Die erste Biographie eines NS-Direkttäters "vor Ort"Karl Jäger war ein Direkttäter "vor Ort". Als SS-Standartenführer meldete er am 1.12.1941 die Exekution von 137.346 litauischen Juden, Litauen sei jetzt "judenfrei". Der "Jäger-Bericht" wurde zu einem Schlüsseldokument. Wer war dieser Polizeioffizier aus dem zweiten Glied? Wie wurde aus dem Musiker ein Massenmörder? Bis zu seiner Verhaftung 1959 lebte er unbehelligt. Er verübte Selbstmord im Zuchthaus Hohenasperg bei Ludwigsburg.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.01.2012Waldkirch und "sein" Massenmörder
Von der Schwierigkeit, die Heimatstadt des SS-Standartenführers Karl Jäger zu sein
Schon in den zwanziger Jahren erhielt Karl Jäger, geboren 1888 in Schaffhausen und von Beruf Musikinstrumentenbauer, den Beinamen "Waldkircher Hitler". In dem Schwarzwaldstädtchen mit 6000 Einwohnern hatte der Teilhaber einer Orgelfabrik 1923 eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet, später einen SS-Sturm von 100 Mann geführt. Nach der Firmenpleite von 1931 und dem Scheitern seiner Ehe machte der Weltkrieg-I-Feldwebel seit 1936 Karriere beim Sicherheitsdienst, wo er zum SS-Standartenführer aufstieg und im Juni 1941 das Einsatzkommando 3 übernahm.
In einer Meldung vom 1. Dezember 1941 an den Chef der Einsatzgruppe A prahlte Jäger damit, innerhalb von fünf Monaten 137 346 Juden umgebracht zu haben: Litauen sei - "außer den Arbeitsjuden", die er eigentlich "ebenfalls umlegen" wollte - "judenfrei". Wolfram Wette schildert Stationen aus dem Leben des Kriegsverbrechers sowie einzelne Etappen der Judenvernichtung in Litauen. Dabei beleuchtet er auch die Rolle von litauischen Kollaborateuren und deutschen Heereseinheiten als Zuschauer und Mittäter. Im August 1943 wurde Jäger Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Düsseldorf, im Juni 1944 Polizeipräsident in Reichenberg im Sudetenland. Nach dem Zusammenbruch 1945 war er bis zu seiner Verhaftung am 10. April 1959 Landarbeiter und Hausmeister auf dem Kümmelbacher Hof bei Heidelberg. Im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg beging Jäger am 22. Juni 1959 Selbstmord. Er bestritt zuvor bei Verhören jegliche eigene Verantwortung für die Massenmorde und berief sich auf seine Pflichtauffassung.
Hart ins Gericht geht der Autor nicht nur mit dem Täter, sondern auch mit dessen Heimatstadt. Eine "Deckel-zu-Fraktion" in Waldkirch habe den Vorwurf erhoben: "Das Unglück der Stadt sind die Historiker." Das richtete sich vor allem gegen Wette, der dort seit vielen Jahren lebt. Sogar der Kreisarchivar habe "die Schutzbedürftigkeit der Nachkommen Jägers über das öffentliche Interesse an der Aufklärung der Vergangenheit" gestellt. Aus der Verdrängungsphalanx sei das "Geschwister Scholl-Gymnasium" mit Veranstaltungen wohltuend ausgeschert.
Wettes ernüchterndes Resümee über die "Vielzahl ganz normaler Massenmörder wie Karl Jäger" lautet: "Unter den etwa 200 000 deutschen Tätern und ihren Helfern in den eroberten Ländern gab es Zahnärzte und Opernsänger, Lehrer und Schulschwänzer, Juristen, einen Universitätsprofessor, einen Architekten, sogar einen Pfarrer, Katholiken und Protestanten, Jüngere und Ältere. In der Regel kamen diese Männer aus der Mitte der deutschen Gesellschaft und hatten zumeist eine akademische Ausbildung. Der feinsinnige Musiker Karl Jäger, der zum Massenmörder wurde, fällt somit keineswegs aus dem Rahmen des Gruppenprofils deutscher Täter auf der Führungsebene der SS."
RAINER BLASIUS
Wolfram Wette: Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden. Mit einem Vorwort von Ralph Giordano. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 284 S., 9,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der Schwierigkeit, die Heimatstadt des SS-Standartenführers Karl Jäger zu sein
Schon in den zwanziger Jahren erhielt Karl Jäger, geboren 1888 in Schaffhausen und von Beruf Musikinstrumentenbauer, den Beinamen "Waldkircher Hitler". In dem Schwarzwaldstädtchen mit 6000 Einwohnern hatte der Teilhaber einer Orgelfabrik 1923 eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet, später einen SS-Sturm von 100 Mann geführt. Nach der Firmenpleite von 1931 und dem Scheitern seiner Ehe machte der Weltkrieg-I-Feldwebel seit 1936 Karriere beim Sicherheitsdienst, wo er zum SS-Standartenführer aufstieg und im Juni 1941 das Einsatzkommando 3 übernahm.
In einer Meldung vom 1. Dezember 1941 an den Chef der Einsatzgruppe A prahlte Jäger damit, innerhalb von fünf Monaten 137 346 Juden umgebracht zu haben: Litauen sei - "außer den Arbeitsjuden", die er eigentlich "ebenfalls umlegen" wollte - "judenfrei". Wolfram Wette schildert Stationen aus dem Leben des Kriegsverbrechers sowie einzelne Etappen der Judenvernichtung in Litauen. Dabei beleuchtet er auch die Rolle von litauischen Kollaborateuren und deutschen Heereseinheiten als Zuschauer und Mittäter. Im August 1943 wurde Jäger Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Düsseldorf, im Juni 1944 Polizeipräsident in Reichenberg im Sudetenland. Nach dem Zusammenbruch 1945 war er bis zu seiner Verhaftung am 10. April 1959 Landarbeiter und Hausmeister auf dem Kümmelbacher Hof bei Heidelberg. Im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg beging Jäger am 22. Juni 1959 Selbstmord. Er bestritt zuvor bei Verhören jegliche eigene Verantwortung für die Massenmorde und berief sich auf seine Pflichtauffassung.
Hart ins Gericht geht der Autor nicht nur mit dem Täter, sondern auch mit dessen Heimatstadt. Eine "Deckel-zu-Fraktion" in Waldkirch habe den Vorwurf erhoben: "Das Unglück der Stadt sind die Historiker." Das richtete sich vor allem gegen Wette, der dort seit vielen Jahren lebt. Sogar der Kreisarchivar habe "die Schutzbedürftigkeit der Nachkommen Jägers über das öffentliche Interesse an der Aufklärung der Vergangenheit" gestellt. Aus der Verdrängungsphalanx sei das "Geschwister Scholl-Gymnasium" mit Veranstaltungen wohltuend ausgeschert.
Wettes ernüchterndes Resümee über die "Vielzahl ganz normaler Massenmörder wie Karl Jäger" lautet: "Unter den etwa 200 000 deutschen Tätern und ihren Helfern in den eroberten Ländern gab es Zahnärzte und Opernsänger, Lehrer und Schulschwänzer, Juristen, einen Universitätsprofessor, einen Architekten, sogar einen Pfarrer, Katholiken und Protestanten, Jüngere und Ältere. In der Regel kamen diese Männer aus der Mitte der deutschen Gesellschaft und hatten zumeist eine akademische Ausbildung. Der feinsinnige Musiker Karl Jäger, der zum Massenmörder wurde, fällt somit keineswegs aus dem Rahmen des Gruppenprofils deutscher Täter auf der Führungsebene der SS."
RAINER BLASIUS
Wolfram Wette: Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden. Mit einem Vorwort von Ralph Giordano. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 284 S., 9,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Wolfram Wettes Studie über den NS-Massenmörder Karl Jäger lobt Christian Staas als einen "späten Triumph über das Schweigekartell der Nachkriegszeit". Jäger organisierte 1941 die Massenerschießungen der litauischen Juden mit bürokratischer Präzision und kaltem Karrierewillen. Staas sieht in der Aufarbeitung von Jägers Erschießungsberichten ein "Schlüsseldokument des Holocaust", das die Vorgeschichte des organisierten Massenmordes beleuchtet. Karl Jäger war einer der Schreibtischtäter, den Wette in seiner Studie nicht nur in seiner Rolle als ordnungsbeflissenen NS-Mörder beschreibt, sondern auch dessen persönliche Geschichte erzählt. Die ist Wolfram Wette sehr nah, denn wie Jäger stammt er aus dem kleinen Ort Waldkirch bei Freiburg. Wolfram Wettes Aufarbeitung dessen, was um ihn herum lange totgeschwiegen wurde, hat Christian Staas besonders beeindruckt. So erscheint Karl Jäger nicht als ein Täter unter vielen, sondern auch als Täter von nebenan.
© Perlentaucher Medien GmbH
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