anderen unterscheidbar gemacht hätte.
KATHARINA TEUTSCH
Kathrin Schmidt: "Kapoks Schwestern". Roman.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2016. 448 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kathrin Schmidt porträtiert in "Kapoks Schwestern" ein abgründiges deutsches Jahrhundert
Die Schaechter-Schwestern und der Kapok-Werner, die hatten sich zu DDR-Zeiten in der Kulisse einer Arbeitersiedlung zunächst beäugt und dann miteinander befasst. Das hatte die ein oder andere Verwicklung mit sich gebracht. Eine Abtreibung und auch eine politisch motivierte Trennung, denn Werner Kapok, der kurz vor der Wende in Berlin eine Professur für Zivilisationsforschung erhält, war Spitzel. Das hatte ihm die eine Schaechter-Schwester übelgenommen. Was folgte: die Flucht in die Arme einer Ersatzfrau samt Zeugung eines missratenen Sohns sowie die demütigende Erfahrung, nach der Wende akademisch den Anschluss verloren zu haben. Als Konsequenz folgte der Rückzug in die ostdeutsche Provinz, wo ihn die verlustig gegangene Kapok-Schwester am Ende des Romans aufsucht und der Liebe eine zweite Chance gibt. Soweit die Rahmenhandlung des neuen Romans von Kathrin Schmidt.
Nicht weniger als ein abgründiges deutsches Jahrhundert findet darin Platz. Die Schaechters nämlich, das wird schnell thematisiert, sind Juden. Und jüdisch zu sein sollte in der DDR aus klassenkämpferischen Erwägungen heraus keine Rolle spielen. Aber natürlich hat es auch in der DDR Antisemitismus gegeben. Der Vater von Werner Kapok, ein Proletarier, wie er im Parteibuche steht, nennt seinen Kollegen, den feingeistigen Joachim Schaechter, und seine Familie "jüdische Großkotze", womit Kathrin Schmidt nicht zum letzten Mal in diesem Roman das Klischee vom kunstsinnigen Juden bedient.
In "Kapoks Schwestern" schickt die Autorin nun die Ahnen der Schaechters von Wien aus nach Sarajevo auf die Spuren einer verlorengegangenen Schwester, vom Moskauer Exil in die frühe DDR, von Amerika nach Kalkutta und zurück ins wiedervereinigte Berlin. Mütterlicherseits wird das Schicksal der Familie Bokshorn verfolgt, väterlicherseits das der Schaechters beleuchtet. Dazwischen proletarisieren die Kapoks mit ihrem Alltagsantisemitismus. Kathrin Schmidt vernäht in dieser Gemengelage so viele tragische Lebenswege, dass man leicht die Übersicht verliert. Schon ertappt man sich dabei, mit dem Bleistift auf dem Buchrücken einen Stammbaum nach dem Vorbild der großen Russen anzufertigen.
Doch etwas unterscheidet diesen historischen Weitwurf, über dem leitmotivisch die Frage der jüdischen Identität schwebt, von den klassischen Vorbildern. Es fehlt ihm die sinnträchtige Auslassung, das retardierende Moment, kurz: das poetische Surplus, das den faktenreichen Stoff atmen und den Leser mehr fühlen als verstehen lässt. Bei Tolstoi kann das die halluzinatorische Widergabe eines Schlachtszenarios sein oder die etwas strapaziöse Schilderung der Schnepfenjagd. Bei Kathrin Schmidt gibt es weder das eine noch das andere. Der Erzähler regiert durch, denn der Stoff schreit nach seiner Bewältigung: die Rolle der Schaechters und Kopoks in den zwanziger Jahren, während der Nazidiktatur, im Exil, in der DDR, nach der Wiedervereinigung. Die Autorin haspelt ihr Erzählmaterial mit beeindruckender Beflissenheit ab, und man hätte ihr entweder raten müssen, es auf die doppelte Länge auszuschmücken oder selektiver damit zu verfahren. Die Schaechter-Schwestern lassen einen bei allem, was sie zu berichten wissen, seltsam kalt.
Eine solche Entwicklung verwundert, denn Kathrin Schmidt begann ihre Autorenlaufbahn als Lyrikerin. Ihr Stil wurde früh mit dem Magischen Realismus in Verbindung gebracht. Noch der buchpreisgekrönte Roman "Du stirbst nicht" von 2009, der von einem autobiographisch grundierten Hirnschlagschicksal berichtet, zeichnet sich durch eindringliche Sprachbilder und Originalität aus. Von all dem ist in "Kapoks Schwestern" nichts zu merken. Kathrin Schmidt ist konventionell geworden. Konventionell in der Puzzlehaftigkeit, mit der sie über Generationen hinweg das Organigramm zweier Familien entblättert. Konventionell aber vor allem sprachlich, will heißen: Gediegenes Aberzählen geht zu Ungunsten von Experimenten. Gelungen sind vor allem die Passagen, die im historischen Horizont der Autorin selbst angelegt sind. Die Leute arbeiten im Roman vor der Wende als Näherinnen des VEB Herrenbekleidung Fortschritt, in volkseigenen Betrieben wie dem Transformatorenwerk, als Korrespondenten des "Zentralorgans" oder im Konsum an der Kasse. Später dann ändern sich die Jobs.
Das Bezirksamt Marzahn wird zum Schauplatz einer sich anbahnenden Liebesgeschichte, in der die Identitätsfrage sich noch einmal in aller Aufgeladenheit stellt. Am Ende einer Tour de Force durch den Morast des zwanzigsten Jahrhunderts hat man allerdings fast vergessen, dass dieser Roman ja auch die Gegenwart verhandeln will. Jüdisch zu sein nach 45. Jüdisch zu sein in der DDR, wo es ja gerade darum gegangen war, es nicht weiter thematisieren zu sollen. Eine wunderbare Schlusspointe entschädigt für Schmidts Weitschweifigkeit.
Der Besuch bei Verwandten in Kalkutta bringt der einen Schaechterin das abgetriebene Kind in Gestalt einer indischen Vollwaisen zurück. Fern jeder Genealogie wird dieses Kind die Familientradition fortsetzen - nämlich durch den Besuch einer jüdischen Schule. So wird erstens eine runde Sache aus dieser Familienchronik und zweitens die Frage nach dem jüdischen Erbe auf gewitzte Weise vom Blut getrennt. Solchem Erfindungsreichtum hätte die Autorin öfter nachgehen sollen, um ihren Familienroman mit einem Denkstil zu veredeln, der ihn von so vielen anderen unterscheidbar gemacht hätte.
KATHARINA TEUTSCH
Kathrin Schmidt: "Kapoks Schwestern". Roman.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2016. 448 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Kunstvoll, mit Gespür fürs Detail, große Gefühle und niedere Instinkte.« Deutschlandfunk