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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2010

Fremdporträt eines Reporters
Demontage einer Ikone: Eine Biographie über Ryszard Kapuscinski, deren Erscheinen die Witwe verhindern wollte, sorgt in Polen für Aufregung

Über Mangel an kommerziellem Erfolg kann sich der Warschauer Verlag Swiat Ksiazi auch so nicht beklagen. Wenn aber am morgigen Mittwoch jenes Buch auf den Markt kommt, das seit Tagen für eine heiße Debatte in den Medien sorgt, wird er das Wort "Wirtschaftskrise" wohl endgültig aus seinem Vokabular streichen können. Es handelt sich um eine sechshundert Seiten starke Biographie über den vor drei Jahren verstorbenen "Reporter des Jahrhunderts" Ryszard Kapuscinski, die gleich aus mehreren Gründen als explosiver Lesestoff gilt (F.A.Z. vom 1. März).

Der Autor, Artur Domoslawski, ein dreiundvierzigjähriger Journalist der "Gazeta Wyborcza", hat sein Buch "Kapuscinski non-fiction" genannt und macht aus dem Titel ein Programm: Kaum einer der Mythen, die sich zu Lebzeiten um den "polnischen Reporter des Jahrhunderts" rankten, hat für ihn Bestand. So wirft er Kapuscinski erstens vor, dem beschriebenen Geschehen oft gar nicht so nahe gewesen zu sein, wie er gern behauptete. Vierzig Jahre lang durchquerte Kapuscinski alle Kontinente, um den Funktionsmechanismen von Imperien und Diktaturen nachzu spüren, aber auch, so seine häufige Selbstauskunft, weil er nur über das schreiben könne, was er selbst erlebt und gesehen habe. Kaum ein Krisenherd, ein von Bürgerkrieg, Rebellion, Umsturz erschüttertes Land, vorzugsweise der Dritten Welt, wo Kapuscinski nicht sofort zur Stelle gewesen wäre - oft unter dramatischen Umständen, mehrmals unter Lebensgefahr. Nun aber behauptet sein Biograph, viele dieser Erlebnisse seien frei erfunden. So habe Kapuscinski lange nicht alle Berühmtheiten, deren Bekanntheit er sich rühmte, wirklich getroffen (etwa Che Guevara), und auch seine legendären Beinahe-Erschießungen seien größtenteils seiner Phantasie entsprungen.

Des Weiteren schreibt Domoslawski, Kapuscinski sei mit Fakten sehr willkürlich umgegangen, sprich: seine Bücher würden eher in die Kategorie Literatur als Reportage passen. Dieser Vorwurf verwundert ganz besonders, wurde doch Kapuscinski zu Lebzeiten als Meister der literarischen Reportage, also der Verbindung beider Genres, gefeiert und für seine Fähigkeit, konkreten Realitäten den Charakter überzeitlicher Modellsituationen zu verleihen, bewundert. Gerade in dem von Domoslawski besonders kritisierten "König der Könige", einer brillanten Analyse der Zustände am äthiopischen Hofe, wurden überdeutliche Parallelen zu den Gesetzmäßigkeiten des Kommunismus und damit zu der politischen Situation im damaligen Polen erkannt, und es lag für jeden Rezensenten auf der Hand, dass dies ausschließlich an Kapuscinskis willkürlichem Umgang mit den Fakten und an seiner meisterlichen Beherrschung der Sprache lag.

Mit ähnlichem Hang zur Nonchalance, so Domoslawskis dritter Vorwurf, habe der Starreporter autobiographische Auskünfte gegeben. So habe er behauptet, sein Vater wäre 1940 beinahe in einen jener berüchtigten Gefangenentransporte geraten, die polnische Offiziere in die Exekutionsstätte Katyn brachten, dabei sei er in Wirklichkeit niemals in sowjetischer Gefangenschaft gewesen. Vor allem aber kritisiert Domoslawski die politische Haltung seines einstigen Mentors. Kapuscinski, der sich als reifer Mann gern als Gegner des Regimes inszeniert und in "Solidarnosc"-Zeiten an der Seite streikender Arbeiter in Danzig postiert habe, sei in seiner Jugend ein überzeugter Kommunist gewesen, habe 1975 in Angola mit der Waffe in der Hand die kommunistische Gruppierung MPLA unterstützt und habe sich schließlich als Informant des polnischen Geheimdienstes (SB) in die Pflicht nehmen lassen. Letzteres wird von den polnischen Medien nur deshalb nicht als größte Sensation der Biographie gewertet, weil es eine Tatsache ist, die bereits kurz nach Kapuscinskis Tod bekannt wurde, und es dürfte nicht zuletzt an dessen enormer Beliebtheit liegen, dass sie schon damals, anders etwa als im Falle des Moralapostels Andrzej Szczypiorski, nur auf mäßige Empörung stieß.

So scheint man sich auch jetzt stärker für Domoslawskis vierte Enthüllung zu interessieren, nämlich für Kapuscinskis Privatleben: etwa das problematische Verhältnis zu seiner Tochter oder für sein Liebesleben, das sich keineswegs auf seine Frau Alicja, eine Ärztin, mit der er jahrzehntelang verheiratet war, beschränkte. Es sind Themen, die man, wie ein Journalist es formulierte, in Polen immer noch nicht gewohnt sei, öffentlich abzuhandeln, und möglicherweise ist das, neben der Tatsache, dass es sich um eine Ikone der polnischen Kultur handelt, überhaupt einer der Hauptgründe für die ganze Aufregung. Nicht, dass Kapuscinskis Leben bis jetzt ein weißes Blatt gewesen wäre, im Gegenteil. Selbstauskünfte jeglicher Art waren schon immer Bestandteil der vielen Interviews, die er im Laufe seiner langen Schriftstellerkarriere gab. In den letzten Lebensjahren war er sogar besonders mitteilsam, schrieb er doch immer neue Bände seines "Lapidariums", in dem sich Ereignisfetzen mit Reflexionen über Erlebtes und Gelesenes vermischten, und legte seinen Bericht "Meine Reisen mit Herodot" vor, eine Hommage an den altgriechischen "Reporterkollegen", die aber auch Erinnerungen an die eigenen journalistischen Anfänge enthielt. Außerdem autorisierte er einen Band mit dem Titel "Selbstporträt eines Reporters", in dessen fünf Teilen sich jeweils thematisch zusammenhängende Zitate aus seinen zahllosen Interviews aneinanderreihten. So konnte der Leser in komprimierter Form nachlesen, was er schon immer über den Menschen und Schriftsteller Kapuscinski hatte wissen wollen: über seine Kindheit, seine Kriegserlebnisse, den Beginn seiner Literatenlaufbahn, die Höhen und Tiefen des Reporterdaseins oder die Werkstatt eines Autors, der mit Gattungen und Stilen wie kaum ein anderer zu jonglieren wusste.

Nun soll er erfahren, dass diese Jonglierkunst sich auch auf Fakten bezog, und diese Aussicht scheint Alicja Kapuscinska besonders weh zu tun. Mit allen Mitteln hat die Witwe des Autors versucht, das Erscheinen des Buches zu verhindern. Dafür gewann sie einige prominente Verbündete, allen voran Wladyslaw Bartoszewski, der Domoslawskis Biographie allen Ernstes in der Nähe der "Bordellführer" sieht, und Jerzy Illg, den Programmleiter des Verlags Znak, der die Biographie ursprünglich publizieren wollte, sich dann aber energisch davon distanzierte. Schließlich zog Alicja Kapuscinska vor Gericht, um mit einer einstweiligen Verfügung das Erscheinen zu verhindern - alles umsonst.

Der Urheber des ganzen Wirbels hingegen bleibt gelassen: Er habe nur zeigen wollen, dass die Wahrheit um den Mythos Ryszard Kapuscinski recht kompliziert sei, nämlich dass er, so Domoslawski wörtlich, "nicht nur eine Reporterikone, sondern auch ein Vollblut-Kerl war, der in seinem Leben verschiedene politische, persönliche und ideelle Kurven nehmen musste". Er halte ihn indes nach wie vor für seinen Meister - eine Meinung, der sich auch nach dem Erscheinen der Biographie gewiss noch viele anschließen werden.

MARTA KIJOWSKA

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