Der Wiener Publizist Karl Kraus (1874-1936) war eine zentrale Figur der europäischen Moderne. Sein monumentales Werk umfasst nicht nur Essays, Aphorismen, Gedichte und Dramen, erschienen großteils auf den tausenden Seiten seiner Zeitschrift Die Fackel, sondern auch hunderte Vorlesungen, Radiosendungen, Plakatkampagnen und Rechtsfälle. Er prägte seine Zeit ebenso, wie sie ihn prägte, etwa in dem Antikriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit und der Dritten Walpurgisnacht, seiner frühen Analyse des Nationalsozialismus. Die Kraus'sche Medienkritik, sein präzises Sprachdenken und aufklärerischer Witz haben das kritische Denken weltweit beeinflusst und zeigen bis heute, was es heißt, ein öffentlicher Akteur zu sein.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Spätestens jetzt, da ihm der Metzler-Verlag ein Handbuch widmet und ihn neben Lessing, Kant, Bach und Thomas Mann einreiht, dürfte Karl Kraus es geschafft haben, konstatiert Rezensent Jens Malte Fischer. Das Handbuch, herausgegeben von Simon Ganahl und Katharina Prager, bietet einige neue Erkenntnisse, selbst für Kraus-Kenner, versichert der Kritiker: Etwa zu Herkunft, Bildungsweg oder Essayistik von Kraus. Den größten Teil seiner Kritik widmet Fischer aber jenen Beiträgen, die ihn wirklich ärgern: Etwa wenn Joseph Wälzholz Kraus in einem Text vorwirft, er habe den Ersten Weltkrieg verpennt, weil er mit einer schwierigen Affäre beschäftigt war - oder wenn Wälzholz in einem anderen Text Kraus' Eintreten für Engelbert Dollfuß wenig differenziert darstellt. Auch das Fehlen von Abschnitten zu Kraus und den Dreißiger Jahren, oder zu Kraus' Haltung zur Psychoanalyse oder zum Judentum, stört Fischer. Zudem dürfte nicht jeder Leser in österreichischer Geschichte so bewandert sein, wie es die österreichischen AutorInnen voraussetzen. Dennoch: Die Glanzlichter in diesem Handbuch trösten den Rezensenten darüber hinweg und so hält das Werk für "unverzichtbar".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.11.2022Wo der Polemiker zu verteidigen wäre
Aus dem Handbuch zu Leben und Werk von Karl Kraus erfährt sogar der Kenner Neues. Und doch gibt es merkwürdige Lücken
„Ich bin größenwahnsinnig: ich weiß, daß meine Zeit nicht kommen wird“, formulierte Karl Kraus bereits 1908. Schon in seinen letzten Lebensjahren schien es, als ob sich seine Vorhersage erfüllen würde, und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sah es überhaupt nicht so aus, als ob der einstige, wenn auch immer angefochtene Ruhm sich würde erneuern lassen. Die berühmte Sonderausgabe des Reprints der „Fackel“ von 1977 (wohl mehr gekauft als gelesen) ausgenommen, konnte von einer breit angelegten Kraus-Rezeption in der deutschsprachigen literarischen Öffentlichkeit zunächst einmal nicht wirklich die Rede sein.
Als Wendepunkt wird man einerseits die Werkausgabe von Christian Wagenknecht, erschienen zwischen 1987 und 1994, andererseits das Jahr 1999 betrachten können, als hundert Jahre nach dem ersten Heft der „Fackel“ gleichzeitig im Deutschen Literaturarchiv Marbach und im Jüdischen Museum in Wien zwei unabhängige große Kraus-Ausstellungen gezeigt wurden. Seither hat sich das Interesse an ihm durchaus noch gesteigert, ein aktuelles Indiz für diese Entwicklung ist das gerade erschienene „Karl Kraus Handbuch“ in der renommierten Reihe von Personenhandbüchern des Metzler-Verlags. Nun ist Kraus in der Gesellschaft von Lessing und Thomas Mann, von Kant und Schopenhauer, von Bach, Beethoven und Mahler, also in guter Gesellschaft.
Die Herausgeber Katharina Prager und Simon Ganahl, beide in Wien tätig, haben gründliche Arbeit geleistet: auf 550 doppelspaltigen Seiten ist ein Großteil des gegenwärtigen Kenntnis- und Forschungsstandes zu diesem Autor zusammengefasst, der sich nicht so ohne Weiteres dem Muster dieser Handbücher unterordnet. Bei 35 Beiträgen und fast ebenso vielen Beiträgern kann das Ergebnis nicht völlig einheitlich sein. Es gibt Kapitel, die sogar dem in Sachen Kraus bewanderten Leser Neues zu bieten haben, wie die einleitenden von Katharina Prager über die Herkunft, von Gilbert Carr über den Bildungsweg und von Leo Lensing über das Frühwerk. Gerald Stieg liefert ein rundes Porträt der „Fackel“, Sigurd Paul Scheichl erläutert kundig, warum er den Begriff Essayistik im Falle von Kraus partiell für zutreffend hält. Auch im abschließenden Abschnitt über die Wirkung von Kraus gibt es Höhepunkte, wie das Kapitel von Dietmar Goltschnigg über die zeitgenössische, die sehr persönlichen und anregenden Bemerkungen von Armin Thurnher über die journalistische Wirkung und die kompetente Übersicht von Ron Mieczkowski zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kraus.
Diese Beiträge und die meisten anderen begründen den Wert des neuen Handbuchs. Es ist allerdings auch zu konstatieren, dass demgegenüber Kapitel stehen, die dem Anspruch eines solchen Projekts nicht wirklich gerecht werden. So gibt es im ersten Teil zwei Texte von Joseph Wälzholz, die sich mit dem sogenannten Schweigen von Kraus direkt beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs und mit seinem sogenannten Rückzug Anfang der Dreißigerjahre beschäftigen. In beiden Kapiteln tendiert der Autor dazu, sich als Kraus-Demontierer zu betätigen. Kraus hat in der Tat nicht direkt bei Kriegsausbruch öffentlich reagiert, sondern damit bis zu einer großen Rede Mitte November 1914 gewartet.
Ohne mögliche Gründe für dieses temporäre Schweigen abzuwägen, weiß Wälzholz, was da abgelaufen ist: Kraus war in seine schwierige Affäre mit Sidonie Nádherný von Borutin verstrickt „und hatte im Sommer 1914 in dieser aufreibenden Beziehung anfangs für so nebensächliche Dinge wie einen Weltkrieg den Kopf gar nicht frei“. Eine solche abfällige Bemerkung ausgerechnet gegenüber einem Mann wie Kraus muss man als unangemessen bezeichnen. Zu behaupten, dass der verliebte Kraus irgendwie nicht mitbekommen habe, was da vor sich ging, ist ebenso unzutreffend wie ungerecht.
Nun muss es sich der größte Satiriker und Polemiker der Weltliteratur natürlich gefallen lassen, auch polemisch kritisiert zu werden. Nur: in einem Handbuch, das doch die Aufgabe hat, den gegenwärtigen Erkenntnisstand möglichst ausgewogen abzubilden, hat Polemik dieser Couleur nichts zu suchen. Wälzholz stellt dem von ihm grob getadelten Kraus mit deutlich zu vielen Zitaten den damals bekannten pazifistischen Publizisten Alfred Hermann Fried gegenüber. Der war für sein Engagement bereits vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden, der Kraus trotz entsprechender Vorschläge versagt blieb. Die Zitate zeigen einen honorigen Mann, der mit seinen Einschätzungen in der Tat einige Wochen früher als Kraus an die Öffentlichkeit trat. Es gibt allerdings einen kleinen, aber feinen Unterschied: Die „Letzten Tage der Menschheit“ hat Karl Kraus geschrieben und nicht Alfred Hermann Fried.
Ähnlich problematisch das zweite von Wälzholz verfasste Kapitel über Kraus’ „Rückzug“. Die Gründe des Eintretens von Kraus für Engelbert Dollfuß können hier noch nicht einmal stichwortartig erläutert werden, seine Positionierung war allerdings von erheblicher Tragweite. Sie verdunkelte seine letzten Lebensjahre, weil sie ihn Anhänger- und Freundschaften kostete, und wirft einen Schatten, der bis heute (wie man eben hier sehen kann) nicht gewichen ist. Schon die hier benutzte Bezeichnung „Austrofaschismus“ beinhaltet eine schwerwiegende historiografische, aber auch politische Entscheidung, die anders wirkt, wenn zugleich die Begriffe „autoritärer Ständestaat“ oder „Dollfuß-Schuschnigg-Regime“ (hier ist das Handbuch nicht völlig einheitlich) benutzt werden. Wem rückblickend allerdings Dollfuß und Hitler auf das Gleiche hinauslaufen, der wird dann auch mit Wälzholz bei Kraus, dessen Texte gegen den Nationalsozialismus auf jeder Ehrentafel zu verzeichnen sind, unter Berufung auf Elias Canetti „faschistoide Züge“ konstatieren.
Ähnlich argumentiert Werner Anzenberger in seinem Kapitel zur Parteipolitik, wo Autoren, die sich dieser einseitigen Darstellung nicht anschließen wollen, als Apologeten abgetan werden. Man kann diese Phase der österreichischen Geschichte auch differenzierter bewerten, wie es renommierte österreichische Historiker tun. Das hat für die Einschätzung der Haltung von Kraus erhebliche Auswirkungen. In diesem Zusammenhang erweist sich als Nachteil, dass ein dringend notwendiges Kapitel über Kraus und die Zeitgeschichte der Dreißigerjahre fehlt. Der überwiegende Teil der Leser (mit der österreichischen Geschichte der Zwischenkriegszeit kaum vertraut) dieses vornehmlich von österreichischen Autorinnen und Autoren verfassten Handbuchs wird einerseits den komplexen Sachverhalt kaum adäquat verstehen können. Andererseits aber feststellen, dass offensichtlich im Verhältnis zu den damaligen Ereignissen, die 90 Jahre zurückliegen, immer noch eine Art posttraumatische Belastungsstörung festzustellen ist.
Man vermisst auch eine Darstellung von Kraus’ zwischen Anziehung und Abstoßung schwankender Haltung zur Psychoanalyse, vor allen Dingen aber vermisst man ein Kapitel über seine Position zum Judentum, dem er entstammte, zu dem er aber eine durchaus problematische Abwehrhaltung einnahm, die ihm den Vorwurf des „jüdischen Selbsthasses“ eingetragen hat. Kein Ersatz für ein solches Kapitel ist leider der Abschnitt „Antisemitism“ (eigenartigerweise im englischen Original und nicht übersetzt), verfasst vom amerikanischen Germanisten Paul Reitter. Hier werden zu ausführlich die einschlägigen und vielfach analysierten Texte des 19. Jahrhunderts behandelt, speziell der auch in diesem Zusammenhang sattsam bekannte Richard Wagner, nur nebenbei jedoch Karl Kraus.
Die problematischen Beiträge sind glücklicherweise in deutlicher Minderheit. Mitte der Zwanzigerjahre befand Kraus, dass die Akten über seinen Nachruhm noch nicht geschlossen seien. Auch dieses Handbuch ist kein zuklappender Deckel über der Akte Kraus. Es hat einerseits ein Element der Kanonisierung in sich, über das er selbst sich gewundert hätte, andererseits regt es zu weiteren Diskussionen über ihn und sein Werk an. Insofern wird das Karl Kraus-Handbuch künftig durchaus das sein, was man „unverzichtbar“ nennt.
JENS-MALTE FISCHER
Zu behaupten, der verliebte
Kraus habe den Weltkrieg
versäumt, ist nicht angemessen
Das fehlende Kapitel über sein
Verhältnis zum Judentum ersetzt
das über „Antisemitism“ nicht
Simon Ganahl/
Katharina Prager (Hg.): Karl Kraus Handbuch.
J. B. Metzler,
Heidelberg 2022.
545 Seiten, 99,99 Euro.
Karl Kraus 1913 in Sommerfrische mit dem Schriftsteller Peter Altenberg, der auch die handschriftliche Anmerkung gemacht hat.
Foto: dpa/brandstaetter/Austrian Archives
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Aus dem Handbuch zu Leben und Werk von Karl Kraus erfährt sogar der Kenner Neues. Und doch gibt es merkwürdige Lücken
„Ich bin größenwahnsinnig: ich weiß, daß meine Zeit nicht kommen wird“, formulierte Karl Kraus bereits 1908. Schon in seinen letzten Lebensjahren schien es, als ob sich seine Vorhersage erfüllen würde, und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sah es überhaupt nicht so aus, als ob der einstige, wenn auch immer angefochtene Ruhm sich würde erneuern lassen. Die berühmte Sonderausgabe des Reprints der „Fackel“ von 1977 (wohl mehr gekauft als gelesen) ausgenommen, konnte von einer breit angelegten Kraus-Rezeption in der deutschsprachigen literarischen Öffentlichkeit zunächst einmal nicht wirklich die Rede sein.
Als Wendepunkt wird man einerseits die Werkausgabe von Christian Wagenknecht, erschienen zwischen 1987 und 1994, andererseits das Jahr 1999 betrachten können, als hundert Jahre nach dem ersten Heft der „Fackel“ gleichzeitig im Deutschen Literaturarchiv Marbach und im Jüdischen Museum in Wien zwei unabhängige große Kraus-Ausstellungen gezeigt wurden. Seither hat sich das Interesse an ihm durchaus noch gesteigert, ein aktuelles Indiz für diese Entwicklung ist das gerade erschienene „Karl Kraus Handbuch“ in der renommierten Reihe von Personenhandbüchern des Metzler-Verlags. Nun ist Kraus in der Gesellschaft von Lessing und Thomas Mann, von Kant und Schopenhauer, von Bach, Beethoven und Mahler, also in guter Gesellschaft.
Die Herausgeber Katharina Prager und Simon Ganahl, beide in Wien tätig, haben gründliche Arbeit geleistet: auf 550 doppelspaltigen Seiten ist ein Großteil des gegenwärtigen Kenntnis- und Forschungsstandes zu diesem Autor zusammengefasst, der sich nicht so ohne Weiteres dem Muster dieser Handbücher unterordnet. Bei 35 Beiträgen und fast ebenso vielen Beiträgern kann das Ergebnis nicht völlig einheitlich sein. Es gibt Kapitel, die sogar dem in Sachen Kraus bewanderten Leser Neues zu bieten haben, wie die einleitenden von Katharina Prager über die Herkunft, von Gilbert Carr über den Bildungsweg und von Leo Lensing über das Frühwerk. Gerald Stieg liefert ein rundes Porträt der „Fackel“, Sigurd Paul Scheichl erläutert kundig, warum er den Begriff Essayistik im Falle von Kraus partiell für zutreffend hält. Auch im abschließenden Abschnitt über die Wirkung von Kraus gibt es Höhepunkte, wie das Kapitel von Dietmar Goltschnigg über die zeitgenössische, die sehr persönlichen und anregenden Bemerkungen von Armin Thurnher über die journalistische Wirkung und die kompetente Übersicht von Ron Mieczkowski zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kraus.
Diese Beiträge und die meisten anderen begründen den Wert des neuen Handbuchs. Es ist allerdings auch zu konstatieren, dass demgegenüber Kapitel stehen, die dem Anspruch eines solchen Projekts nicht wirklich gerecht werden. So gibt es im ersten Teil zwei Texte von Joseph Wälzholz, die sich mit dem sogenannten Schweigen von Kraus direkt beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs und mit seinem sogenannten Rückzug Anfang der Dreißigerjahre beschäftigen. In beiden Kapiteln tendiert der Autor dazu, sich als Kraus-Demontierer zu betätigen. Kraus hat in der Tat nicht direkt bei Kriegsausbruch öffentlich reagiert, sondern damit bis zu einer großen Rede Mitte November 1914 gewartet.
Ohne mögliche Gründe für dieses temporäre Schweigen abzuwägen, weiß Wälzholz, was da abgelaufen ist: Kraus war in seine schwierige Affäre mit Sidonie Nádherný von Borutin verstrickt „und hatte im Sommer 1914 in dieser aufreibenden Beziehung anfangs für so nebensächliche Dinge wie einen Weltkrieg den Kopf gar nicht frei“. Eine solche abfällige Bemerkung ausgerechnet gegenüber einem Mann wie Kraus muss man als unangemessen bezeichnen. Zu behaupten, dass der verliebte Kraus irgendwie nicht mitbekommen habe, was da vor sich ging, ist ebenso unzutreffend wie ungerecht.
Nun muss es sich der größte Satiriker und Polemiker der Weltliteratur natürlich gefallen lassen, auch polemisch kritisiert zu werden. Nur: in einem Handbuch, das doch die Aufgabe hat, den gegenwärtigen Erkenntnisstand möglichst ausgewogen abzubilden, hat Polemik dieser Couleur nichts zu suchen. Wälzholz stellt dem von ihm grob getadelten Kraus mit deutlich zu vielen Zitaten den damals bekannten pazifistischen Publizisten Alfred Hermann Fried gegenüber. Der war für sein Engagement bereits vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden, der Kraus trotz entsprechender Vorschläge versagt blieb. Die Zitate zeigen einen honorigen Mann, der mit seinen Einschätzungen in der Tat einige Wochen früher als Kraus an die Öffentlichkeit trat. Es gibt allerdings einen kleinen, aber feinen Unterschied: Die „Letzten Tage der Menschheit“ hat Karl Kraus geschrieben und nicht Alfred Hermann Fried.
Ähnlich problematisch das zweite von Wälzholz verfasste Kapitel über Kraus’ „Rückzug“. Die Gründe des Eintretens von Kraus für Engelbert Dollfuß können hier noch nicht einmal stichwortartig erläutert werden, seine Positionierung war allerdings von erheblicher Tragweite. Sie verdunkelte seine letzten Lebensjahre, weil sie ihn Anhänger- und Freundschaften kostete, und wirft einen Schatten, der bis heute (wie man eben hier sehen kann) nicht gewichen ist. Schon die hier benutzte Bezeichnung „Austrofaschismus“ beinhaltet eine schwerwiegende historiografische, aber auch politische Entscheidung, die anders wirkt, wenn zugleich die Begriffe „autoritärer Ständestaat“ oder „Dollfuß-Schuschnigg-Regime“ (hier ist das Handbuch nicht völlig einheitlich) benutzt werden. Wem rückblickend allerdings Dollfuß und Hitler auf das Gleiche hinauslaufen, der wird dann auch mit Wälzholz bei Kraus, dessen Texte gegen den Nationalsozialismus auf jeder Ehrentafel zu verzeichnen sind, unter Berufung auf Elias Canetti „faschistoide Züge“ konstatieren.
Ähnlich argumentiert Werner Anzenberger in seinem Kapitel zur Parteipolitik, wo Autoren, die sich dieser einseitigen Darstellung nicht anschließen wollen, als Apologeten abgetan werden. Man kann diese Phase der österreichischen Geschichte auch differenzierter bewerten, wie es renommierte österreichische Historiker tun. Das hat für die Einschätzung der Haltung von Kraus erhebliche Auswirkungen. In diesem Zusammenhang erweist sich als Nachteil, dass ein dringend notwendiges Kapitel über Kraus und die Zeitgeschichte der Dreißigerjahre fehlt. Der überwiegende Teil der Leser (mit der österreichischen Geschichte der Zwischenkriegszeit kaum vertraut) dieses vornehmlich von österreichischen Autorinnen und Autoren verfassten Handbuchs wird einerseits den komplexen Sachverhalt kaum adäquat verstehen können. Andererseits aber feststellen, dass offensichtlich im Verhältnis zu den damaligen Ereignissen, die 90 Jahre zurückliegen, immer noch eine Art posttraumatische Belastungsstörung festzustellen ist.
Man vermisst auch eine Darstellung von Kraus’ zwischen Anziehung und Abstoßung schwankender Haltung zur Psychoanalyse, vor allen Dingen aber vermisst man ein Kapitel über seine Position zum Judentum, dem er entstammte, zu dem er aber eine durchaus problematische Abwehrhaltung einnahm, die ihm den Vorwurf des „jüdischen Selbsthasses“ eingetragen hat. Kein Ersatz für ein solches Kapitel ist leider der Abschnitt „Antisemitism“ (eigenartigerweise im englischen Original und nicht übersetzt), verfasst vom amerikanischen Germanisten Paul Reitter. Hier werden zu ausführlich die einschlägigen und vielfach analysierten Texte des 19. Jahrhunderts behandelt, speziell der auch in diesem Zusammenhang sattsam bekannte Richard Wagner, nur nebenbei jedoch Karl Kraus.
Die problematischen Beiträge sind glücklicherweise in deutlicher Minderheit. Mitte der Zwanzigerjahre befand Kraus, dass die Akten über seinen Nachruhm noch nicht geschlossen seien. Auch dieses Handbuch ist kein zuklappender Deckel über der Akte Kraus. Es hat einerseits ein Element der Kanonisierung in sich, über das er selbst sich gewundert hätte, andererseits regt es zu weiteren Diskussionen über ihn und sein Werk an. Insofern wird das Karl Kraus-Handbuch künftig durchaus das sein, was man „unverzichtbar“ nennt.
JENS-MALTE FISCHER
Zu behaupten, der verliebte
Kraus habe den Weltkrieg
versäumt, ist nicht angemessen
Das fehlende Kapitel über sein
Verhältnis zum Judentum ersetzt
das über „Antisemitism“ nicht
Simon Ganahl/
Katharina Prager (Hg.): Karl Kraus Handbuch.
J. B. Metzler,
Heidelberg 2022.
545 Seiten, 99,99 Euro.
Karl Kraus 1913 in Sommerfrische mit dem Schriftsteller Peter Altenberg, der auch die handschriftliche Anmerkung gemacht hat.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2022Karl Kraus lesen
Handbücher sind dazu da, den Stand der Forschung zu einem Gegenstand übersichtlich darzustellen. Die Stimmen ihrer Mitarbeiter dabei deutlich hervortreten zu lassen, dazu ist diese Form eigentlich kaum gedacht. Insofern schlägt sich das neue Handbuch zu Karl Kraus eher auf die Seite der Ausnahmen in diesem Genre. Es ist weit vielstimmiger als eine Sammlung wohldiszipliniert ausgewogener Literaturübersichten zu Facetten von Leben und Werk. Zwar stecken in ihm diese Übersichtsartikel durchaus - manche von ihnen exquisit komponierte und auch mit neuen Quellen versehene Zusammenschauen -, aber einige reagieren recht bestimmt auf früh angelegte und immer wieder revitalisierte Frontstellungen in der Auseinandersetzung um Kraus.
Heikle Punkte, insbesondere natürlich Kraus' späte Parteinahme für den Austrofaschismus in Gestalt des von ihm als vermeintlich einzigem Retter gegen Hitler verehrten Engelbert Dollfuß, verknüpft mit einer gnadenlosen Polemik gegen die österreichische Sozialdemokratie, oder auch die immer einmal wieder aufgeworfene Frage, wie nun genau sein Verhalten bei Kriegsbeginn 1914 ausgesehen hat, werden direkt thematisiert - und das vor allem nicht einfach in defensiver Absicht, wie es unter gestandenen Kraus-Interpreten, vulgo "Krausianern", oft gepflogen wurde. Es ist da ein Handbuch zustande gekommen, das zwar nicht ein so breites Publikum interessieren kann wie Jens Malte Fischers vor vier Jahren erschienene Biographie, die selbst einige Züge eines Handbuchs hat. Aber gerade seine Vielstimmigkeit bei gleichzeitiger Vermeidung eines allzu kleinteiligen Aufbaus, der die Beiträge in den Hauptabschnitten zu Leben, Werk, Kontexten und Rezeption strukturiert, empfiehlt es auch Kraus-Lesern jenseits akademischer Verarbeitungsabsichten. HELMUT MAYER
"Karl Kraus- Handbuch". Leben - Werk - Wirkung.
Hrsg. von K. Prager und S. Ganahl.
Metzler Verlag, Heidelberg 2022. 545 S., geb., 99,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Handbücher sind dazu da, den Stand der Forschung zu einem Gegenstand übersichtlich darzustellen. Die Stimmen ihrer Mitarbeiter dabei deutlich hervortreten zu lassen, dazu ist diese Form eigentlich kaum gedacht. Insofern schlägt sich das neue Handbuch zu Karl Kraus eher auf die Seite der Ausnahmen in diesem Genre. Es ist weit vielstimmiger als eine Sammlung wohldiszipliniert ausgewogener Literaturübersichten zu Facetten von Leben und Werk. Zwar stecken in ihm diese Übersichtsartikel durchaus - manche von ihnen exquisit komponierte und auch mit neuen Quellen versehene Zusammenschauen -, aber einige reagieren recht bestimmt auf früh angelegte und immer wieder revitalisierte Frontstellungen in der Auseinandersetzung um Kraus.
Heikle Punkte, insbesondere natürlich Kraus' späte Parteinahme für den Austrofaschismus in Gestalt des von ihm als vermeintlich einzigem Retter gegen Hitler verehrten Engelbert Dollfuß, verknüpft mit einer gnadenlosen Polemik gegen die österreichische Sozialdemokratie, oder auch die immer einmal wieder aufgeworfene Frage, wie nun genau sein Verhalten bei Kriegsbeginn 1914 ausgesehen hat, werden direkt thematisiert - und das vor allem nicht einfach in defensiver Absicht, wie es unter gestandenen Kraus-Interpreten, vulgo "Krausianern", oft gepflogen wurde. Es ist da ein Handbuch zustande gekommen, das zwar nicht ein so breites Publikum interessieren kann wie Jens Malte Fischers vor vier Jahren erschienene Biographie, die selbst einige Züge eines Handbuchs hat. Aber gerade seine Vielstimmigkeit bei gleichzeitiger Vermeidung eines allzu kleinteiligen Aufbaus, der die Beiträge in den Hauptabschnitten zu Leben, Werk, Kontexten und Rezeption strukturiert, empfiehlt es auch Kraus-Lesern jenseits akademischer Verarbeitungsabsichten. HELMUT MAYER
"Karl Kraus- Handbuch". Leben - Werk - Wirkung.
Hrsg. von K. Prager und S. Ganahl.
Metzler Verlag, Heidelberg 2022. 545 S., geb., 99,99 Euro.
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