Aus der Reihe der bedeutenden Herrscher des Mittelalters ragt Karl der Große (748 - 814) als Lichtgestalt hervor. Das von ihm geschaffene Großreich bildete die Keimzelle des modernen Europas. Die auf Antike und Christentum beruhende Kultur des Abendlandes ist ohne sein Wirken undenkbar. In fast ganz Europa gilt er noch heute als Symbolfigur des zusammenwachsenden Kontinents, werden seine staatspolitischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen gewürdigt.
In seiner monumentalen Biographie, die zeitgenössische Quellen und die neueste Forschung souverän zusammenführt, läßt Dieter Hägermann die faszinierende Persönlichkeit Karls des Großen und den Aufbruchgeist einer ganzen Epoche lebendig werden.
In seiner monumentalen Biographie, die zeitgenössische Quellen und die neueste Forschung souverän zusammenführt, läßt Dieter Hägermann die faszinierende Persönlichkeit Karls des Großen und den Aufbruchgeist einer ganzen Epoche lebendig werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2000Berta, Berta, du entschwandest
Der Tochter geht es wie den Konkubinen: In Dieter Hägermanns Biographie Karls des Großen fehlen die Menschen, das Menschliche und die Unmenschlichkeit
Karl der Große hat Konjunktur. Die Paderborner Ausstellung des vergangenen Jahres rief seine Leistung in Erinnerung; zahlreiche sinnige und unsinnige Ausführungen wurden ihm in jüngster Zeit gewidmet. Bis in die Leserbriefe dieser Zeitung ist solches Interesse zu verfolgen. Drei umfangreiche wissenschaftliche Monographien wandten sich eben dem ersten Frankenkaiser zu: je eine in England von Roger Collins, in Frankreich von keinem Geringeren als Jean Favier und nun in Deutschland von Dieter Hägermann. Signalisiert diese Fülle eine Renaissance der Biographie, die Jacques LeGoff mit seinem "Saint Louis" eingeleitet hatte? Eine Abkehr von der Sozial- oder Strukturgeschichte? Folgt man Hägermann, dann möchte es so scheinen. Der Gegensatz von Struktur- und Personengeschichte sei künstlich; die Geschichte verdichte sich nach Jacob Burckhardt "auf einmal in einem Menschen, welchem hierauf die Welt gehorcht", in der einzigartigen Herrschergestalt. Der Vergleich Karls mit Napoleon zieht sich denn auch durch das ganze Buch; und zur Legitimation der Konzentration auf eine Person wird Hitler bemüht. "Zwischen entpersonalisierter Struktur- und Gesellschaftsgeschichte und Personenkult findet das biographische Element der Historie seinen wohlverdienten Platz", erläutert Hägermann. Gesellschaft und Struktur also als Folie der Biographie.
Umfassend weit ist der Einstieg, den Hägermann wählt: "Die Geschichte Karls des Großen ist die Geschichte Europas". Von "Kontinentalisierung" ist da die Rede, von der "Genese des mittelalterlichen Europas um 800". Dann freilich wird es enger, ganz auf Karl bezogen: Derselbe wurde 748 geboren, trat zwei Jahrzehnte später die selbständige Königsherrschaft an, erlangte nach dem Tod seines Bruders 771 die Alleinherrschaft, wurde 800 in Rom zum Kaiser gekrönt und starb 814; dazwischen führte er zahlreiche Kriege, stellte Urkunden aus und ließ allgemeinere Normen verkünden.
Mit den wenigen Daten ist der Gang des 700-Seiten-Buches gekennzeichnet. Der Autor folgt von Jahr zu Jahr, von Diplom zu Diplom der Abfolge der bekannten Ereignisregister, würzt die Darstellung mit Zitaten aus erzählenden Quellen, Urkunden- und Kapitulationsparaphrasen, garniert sie gelegentlich mit kritischen Reflexionen und wiederholten Rück- oder Vorausblenden zumal zu den Sachsen. So weit, so gut. Doch die Folie des Allgemeinen, der Strukturen, aber auch die individualisierenden Farben verblassen durch diese Konzeption mehr und mehr. Auf systematische Kapitel wurde, vom knappen "Epilog" abgesehen, ohnehin verzichtet.
Stattdessen soll die Lebensbeschreibung Karls aus der Feder Einhards, also ein mittelalterlicher Text, dem modernen Leser Orientierung bieten. Er entstand zwar erst anderthalb Jahrzehnte nach Karls Tod in einer höchst spannungsreichen Situation des Frankenreiches, die von der Lage unter dem von ihm gefeierten Helden weithin abwich. Man könne sich aber, so Hägermann, "der Darstellung Einhards sorgsam abwägend anvertrauen", denn sein "fernes" Denkmal musste "auch für die miterlebenden Zeitgenossen noch erkennbar sein". Ja, "Einhard" gelingt es, zum wirklichen Charakter Karls vorzudringen "zu einem für die Persönlichkeit des großen Franken konstitutiven Wesenskern".
Das sind starke Worte. Doch wie steht es um das historiographische Erkenntnis- und Darstellungsvermögen miterlebender Zeitgenossen von einst? Errichteten sie historische Denkmäler, die noch kritische Historiker des zwanzigsten Jahrhunderts zufrieden stellen sollten? War Einhards Karl auch Karls Karl? Gab es bei Hof oder an sonst einer zentralen Stelle eine Prüfstelle, gleichsam einen Index Francus rechtverfasster Schriften? Hägermann postuliert das eine und unterstellt das andere, obwohl sich die Hinweise mehren, wie eigentümlich verformend die Geschichtsschreiber der Epoche mit der miterlebten Vergangenheit umsprangen, und obwohl der zeitgenössische Leser Lupus, damals Student in Fulda, später Abt von Ferrières, ganz andere Kriterien erkennen lässt, mit denen er sich Einhards "Karlsleben" näherte.
Neue Perspektiven eröffnen sich auf dem eingeschlagenen Wege nicht; im Gegenteil, irgendwie scheint alles, was berichtet wird, seit langem vertraut. Der wissenschaftliche Ertrag der Paderborner Ausstellung, niedergelegt in einem dreibändigen Katalog, konnte nicht mehr eingearbeitet werden. Die hohe Schreibkultur der Karlszeit sieht sich mit einem knappen Sätzchen erledigt; die kostbaren Werke der Buchmalerei sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fast völlig von Schweigen zugedeckt; keines der Bildungszentren tritt hervor. Die Rezeption antiker Texte, antiker Buchmalerei und Elfenbeinschnitzerei, das intensive Bemühen um Logik, Rhetorik, Grammatik, um das Latein, um den Kalender, die Ordnung der Zeit . . . ach, sie sind den Blicken entschwunden. Immerhin: "Zahlreiche Gedichte und Epitaphien aus der Feder der Hofpoeten zeugen vom Kuss der Muse." Die Bedeutung all dieser Leistungen für die Biographie Karls, für die geistige Lage des Frankenreiches, für die abendländische Kultur versickert in der Abfolge der Jahre wie Regen auf trockenem Sand.
Eine Geschichte Europas? Wie es das einleitende Kapitel verheißt? Die Geschichte nämlich "europäischer Gemeinsamkeiten und nationaler Sonderungen" (wie Hägermann mit Arno Borst formuliert). Die Antwort fällt schmerzlich knapp aus: Davon ist nichts zu finden, nicht ein Wort. Was über Byzanz geschrieben steht, ist erschreckend dürftig; außer Herrschernamen erfährt der Leser nichts über Süditalien; nichts über das musikalische Spanien oder die christlichen Basken, die Karl immerhin eine empfindliche Niederlage beibrachten; entsprechend wenig über Angelsachsen, Dänen oder Schweden, von den Iren und Slawen ganz zu schweigen. Also eine Biographie? Wie sie der Untertitel verheißt? Mit einer lockeren Formulierung "vom jungen, wagemutigen König zum alternden, gereiften Kaiser" ist es gewiss nicht getan.
Die karolingische Familie bleibt, wenn nicht von Herrschaft die Rede ist, ganz im Hintergrund. Nichts verlautet über Karls schwankende Haltung zu seinen heiligen Vorfahren Arnulf von Metz und Gertrud von Nivelles, auf die vor Jahren Otto Gerhard Oexle so eindrucksvoll verwiesen hat. Die heilige Gertrud findet sich nicht einmal erwähnt. Da ist einmal aus Anlass der Verteilung der Avaren-Beute von "des Königs . . . Charisma" die Rede, doch worin es bestand, wie es sich artikulierte, wann und wo es zur Wirkung gelangte, bleibt unausgeführt - eine angelesene Vokabel ohne heuristischen Wert.
Dafür kommt plötzlich Karl der Große selbst zu Wort, erinnert sich, wie er bei der Überführung des heiligen Germanus selbst beteiligt gewesen sei, erzählt, wie er munter als Siebenjähriger in die Gruft gesprungen sei und seinen ersten Zahn verloren habe. Das liest sich amüsant, wird auch als Zeugnis für den Humor des mächtigen Kaisers gewertet. Der einzige Haken: diese Erzählung wurde betrüglich Karl dem Großen in den Mund gelegt, wie man längst erkannte und trotz neuerlicher Rettungsversuche hätte beibehalten sollen. Nichts ist es also mit der "Probe von mündlicher Überlieferung durch Karl selbst", nichts mit einem Sympathie heischenden Humor.
Und die Menschen? Sie bleiben eigentümlich unterbelichtet, ja ausgeblendet. Karls Gemahlinnen und Konkubinen, die zahlreichen Kinder sehen sich wenigstens eingeschoben, sobald der Gang der Ereignisse oder der Zufall der Überlieferung es gestattet. Der Königshof wird ausklingend auf gerade fünf Seiten abgehandelt; die Hofkapelle, die einen Personenkreis in der engsten Umgebung des Herrschers umschließt, nur beiläufig erwähnt. Die Reichsverwaltung als personales Problem kommt nicht besser davon. Nicht einmal Alkuin findet sich eigens gewürdigt. Es bedeutet den Höhepunkt an Personenschilderung, wenn Hägermann den Angilbert von St-Riquier einen "Hofmann, Diplomaten, Dichter - Deckname ,Homer' - und Laienabt" nennt und gelegentlich noch den "Liebhaber" der Karlstochter Berta hinzufügt.
Was tut es da, wenn bei derartigem Desinteresse an den Beratern und Helfern, an den Lehrmeistern und Künstlern, den Mitschöpfern von Karls Werk und Mitgestaltern seines Lebens der tote Hofkapellan und Bischof Angilram von Metz erst mit dem amtierenden Hildebold von Köln, sodann mit dem genannten Abt Angilbert von St-Riquier verwechselt wird und wenn dieser Angilbert zum "Oblaten" gemacht wird, obwohl er doch Laie war. Es sind ja bloß Marionetten, hinter denen keine Persönlichkeiten aufscheinen, keine Adelsgruppen und weit gespannten personalen Netze, kein Einfluss, keine Macht, kein Wissen. Nicht Menschen, nur Schatten, huschen sie über die weltgeschichtliche Bühne, um vom König oder Kaiser kostbare Privilegien zu empfangen, ohne dass der Leser eine Ahnung erhält, wofür.
Die ganze karolingerzeitliche Adelsgeschichte, wie sie Gerd Teilenbach, Josef Fleckenstein, Karl Schmid, Joachim Wollasch, Otto Gerhard Oexle, Michael Borgolte und viele andere zu eindrucksvollen Ergebnissen geführt haben, ist für dieses Buch umsonst erforscht. Selbst Einhard, der kleingewachsene Biograph, mit dem die Großen am Hof ihre Scherze trieben, bleibt ohne Profil. Die Iren in der Umgebung des Kaisers, die für Spott und Hohn, für auflodernden Hass sorgten, finden sich nicht mit einer Zeile gewürdigt.
Ärgerliche Fehler treten hinzu. San Giovanni in Laterno ist nicht, wie behauptet, das Baptisterium des Lateranpalastes, auch nicht in der berüchtigen Fälschung des "Constitutum Constantini". Es handelt sich um die Hauptkirche des Bischofs von Rom selbst; das Baptisterium ist S. Giovanni in Fonte, ein ganz anderer Bau. Den ersten Teil des falschen Dokuments, das nach Hägermann übrigens "zweifellos" im Jahr 774 "entstanden sein muss", bilden auch nicht, wie bei ihm zu lesen steht, die "Actus Silvestri", sondern die "Confessio" des Kaisers und sie gehört bereits zum "eigentlichen" Teil der Fälschung. Die Silvesterraketen sind ein völlig anderer Text, älter und anders überliefert als das "Constitutum", dessen Datierung zu 774 nackte Willkür ist.
Dass Karls Schenkung an den heiligen Petrus etwas mit der deutlich älteren Schenkung seines Vaters Pippin und primär nichts mit der genannten Fälschung zu tun hatte, dieser Umstand stört Hägermann nicht weiter. Was er stattdessen an Reflexionen über das Verschwinden von Urkunden im päpstlichen Archiv ausführt, erinnert an die finsteren Auswüchse des Kulturkampfes. Überhaupt, Rom ist dem Autor dieser Karl-Biographie recht fremd. Die stadtrömische Liturgie ist unbekannt; wenn sie aus Anlass der Laetania-major-Prozession des Jahres 799 zu kennen wäre, wird aufgrund ungenauer Quellenlektüre Falsches kolportiert.
Der spanische Adoptianismus entstand nicht "im Humus des untergründig fortdauernden Arianismus". In den Annalen von St-Amand wird man vergebens nach der Nachricht suchen, die Griechen hätten im Jahre 798 Karl das Imperium angeboten: Hildebold von Köln oder die genauere Beachtung der bestrittenen Kalenderreform hätten den Autor dieser "Biographie" auf die rechte Spur führen können. Die Fuldaer Abteikirche erhielt durch Ratger keineswegs "als erste Kirche des Abendlandes eine doppelchörige Anlage", St-Maurice d'Agaune und der Kölner Dom (Hildebolds Kirche!) waren vorausgegangen; auch wurde diese fuldische Westkirche nicht als Grabstätte des heiligen Bonifatius errichtet. Lateinisch "malefactor" ist nicht dasselbe wie "auctor"; "terminare" nicht dasselbe wie "persuadere"; weder "potestas" noch "justitia" bedeutet Schatz.
Derartige Irrtümer wären leicht zu verschmerzen, ginge es um Nebensächlichkeiten. Doch stehen zentrale Aspekte von Hägermanns Verständnis für Karls des Großen Handeln zur Debatte. Hildebold zum Beispiel war einer der wichtigsten Helfer des Königs und Kaisers in Sachen Kalenderreform, die Hägermann geradezu kategorisch bestreitet, obwohl sie Karl durch Jahrzehnte mit höchstem Nachdruck betrieb, einer der großen wissenschaftlichen Impulse dieses Herrscherlebens. Die Fehldeutung hinsichtlich "malefactor", "auctor" und "terminare" schickt den Leser in die Irre über das berüchtigte Blutbad von Verden von 782, dessen 4500 geköpfte "Übeltäter" "der gesunde Menschenverstand" bei Hägermann so weit reduziert, dass nur "ein sehr kleiner Teil" der "Aufrührer und Anstifter" über die Klinge springen musste. 470 Seiten später liest man's dann wieder anders. Die Grausamkeit des Großen verschwindet. Die Identifikation von "potestas" und "iustitia" mit dem Schatz möchte Tassilo von Bayerns noch ausstehende, aber nötige Zustimmung zu seiner brutalen Entmachtung auf einen fast harmlosen Verzicht auf Privatvermögen reduzieren. Auch das passt zu Karls betrüglichem Humor.
Ich breche ab, nur beiläufig auf die häufigen Anachronismen verweisend. Da ist vom Papst als dem "Pontifex maximus" die Rede oder von den Boten des "Heiligen Stuhls", auch von dem "glatten politischen Parkett Italiens", wo Rom auch damals nur Steinfußböden kannte. Karls "Politisches Testament" nimmt schon die Neuzeit vorweg . . . Wer die bloße Erzählung der Ereignisse nachzulesen wünscht, wie sie in den erwähnten Registern verzeichnet sind, mag getrost mit gebotener Vorsicht zu diesem Buche greifen. Wer aber mehr erhofft, muss sich über die knappen Literaturangaben hinaus selbst auf die Suche begeben.
JOHANNES FRIED
Dieter Hägermann: "Karl der Große". Herrscher des Abendlandes. Biographie. Propyläen Verlag, Berlin 2000. 736 S., 24 Abb., 1 genealogische Tafel, geb., 88,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Tochter geht es wie den Konkubinen: In Dieter Hägermanns Biographie Karls des Großen fehlen die Menschen, das Menschliche und die Unmenschlichkeit
Karl der Große hat Konjunktur. Die Paderborner Ausstellung des vergangenen Jahres rief seine Leistung in Erinnerung; zahlreiche sinnige und unsinnige Ausführungen wurden ihm in jüngster Zeit gewidmet. Bis in die Leserbriefe dieser Zeitung ist solches Interesse zu verfolgen. Drei umfangreiche wissenschaftliche Monographien wandten sich eben dem ersten Frankenkaiser zu: je eine in England von Roger Collins, in Frankreich von keinem Geringeren als Jean Favier und nun in Deutschland von Dieter Hägermann. Signalisiert diese Fülle eine Renaissance der Biographie, die Jacques LeGoff mit seinem "Saint Louis" eingeleitet hatte? Eine Abkehr von der Sozial- oder Strukturgeschichte? Folgt man Hägermann, dann möchte es so scheinen. Der Gegensatz von Struktur- und Personengeschichte sei künstlich; die Geschichte verdichte sich nach Jacob Burckhardt "auf einmal in einem Menschen, welchem hierauf die Welt gehorcht", in der einzigartigen Herrschergestalt. Der Vergleich Karls mit Napoleon zieht sich denn auch durch das ganze Buch; und zur Legitimation der Konzentration auf eine Person wird Hitler bemüht. "Zwischen entpersonalisierter Struktur- und Gesellschaftsgeschichte und Personenkult findet das biographische Element der Historie seinen wohlverdienten Platz", erläutert Hägermann. Gesellschaft und Struktur also als Folie der Biographie.
Umfassend weit ist der Einstieg, den Hägermann wählt: "Die Geschichte Karls des Großen ist die Geschichte Europas". Von "Kontinentalisierung" ist da die Rede, von der "Genese des mittelalterlichen Europas um 800". Dann freilich wird es enger, ganz auf Karl bezogen: Derselbe wurde 748 geboren, trat zwei Jahrzehnte später die selbständige Königsherrschaft an, erlangte nach dem Tod seines Bruders 771 die Alleinherrschaft, wurde 800 in Rom zum Kaiser gekrönt und starb 814; dazwischen führte er zahlreiche Kriege, stellte Urkunden aus und ließ allgemeinere Normen verkünden.
Mit den wenigen Daten ist der Gang des 700-Seiten-Buches gekennzeichnet. Der Autor folgt von Jahr zu Jahr, von Diplom zu Diplom der Abfolge der bekannten Ereignisregister, würzt die Darstellung mit Zitaten aus erzählenden Quellen, Urkunden- und Kapitulationsparaphrasen, garniert sie gelegentlich mit kritischen Reflexionen und wiederholten Rück- oder Vorausblenden zumal zu den Sachsen. So weit, so gut. Doch die Folie des Allgemeinen, der Strukturen, aber auch die individualisierenden Farben verblassen durch diese Konzeption mehr und mehr. Auf systematische Kapitel wurde, vom knappen "Epilog" abgesehen, ohnehin verzichtet.
Stattdessen soll die Lebensbeschreibung Karls aus der Feder Einhards, also ein mittelalterlicher Text, dem modernen Leser Orientierung bieten. Er entstand zwar erst anderthalb Jahrzehnte nach Karls Tod in einer höchst spannungsreichen Situation des Frankenreiches, die von der Lage unter dem von ihm gefeierten Helden weithin abwich. Man könne sich aber, so Hägermann, "der Darstellung Einhards sorgsam abwägend anvertrauen", denn sein "fernes" Denkmal musste "auch für die miterlebenden Zeitgenossen noch erkennbar sein". Ja, "Einhard" gelingt es, zum wirklichen Charakter Karls vorzudringen "zu einem für die Persönlichkeit des großen Franken konstitutiven Wesenskern".
Das sind starke Worte. Doch wie steht es um das historiographische Erkenntnis- und Darstellungsvermögen miterlebender Zeitgenossen von einst? Errichteten sie historische Denkmäler, die noch kritische Historiker des zwanzigsten Jahrhunderts zufrieden stellen sollten? War Einhards Karl auch Karls Karl? Gab es bei Hof oder an sonst einer zentralen Stelle eine Prüfstelle, gleichsam einen Index Francus rechtverfasster Schriften? Hägermann postuliert das eine und unterstellt das andere, obwohl sich die Hinweise mehren, wie eigentümlich verformend die Geschichtsschreiber der Epoche mit der miterlebten Vergangenheit umsprangen, und obwohl der zeitgenössische Leser Lupus, damals Student in Fulda, später Abt von Ferrières, ganz andere Kriterien erkennen lässt, mit denen er sich Einhards "Karlsleben" näherte.
Neue Perspektiven eröffnen sich auf dem eingeschlagenen Wege nicht; im Gegenteil, irgendwie scheint alles, was berichtet wird, seit langem vertraut. Der wissenschaftliche Ertrag der Paderborner Ausstellung, niedergelegt in einem dreibändigen Katalog, konnte nicht mehr eingearbeitet werden. Die hohe Schreibkultur der Karlszeit sieht sich mit einem knappen Sätzchen erledigt; die kostbaren Werke der Buchmalerei sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fast völlig von Schweigen zugedeckt; keines der Bildungszentren tritt hervor. Die Rezeption antiker Texte, antiker Buchmalerei und Elfenbeinschnitzerei, das intensive Bemühen um Logik, Rhetorik, Grammatik, um das Latein, um den Kalender, die Ordnung der Zeit . . . ach, sie sind den Blicken entschwunden. Immerhin: "Zahlreiche Gedichte und Epitaphien aus der Feder der Hofpoeten zeugen vom Kuss der Muse." Die Bedeutung all dieser Leistungen für die Biographie Karls, für die geistige Lage des Frankenreiches, für die abendländische Kultur versickert in der Abfolge der Jahre wie Regen auf trockenem Sand.
Eine Geschichte Europas? Wie es das einleitende Kapitel verheißt? Die Geschichte nämlich "europäischer Gemeinsamkeiten und nationaler Sonderungen" (wie Hägermann mit Arno Borst formuliert). Die Antwort fällt schmerzlich knapp aus: Davon ist nichts zu finden, nicht ein Wort. Was über Byzanz geschrieben steht, ist erschreckend dürftig; außer Herrschernamen erfährt der Leser nichts über Süditalien; nichts über das musikalische Spanien oder die christlichen Basken, die Karl immerhin eine empfindliche Niederlage beibrachten; entsprechend wenig über Angelsachsen, Dänen oder Schweden, von den Iren und Slawen ganz zu schweigen. Also eine Biographie? Wie sie der Untertitel verheißt? Mit einer lockeren Formulierung "vom jungen, wagemutigen König zum alternden, gereiften Kaiser" ist es gewiss nicht getan.
Die karolingische Familie bleibt, wenn nicht von Herrschaft die Rede ist, ganz im Hintergrund. Nichts verlautet über Karls schwankende Haltung zu seinen heiligen Vorfahren Arnulf von Metz und Gertrud von Nivelles, auf die vor Jahren Otto Gerhard Oexle so eindrucksvoll verwiesen hat. Die heilige Gertrud findet sich nicht einmal erwähnt. Da ist einmal aus Anlass der Verteilung der Avaren-Beute von "des Königs . . . Charisma" die Rede, doch worin es bestand, wie es sich artikulierte, wann und wo es zur Wirkung gelangte, bleibt unausgeführt - eine angelesene Vokabel ohne heuristischen Wert.
Dafür kommt plötzlich Karl der Große selbst zu Wort, erinnert sich, wie er bei der Überführung des heiligen Germanus selbst beteiligt gewesen sei, erzählt, wie er munter als Siebenjähriger in die Gruft gesprungen sei und seinen ersten Zahn verloren habe. Das liest sich amüsant, wird auch als Zeugnis für den Humor des mächtigen Kaisers gewertet. Der einzige Haken: diese Erzählung wurde betrüglich Karl dem Großen in den Mund gelegt, wie man längst erkannte und trotz neuerlicher Rettungsversuche hätte beibehalten sollen. Nichts ist es also mit der "Probe von mündlicher Überlieferung durch Karl selbst", nichts mit einem Sympathie heischenden Humor.
Und die Menschen? Sie bleiben eigentümlich unterbelichtet, ja ausgeblendet. Karls Gemahlinnen und Konkubinen, die zahlreichen Kinder sehen sich wenigstens eingeschoben, sobald der Gang der Ereignisse oder der Zufall der Überlieferung es gestattet. Der Königshof wird ausklingend auf gerade fünf Seiten abgehandelt; die Hofkapelle, die einen Personenkreis in der engsten Umgebung des Herrschers umschließt, nur beiläufig erwähnt. Die Reichsverwaltung als personales Problem kommt nicht besser davon. Nicht einmal Alkuin findet sich eigens gewürdigt. Es bedeutet den Höhepunkt an Personenschilderung, wenn Hägermann den Angilbert von St-Riquier einen "Hofmann, Diplomaten, Dichter - Deckname ,Homer' - und Laienabt" nennt und gelegentlich noch den "Liebhaber" der Karlstochter Berta hinzufügt.
Was tut es da, wenn bei derartigem Desinteresse an den Beratern und Helfern, an den Lehrmeistern und Künstlern, den Mitschöpfern von Karls Werk und Mitgestaltern seines Lebens der tote Hofkapellan und Bischof Angilram von Metz erst mit dem amtierenden Hildebold von Köln, sodann mit dem genannten Abt Angilbert von St-Riquier verwechselt wird und wenn dieser Angilbert zum "Oblaten" gemacht wird, obwohl er doch Laie war. Es sind ja bloß Marionetten, hinter denen keine Persönlichkeiten aufscheinen, keine Adelsgruppen und weit gespannten personalen Netze, kein Einfluss, keine Macht, kein Wissen. Nicht Menschen, nur Schatten, huschen sie über die weltgeschichtliche Bühne, um vom König oder Kaiser kostbare Privilegien zu empfangen, ohne dass der Leser eine Ahnung erhält, wofür.
Die ganze karolingerzeitliche Adelsgeschichte, wie sie Gerd Teilenbach, Josef Fleckenstein, Karl Schmid, Joachim Wollasch, Otto Gerhard Oexle, Michael Borgolte und viele andere zu eindrucksvollen Ergebnissen geführt haben, ist für dieses Buch umsonst erforscht. Selbst Einhard, der kleingewachsene Biograph, mit dem die Großen am Hof ihre Scherze trieben, bleibt ohne Profil. Die Iren in der Umgebung des Kaisers, die für Spott und Hohn, für auflodernden Hass sorgten, finden sich nicht mit einer Zeile gewürdigt.
Ärgerliche Fehler treten hinzu. San Giovanni in Laterno ist nicht, wie behauptet, das Baptisterium des Lateranpalastes, auch nicht in der berüchtigen Fälschung des "Constitutum Constantini". Es handelt sich um die Hauptkirche des Bischofs von Rom selbst; das Baptisterium ist S. Giovanni in Fonte, ein ganz anderer Bau. Den ersten Teil des falschen Dokuments, das nach Hägermann übrigens "zweifellos" im Jahr 774 "entstanden sein muss", bilden auch nicht, wie bei ihm zu lesen steht, die "Actus Silvestri", sondern die "Confessio" des Kaisers und sie gehört bereits zum "eigentlichen" Teil der Fälschung. Die Silvesterraketen sind ein völlig anderer Text, älter und anders überliefert als das "Constitutum", dessen Datierung zu 774 nackte Willkür ist.
Dass Karls Schenkung an den heiligen Petrus etwas mit der deutlich älteren Schenkung seines Vaters Pippin und primär nichts mit der genannten Fälschung zu tun hatte, dieser Umstand stört Hägermann nicht weiter. Was er stattdessen an Reflexionen über das Verschwinden von Urkunden im päpstlichen Archiv ausführt, erinnert an die finsteren Auswüchse des Kulturkampfes. Überhaupt, Rom ist dem Autor dieser Karl-Biographie recht fremd. Die stadtrömische Liturgie ist unbekannt; wenn sie aus Anlass der Laetania-major-Prozession des Jahres 799 zu kennen wäre, wird aufgrund ungenauer Quellenlektüre Falsches kolportiert.
Der spanische Adoptianismus entstand nicht "im Humus des untergründig fortdauernden Arianismus". In den Annalen von St-Amand wird man vergebens nach der Nachricht suchen, die Griechen hätten im Jahre 798 Karl das Imperium angeboten: Hildebold von Köln oder die genauere Beachtung der bestrittenen Kalenderreform hätten den Autor dieser "Biographie" auf die rechte Spur führen können. Die Fuldaer Abteikirche erhielt durch Ratger keineswegs "als erste Kirche des Abendlandes eine doppelchörige Anlage", St-Maurice d'Agaune und der Kölner Dom (Hildebolds Kirche!) waren vorausgegangen; auch wurde diese fuldische Westkirche nicht als Grabstätte des heiligen Bonifatius errichtet. Lateinisch "malefactor" ist nicht dasselbe wie "auctor"; "terminare" nicht dasselbe wie "persuadere"; weder "potestas" noch "justitia" bedeutet Schatz.
Derartige Irrtümer wären leicht zu verschmerzen, ginge es um Nebensächlichkeiten. Doch stehen zentrale Aspekte von Hägermanns Verständnis für Karls des Großen Handeln zur Debatte. Hildebold zum Beispiel war einer der wichtigsten Helfer des Königs und Kaisers in Sachen Kalenderreform, die Hägermann geradezu kategorisch bestreitet, obwohl sie Karl durch Jahrzehnte mit höchstem Nachdruck betrieb, einer der großen wissenschaftlichen Impulse dieses Herrscherlebens. Die Fehldeutung hinsichtlich "malefactor", "auctor" und "terminare" schickt den Leser in die Irre über das berüchtigte Blutbad von Verden von 782, dessen 4500 geköpfte "Übeltäter" "der gesunde Menschenverstand" bei Hägermann so weit reduziert, dass nur "ein sehr kleiner Teil" der "Aufrührer und Anstifter" über die Klinge springen musste. 470 Seiten später liest man's dann wieder anders. Die Grausamkeit des Großen verschwindet. Die Identifikation von "potestas" und "iustitia" mit dem Schatz möchte Tassilo von Bayerns noch ausstehende, aber nötige Zustimmung zu seiner brutalen Entmachtung auf einen fast harmlosen Verzicht auf Privatvermögen reduzieren. Auch das passt zu Karls betrüglichem Humor.
Ich breche ab, nur beiläufig auf die häufigen Anachronismen verweisend. Da ist vom Papst als dem "Pontifex maximus" die Rede oder von den Boten des "Heiligen Stuhls", auch von dem "glatten politischen Parkett Italiens", wo Rom auch damals nur Steinfußböden kannte. Karls "Politisches Testament" nimmt schon die Neuzeit vorweg . . . Wer die bloße Erzählung der Ereignisse nachzulesen wünscht, wie sie in den erwähnten Registern verzeichnet sind, mag getrost mit gebotener Vorsicht zu diesem Buche greifen. Wer aber mehr erhofft, muss sich über die knappen Literaturangaben hinaus selbst auf die Suche begeben.
JOHANNES FRIED
Dieter Hägermann: "Karl der Große". Herrscher des Abendlandes. Biographie. Propyläen Verlag, Berlin 2000. 736 S., 24 Abb., 1 genealogische Tafel, geb., 88,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main