In den 1890er-Jahren begann der Berliner Künstler, Bildhauer und Dozent Karl Blossfeldt mit dem Fotografieren von Pflanzen, Samen und anderen Naturmaterialien, um seinen Schülern in der Natur vorkommende Muster und Formen zu zeigen. Seine Nahaufnahmen kleinster Pflanzenteile, die er bis zu 30 Mal vergrösserte, überraschen durch ihr geometrisches und skulpturales Erscheinungsbild. Blossfeldts Fotosammlung wurde erstmals 1928 unter dem Titel Urformen der Kunst veröffentlicht und war eine Sensation. Die Publikation wurde zu einem internationalen Bestseller und bleibt bis heute eines der bedeutendsten Fotobücher des 20. Jahrhunderts.Karl Blossfeldt: Variationen ist die erste ausführliche Monografie, die sich ganz der Rezeption von Blossfeldts Werk widmet. Anhand von unveröffentlichten Materialien analysiert Ulrike Meyer Stump die Vervielfältigung von Blossfeldts Fotografien in Lehrmitteln, Musterbüchern, Kunstbänden und in der illustrierten Presse. In sechs Kapiteln zeichnet die reich bebilderten Studie die Wege nach, die Blossfeldts legendäre Pflanzenmotive von 1890 bis 1945 genommen haben - als Präparate, Illustrationen, Analoga, Modelle und Abstraktionen. Thematische Ausflüge in die Gegenwart illustrieren die Wiederentdeckung von Blossfeldts Motiven in Design und Architektur der letzten zwei Jahrzehnte und gewähren eine zeitgenössische Perspektive auf den berühmten deutschen Fotografen.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Stanislaus von Moos vertieft sich in das Werk des Fotografen und Bildhauers Karl Blossfeldt mit Ulrike Meyers Monografie. Exemplarisch findet er das Buch in seiner Gestaltung, das Werk und Wirkungsgeschichte Blossfeldts nachgeht, Kollaborationen (etwa mit Moritz Meurer) aufzeigt und technische Prämissen und künstlerische Vorbilder erkundet. Am spannendsten erscheint dem Rezensenten die Lektüre, wenn die Autorin der Rezeption von Blossfeldts pflanzlichen "Urformen" nach 1928 nachgeht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.01.2021Bilder ohne Eigenschaften
Vermittler zwischen Kunst und Natur: Ulrike Meyer Stump studiert Karl Blossfeldts Pflanzenfotografien, Judith Elisabeth Weiss bettet deren Rezeption in eine zweihundertjährige Geschichte ein.
Neues von Blumen" betitelte Walter Benjamin 1928 seine Rezension von Karl Blossfeldts "Urformen der Kunst" und machte in dem Buch eine "Überprüfung des Wahrnehmungsinventars, die unser Weltbild noch unabsehbar verändern wird", aus. Nun, fast ein Jahrhundert später, ist aus dem neuen Blick auf die Natur eine Allgegenwart von Blossfeldts Bildern zwischen Postkarte, Poster und Kaffeetasse geworden, und auch unser Wahrnehmungsinventar ist eines, das mit einem aus der Zeit der Weimarer Republik nur noch wenig gemein hat. Während Benjamin begeistert vom optisch Unbewussten sprach und eine andere Natur in den Bildern entdeckte, blicken wir heute auf sie aus historischer Ferne mit einem Blick, für den die Natur längst Geschichte und Kultur geworden ist.
Diesen Blick scharf zu stellen ist das Verdienst der beiden großangelegten und schön ausgestatteten Publikationen, die auf unterschiedliche Weise mittels der Bilder von Pflanzen solche der Natur und der Kunst zum Gegenstand machen. Während Ulrike Meyer Stump sich dabei auf Blossfeldt konzentriert und ebenso filigran wie materialreich eine Publikations- und Rezeptionsgeschichte seiner Pflanzenaufnahmen schreibt, greift Judith Elisabeth Weiss eher zum Weitwinkelobjektiv und lässt zwei Jahrhunderte der Geschichte vegetabiler Pflanzenvorlagen Revue passieren. Ihr Zugriff ist auch ungleich theoretischer. Das eine Buch wird ohne Zweifel zum Referenzwerk der Blossfeldt-Rezeption werden und schließt damit ein Kapitel; das andere hingegen eröffnet vielmehr Debatten über unsere Bilder von Natur. Die Bücher ergänzen einander wie zwei unterschiedliche Perspektiven auf einen Gegenstand.
Bemerkenswert ist dabei, dass sich in beiden Blossfeldts Fotografien als eigentümliche Vexierbilder erweisen, die zwischen Kunst und Natur hin und her pendeln. Bereits die Verwendungs- und Rezeptionsgeschichte von Blossfeldts Aufnahmen durchläuft Etappen, die miteinander wenig gemein haben und die auch den Fotografen überraschten. Während er mit "Urformen der Kunst" ein Studien- und Musterbuch für Kunstgewerbestudenten im Sinn hatte, wurde das Buch rasch zu einem Klassiker der Moderne, der Abstraktion und des "Neuen Sehens". Auch das Spektrum der Gebrauchsweisen seiner Bilder reicht von Vorlagen für die dekorative Kunst über ein "Bilderbuch für Erwachsene" der Neuen Sachlichkeit bis hin zu Verfahren der Abstraktion und der ornamentalen Gestaltung.
Dabei ist es keineswegs ausgemacht, dass die Natur der Kunst Vorbild steht; auch der umgekehrte Weg wird eingeschlagen, indem man in den Fotografien die Umsetzung mathematischer Gesetze, die Möglichkeit einer Einheit von Leben, Kunst und Technik oder aber einen formalen Universalismus erblickt. Die Fotografien sind so etwas wie Übersetzungsmedien zwischen Kunst und Kultur einerseits und Natur andererseits. Man kann dank ihnen zwischen diesen Reichen und Ordnungen munter hin und her wandern, und das in den unterschiedlichsten Spielformen.
Es ist, so Ulrike Meyer Stump, ihre Qualität, "Bilder ,ohne Eigenschaften'" zu sein, die ihre beispiellose Karriere ermöglicht hat. Was hat man nicht alles in ihnen gesehen? Urtypen im Sinne von Goethes Urpflanze, Vorbilder des vergleichenden Sehens, Tapetenmuster oder zeitlose formale Extrakte. Die Rezeptionsgeschichte von Blossfeldts Pflanzenaufnahmen liest sich deshalb wie eine Geschichte der Kunst der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der Frage nach der Beziehung zwischen Kunst und Natur.
Die andere Natur, die Walter Benjamin dereinst in den Aufnahmen erblickte, hat sich längst in eine Geschichte ihrer Vorstellungen und Modelle verwandelt. Die Deutung der Naturbilder als symbolische Formen, welche die "ästhetischen und wissenschaftlichen, politischen und technischen Disziplinierungen pflanzlichen Lebens offenbaren", führt bei Weiss zu einer ebenso buntscheckigen wie anregenden Geschichte dessen, was Bilder aus Pflanzen im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte gemacht haben. Pflanzenbilder sind Geschichtsspeicher, die Modelle von Natur, Kultur und Kunst lesbar machen. Erneut erweisen sich Kunst, Fotografie und Bild gewordene Pflanzen als eine Art Brennglas der Kunst- und Kulturgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte. In diesen Bildern schlägt sich nicht nur die Kolonialgeschichte nieder, sondern - allein das Beispiel des Begriffs "Schmarotzer" zeigt es - mitunter auch die einer politischen Ideologie. Invasionsökologie, Konzepte von Symbiose, Synthese und Mischung und nicht zuletzt die Bionik und posthumane Ökologie sind weitere Etappen dieser Naturgeschichte, die in Bildern von Pflanzen Musterbilder der Kultur erkennt. Das Herbarium der Naturbilder entpuppt sich als Florilegium der Kulturkonzepte.
Einstmals hießen fotografische Vorlagen für Künstler "Studien nach der Natur". Bereits im neunzehnten Jahrhundert gaben sie dabei diesem "nach" einen temporalen Sinn, verwandelten Natur in Kultur, setzten auf Artifizialisierung. Mittlerweile können wir längst von Bildern "nach der Kultur" sprechen, die andere Vorstellungen, Konzepte und Begriffe erfordern. "Biofakte", "NatureCulture" oder "Nat/Cul" sind Begriffsungetüme, die eben jene Durchlässigkeit der Bereiche von Natur und Kultur, die sich bereits in Blossfeldts Pflanzenfotos und ihrer Rezeption finden, zu erfassen versuchen. "Am Garten", so Judith Elisabeth Weiss, "lassen sich Krisensymptome der Gegenwart aufzeigen." Und an den Bildern der dort wuchernden Pflanzen eine andere Natur, die längst Geschichte geworden ist, aber zu denken gibt.
BERND STIEGLER
Ulrike Meyer Stump:
"Karl Blossfeldt".
Variationen.
Lars Müller Publishers,
Zürich 2020.
516 S., Abb., 45,- [Euro].
Judith Elisabeth Weiss:
"Disziplinierung der
Pflanzen". Bildvorlagen
zwischen Ästhetik und Zweck.
Deutscher Kunstverlag,
Berlin 2020. 232 S., Abb., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vermittler zwischen Kunst und Natur: Ulrike Meyer Stump studiert Karl Blossfeldts Pflanzenfotografien, Judith Elisabeth Weiss bettet deren Rezeption in eine zweihundertjährige Geschichte ein.
Neues von Blumen" betitelte Walter Benjamin 1928 seine Rezension von Karl Blossfeldts "Urformen der Kunst" und machte in dem Buch eine "Überprüfung des Wahrnehmungsinventars, die unser Weltbild noch unabsehbar verändern wird", aus. Nun, fast ein Jahrhundert später, ist aus dem neuen Blick auf die Natur eine Allgegenwart von Blossfeldts Bildern zwischen Postkarte, Poster und Kaffeetasse geworden, und auch unser Wahrnehmungsinventar ist eines, das mit einem aus der Zeit der Weimarer Republik nur noch wenig gemein hat. Während Benjamin begeistert vom optisch Unbewussten sprach und eine andere Natur in den Bildern entdeckte, blicken wir heute auf sie aus historischer Ferne mit einem Blick, für den die Natur längst Geschichte und Kultur geworden ist.
Diesen Blick scharf zu stellen ist das Verdienst der beiden großangelegten und schön ausgestatteten Publikationen, die auf unterschiedliche Weise mittels der Bilder von Pflanzen solche der Natur und der Kunst zum Gegenstand machen. Während Ulrike Meyer Stump sich dabei auf Blossfeldt konzentriert und ebenso filigran wie materialreich eine Publikations- und Rezeptionsgeschichte seiner Pflanzenaufnahmen schreibt, greift Judith Elisabeth Weiss eher zum Weitwinkelobjektiv und lässt zwei Jahrhunderte der Geschichte vegetabiler Pflanzenvorlagen Revue passieren. Ihr Zugriff ist auch ungleich theoretischer. Das eine Buch wird ohne Zweifel zum Referenzwerk der Blossfeldt-Rezeption werden und schließt damit ein Kapitel; das andere hingegen eröffnet vielmehr Debatten über unsere Bilder von Natur. Die Bücher ergänzen einander wie zwei unterschiedliche Perspektiven auf einen Gegenstand.
Bemerkenswert ist dabei, dass sich in beiden Blossfeldts Fotografien als eigentümliche Vexierbilder erweisen, die zwischen Kunst und Natur hin und her pendeln. Bereits die Verwendungs- und Rezeptionsgeschichte von Blossfeldts Aufnahmen durchläuft Etappen, die miteinander wenig gemein haben und die auch den Fotografen überraschten. Während er mit "Urformen der Kunst" ein Studien- und Musterbuch für Kunstgewerbestudenten im Sinn hatte, wurde das Buch rasch zu einem Klassiker der Moderne, der Abstraktion und des "Neuen Sehens". Auch das Spektrum der Gebrauchsweisen seiner Bilder reicht von Vorlagen für die dekorative Kunst über ein "Bilderbuch für Erwachsene" der Neuen Sachlichkeit bis hin zu Verfahren der Abstraktion und der ornamentalen Gestaltung.
Dabei ist es keineswegs ausgemacht, dass die Natur der Kunst Vorbild steht; auch der umgekehrte Weg wird eingeschlagen, indem man in den Fotografien die Umsetzung mathematischer Gesetze, die Möglichkeit einer Einheit von Leben, Kunst und Technik oder aber einen formalen Universalismus erblickt. Die Fotografien sind so etwas wie Übersetzungsmedien zwischen Kunst und Kultur einerseits und Natur andererseits. Man kann dank ihnen zwischen diesen Reichen und Ordnungen munter hin und her wandern, und das in den unterschiedlichsten Spielformen.
Es ist, so Ulrike Meyer Stump, ihre Qualität, "Bilder ,ohne Eigenschaften'" zu sein, die ihre beispiellose Karriere ermöglicht hat. Was hat man nicht alles in ihnen gesehen? Urtypen im Sinne von Goethes Urpflanze, Vorbilder des vergleichenden Sehens, Tapetenmuster oder zeitlose formale Extrakte. Die Rezeptionsgeschichte von Blossfeldts Pflanzenaufnahmen liest sich deshalb wie eine Geschichte der Kunst der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der Frage nach der Beziehung zwischen Kunst und Natur.
Die andere Natur, die Walter Benjamin dereinst in den Aufnahmen erblickte, hat sich längst in eine Geschichte ihrer Vorstellungen und Modelle verwandelt. Die Deutung der Naturbilder als symbolische Formen, welche die "ästhetischen und wissenschaftlichen, politischen und technischen Disziplinierungen pflanzlichen Lebens offenbaren", führt bei Weiss zu einer ebenso buntscheckigen wie anregenden Geschichte dessen, was Bilder aus Pflanzen im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte gemacht haben. Pflanzenbilder sind Geschichtsspeicher, die Modelle von Natur, Kultur und Kunst lesbar machen. Erneut erweisen sich Kunst, Fotografie und Bild gewordene Pflanzen als eine Art Brennglas der Kunst- und Kulturgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte. In diesen Bildern schlägt sich nicht nur die Kolonialgeschichte nieder, sondern - allein das Beispiel des Begriffs "Schmarotzer" zeigt es - mitunter auch die einer politischen Ideologie. Invasionsökologie, Konzepte von Symbiose, Synthese und Mischung und nicht zuletzt die Bionik und posthumane Ökologie sind weitere Etappen dieser Naturgeschichte, die in Bildern von Pflanzen Musterbilder der Kultur erkennt. Das Herbarium der Naturbilder entpuppt sich als Florilegium der Kulturkonzepte.
Einstmals hießen fotografische Vorlagen für Künstler "Studien nach der Natur". Bereits im neunzehnten Jahrhundert gaben sie dabei diesem "nach" einen temporalen Sinn, verwandelten Natur in Kultur, setzten auf Artifizialisierung. Mittlerweile können wir längst von Bildern "nach der Kultur" sprechen, die andere Vorstellungen, Konzepte und Begriffe erfordern. "Biofakte", "NatureCulture" oder "Nat/Cul" sind Begriffsungetüme, die eben jene Durchlässigkeit der Bereiche von Natur und Kultur, die sich bereits in Blossfeldts Pflanzenfotos und ihrer Rezeption finden, zu erfassen versuchen. "Am Garten", so Judith Elisabeth Weiss, "lassen sich Krisensymptome der Gegenwart aufzeigen." Und an den Bildern der dort wuchernden Pflanzen eine andere Natur, die längst Geschichte geworden ist, aber zu denken gibt.
BERND STIEGLER
Ulrike Meyer Stump:
"Karl Blossfeldt".
Variationen.
Lars Müller Publishers,
Zürich 2020.
516 S., Abb., 45,- [Euro].
Judith Elisabeth Weiss:
"Disziplinierung der
Pflanzen". Bildvorlagen
zwischen Ästhetik und Zweck.
Deutscher Kunstverlag,
Berlin 2020. 232 S., Abb., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main