"Im Oktober sah ich zum ersten Mal das Schwarze Meer." So beginnt diese ungewöhnliche Erkundung der Krim, jene Halbinsel zwischen Asien und Europa, zwischen antiker Größe und romantischem Klischee, zwischen Armut und Prunk. Gemeinsam mit dem schottischen Übersetzer und Schriftsteller Martin Chalmers unternahm Esther Kinsky im Oktober 2013 eine Fahrt in diese Zwischenwelt, die für den Leser durch ihren Blick und dank ihrer außergewöhnlichen Wahrnehmungs- und Beschreibungsfähigkeit unmittelbar erlebbar wird. Raue Winde, klappernde Fenster, streunende Pferde und grölende Betrunkene: Wir befi nden uns in einer fremden Natur und sehen uns einer fremden Kultur ausgesetzt. Die zweite Stimme in diesem virtuosen Landschaftsbuch wird bestimmt von Chalmers ganz anders geartetem Erkenntnisinteresse: Woher kommen wir, wohin gehen wir? Seine nachdenklichen historischen Tiefenbohrungen ergänzen Kinskys Ton und fügen das Buch zu einem sprachlich prägnanten und atmosphärisch dichten Ganzen.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Tobias Lehmkuhl liest die lakonischen Beobachtungen Esther Kinskys und Martin Chalmers' vom Schwarzen Meer, aus Kiew und von der Krim mit Gewinn. So unwirklich viele der beschriebenen Szenen dem Rezensenten auch erscheinen, so nüchtern und frei von jeder Nostalgie werden sie ihm präsentiert. Die den Texten zugesellte historische Stimme des Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Krim weilenden britischen Diplomaten Lawrence Oliphant hält Lehmkuhl in ihrer Farbigkeit und Kurzweiligkeit allerdings für eine bereichernde Ergänzung des Bandes.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.01.2016Mitschrift
der Landschaft
„Karadag Oktober 13“ – Esther
Kinsky nähert sich der Krim
Einst suchten Anton Tschechow, Marina Zwetajewa oder Ossip Mandelstam an den Ufern des Schwarzen Meeres Erholung und Inspiration, inzwischen sind sie selbst Teil seiner Mythologie. Doch vom antiken Tauris, von edler Größe oder stiller Schönheit ist heute nichts mehr zu spüren. Schon beim Warten auf den Abflug nach Simferopol drängen sich am Kiewer Flughafen, schreibt Esther Kinsky, „all die Ähnlichkeiten auf, die ich früher zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten festgestellt hatte: die Trostlosigkeit und Verwahrlosung öffentlichen Raums, die Grobheit der Angestellten, die Fettleibigkeit der Passagiere, die Vorliebe für ausgebeulte Sportkleidung oder gülden glitzernde Kitschaufmachung, die Selbstverständlichkeit, mit der man überallhin flog, anstatt mit der Eisenbahn zu fahren.“
Auf der Krim selbst wird es dann nicht besser: Der Kurort mit dem unwahrscheinlichen Namen Kurortne, in dem Kinsky mit ihrem Lebensgefährten Martin Chalmers eine Pension bezogen hat, wirkt wie ausgestorben. Kinder oder Jugendliche sind nirgends zusehen, die wenigen Erwachsenen schweigen sich aus und gehen undurchschaubaren Beschäftigungen nach. Allzeit präsent sind nur die Tiere: eine Herde Pferde, die frei herumläuft, eine ganze Horde Hunde, die von einer Versehrten versorgt werden, all die streunenden Katzen.
Und dann ist da noch der Karadag, der Schwarze Berg, ein an dieser Stelle der Küste die Landschaft dominierendes Massiv. Einmal nehmen Kinsky und Chalmers an einer Bergtour ins Massiv teil, lassen sich vom Führer in Militäruniform sagen, was sie zu fotografieren haben und was nicht, und wenn sie aus dem Glied auszuscheren drohen, zückt der Mann die Trillerpfeife, um die Übeltäter im wahrsten Sinne zurückzupfeifen.
Unwirkliche Szenen sind das, die die beiden zuweilen erleben, an Ereignishaftigkeit allerdings ist diesem Bericht keineswegs gelegen. Wie schon in ihren viel gelobten Büchern „Banatsko“ und „Am Fluss“ geht es Kinsky vielmehr um eine Mitschrift der Landschaft, darum, die Dinge vorbehaltlos zu betrachten: „Man blickt, man sieht, man schreibt etwas auf.“
So mögen es die großen Literaten gewesen sein, deren Zauber die Reisenden auf die Krim gelockt hat, vor Ort allerdings haben sie jede Bedeutung verloren; „Karadag Oktober 13“ kommt ohne nostalgische Reminiszenzen aus. Ihren Aufzeichnungen und denen ihres Begleiters – Chalmers ist kurz nach der Reise plötzlich verstorben – hat die Autorin eine ganz anders geartete historische Stimme zur Seite gestellt: die des britischen Diplomaten Lawrence Oliphant, der die Krim kurz vor Ausbruch des Krimkriegs Mitte des 19. Jahrhunderts bereiste. Dessen farbige, kurzweilige Erzählweise korrespondiert nicht nur wunderbar mit den lakonischen Beobachtungen Kinskys und Chalmers. Sein hierzulande bislang unbekannter Bericht von den „Russian Shores of the Black Sea“ lässt zudem ahnen, dass bei allem politischen und poetischen Zugriffsversuchen die weithin leere, unbestimmte Landschaft auch in Zukunft eine Art uneinholbarer Offenheit bewahren wird: „Die einzigen Erhebungen, die ich in der flachen Steppe beobachten konnte, bestanden aus Haufen von Wassermelonen. Nur wer eine längere Reise über Steppenland hinter sich gebracht hat, wird nachvollziehen können, was wir empfanden, als wir endlich die schönen gezackten Umrisse ferner Berge gegen den roten Abendhimmel erblickten; wir begrüßten sie erfreut ob der Aussichten, die sie verhießen: zum einen auf den Abschied von unserem derzeitigen Fortbewegungsmittel, zum anderen auf wahrhaft aufregende Landschaften, die nur darauf warteten, von uns erkundet zu werden.“
TOBIAS LEHMKUHL
Esther Kinsky, Martin Chalmers: Karadag Oktober 13. Aufzeichnungen von der kalten Krim. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2015. 220 S., 19,90 Euro.
Diese Aufzeichnungen kommen
ohne falsche Reise-Nostalgie aus
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der Landschaft
„Karadag Oktober 13“ – Esther
Kinsky nähert sich der Krim
Einst suchten Anton Tschechow, Marina Zwetajewa oder Ossip Mandelstam an den Ufern des Schwarzen Meeres Erholung und Inspiration, inzwischen sind sie selbst Teil seiner Mythologie. Doch vom antiken Tauris, von edler Größe oder stiller Schönheit ist heute nichts mehr zu spüren. Schon beim Warten auf den Abflug nach Simferopol drängen sich am Kiewer Flughafen, schreibt Esther Kinsky, „all die Ähnlichkeiten auf, die ich früher zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten festgestellt hatte: die Trostlosigkeit und Verwahrlosung öffentlichen Raums, die Grobheit der Angestellten, die Fettleibigkeit der Passagiere, die Vorliebe für ausgebeulte Sportkleidung oder gülden glitzernde Kitschaufmachung, die Selbstverständlichkeit, mit der man überallhin flog, anstatt mit der Eisenbahn zu fahren.“
Auf der Krim selbst wird es dann nicht besser: Der Kurort mit dem unwahrscheinlichen Namen Kurortne, in dem Kinsky mit ihrem Lebensgefährten Martin Chalmers eine Pension bezogen hat, wirkt wie ausgestorben. Kinder oder Jugendliche sind nirgends zusehen, die wenigen Erwachsenen schweigen sich aus und gehen undurchschaubaren Beschäftigungen nach. Allzeit präsent sind nur die Tiere: eine Herde Pferde, die frei herumläuft, eine ganze Horde Hunde, die von einer Versehrten versorgt werden, all die streunenden Katzen.
Und dann ist da noch der Karadag, der Schwarze Berg, ein an dieser Stelle der Küste die Landschaft dominierendes Massiv. Einmal nehmen Kinsky und Chalmers an einer Bergtour ins Massiv teil, lassen sich vom Führer in Militäruniform sagen, was sie zu fotografieren haben und was nicht, und wenn sie aus dem Glied auszuscheren drohen, zückt der Mann die Trillerpfeife, um die Übeltäter im wahrsten Sinne zurückzupfeifen.
Unwirkliche Szenen sind das, die die beiden zuweilen erleben, an Ereignishaftigkeit allerdings ist diesem Bericht keineswegs gelegen. Wie schon in ihren viel gelobten Büchern „Banatsko“ und „Am Fluss“ geht es Kinsky vielmehr um eine Mitschrift der Landschaft, darum, die Dinge vorbehaltlos zu betrachten: „Man blickt, man sieht, man schreibt etwas auf.“
So mögen es die großen Literaten gewesen sein, deren Zauber die Reisenden auf die Krim gelockt hat, vor Ort allerdings haben sie jede Bedeutung verloren; „Karadag Oktober 13“ kommt ohne nostalgische Reminiszenzen aus. Ihren Aufzeichnungen und denen ihres Begleiters – Chalmers ist kurz nach der Reise plötzlich verstorben – hat die Autorin eine ganz anders geartete historische Stimme zur Seite gestellt: die des britischen Diplomaten Lawrence Oliphant, der die Krim kurz vor Ausbruch des Krimkriegs Mitte des 19. Jahrhunderts bereiste. Dessen farbige, kurzweilige Erzählweise korrespondiert nicht nur wunderbar mit den lakonischen Beobachtungen Kinskys und Chalmers. Sein hierzulande bislang unbekannter Bericht von den „Russian Shores of the Black Sea“ lässt zudem ahnen, dass bei allem politischen und poetischen Zugriffsversuchen die weithin leere, unbestimmte Landschaft auch in Zukunft eine Art uneinholbarer Offenheit bewahren wird: „Die einzigen Erhebungen, die ich in der flachen Steppe beobachten konnte, bestanden aus Haufen von Wassermelonen. Nur wer eine längere Reise über Steppenland hinter sich gebracht hat, wird nachvollziehen können, was wir empfanden, als wir endlich die schönen gezackten Umrisse ferner Berge gegen den roten Abendhimmel erblickten; wir begrüßten sie erfreut ob der Aussichten, die sie verhießen: zum einen auf den Abschied von unserem derzeitigen Fortbewegungsmittel, zum anderen auf wahrhaft aufregende Landschaften, die nur darauf warteten, von uns erkundet zu werden.“
TOBIAS LEHMKUHL
Esther Kinsky, Martin Chalmers: Karadag Oktober 13. Aufzeichnungen von der kalten Krim. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2015. 220 S., 19,90 Euro.
Diese Aufzeichnungen kommen
ohne falsche Reise-Nostalgie aus
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»Leider ist dieses Buch das Vermächtnis Martin Chalmers. Nach seinem Tod hat Esther Kinsky seine Textfragmente zusammengestellt, sie mit ihren eigenen kombiniert und so ein besonderes Buch zweier Reisender über ein besonderes Stück Welt geschaffen.« - Stefanie Hetze, Danteperlen II, März/Mai 2016 Danteperlenbroschüre 20160301