Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 12,90 €
  • Gebundenes Buch

Eine umfassende Darstellung von Leben und Werk Karl Kraus'. Frei von den mitunter sektiererischen Anwandlungen der deutschsprachichen Kraus-Forschung schafft der englische Germanist Edward Timms zu Leben, Denken und Schreiben des Satirikers einen Zugang, der für den Laien eine Einführung und für den Kraus-Kenner gewiß noch eine Erweiterung seines Wissens bringt. Der vorliegende erste Band dieser auf zwei Bände angelegten Monographie - gegenüber der englischen Ausgabe beträchtlich ergänzt und erweitert - schließt mit den Ersten Weltkrieg ab, dem Armageddon des habsburgischen Österreich, dessen…mehr

Produktbeschreibung
Eine umfassende Darstellung von Leben und Werk Karl Kraus'. Frei von den mitunter sektiererischen Anwandlungen der deutschsprachichen Kraus-Forschung schafft der englische Germanist Edward Timms zu Leben, Denken und Schreiben des Satirikers einen Zugang, der für den Laien eine Einführung und für den Kraus-Kenner gewiß noch eine Erweiterung seines Wissens bringt. Der vorliegende erste Band dieser auf zwei Bände angelegten Monographie - gegenüber der englischen Ausgabe beträchtlich ergänzt und erweitert - schließt mit den Ersten Weltkrieg ab, dem Armageddon des habsburgischen Österreich, dessen Wahnwitz Kraus in seinen visionären Drama "Die letzten Tage der Menschheit" mit beispielloser Ausdruckskraft verewigt hat, seiner eigenen wie künftigen Generationen zur Mahnung.
Autorenporträt
Edward Timms, 1937 in Windlesham, England, geboren, Studium an der Universität Cambridge, zahlreiche Forschungsaufenthalte in Wien, 1963-1965 Dozent für Germanistik an der University of Cambridge, seit Januar 1991 Professor der Germanistik an der University of Sussex. Direktor des Centre of German-Jewish Studies. Zahlreiche Veröffentlichungen auf den Gebieten der Germanistik und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie zur Geschichte der Psychoanalyse.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2016

Das geheime Muster des Karl Kraus

Ein Forscherleben für den Satiriker der Apokalypse: Edward Timms ist der beste Kenner des Wiener Großschriftstellers. Im Herbst erscheint endlich der zweite Band seiner Biographie.

BRIGHTON, im Juni.

Die Gründung der University of Sussex liegt in diesem Jahr fünfeinhalb Jahrzehnte zurück. Hier, in den Ausläufern der South Downs, ein paar Kilometer landeinwärts vom Brighton Pier, studieren elftausend junge Leute an einer der angesehensten Hochschulen des noch Vereinigten Königreiches. Eine kleine Stadt beinahe, ein weitläufiger Campus, Zweckbauten mit Flachdächern und zugigen Fenstern, Supermärkte, Wohnheime, umgeben von einem Naturschutzgebiet. Im Bramber House kocht man multiethnisch, was bedeutet, dass ein vom Balkan stammender Koch ein indisches Reisgericht zubereitet.

Edward Timms ist mit seinem selbstfahrenden Rollstuhl ganz selbstverständlich durch die Studententrauben in den ersten Stock gefahren. Nächstes Jahr wird er achtzig, seit zwanzig Jahren geht er mit einer Krankheit um, die seine Bewegungsfähigkeit stark einschränkt, nicht aber seine geistige Wachheit. Er ist hier eine Institution, spätestens seit er 1994 das Centre for German-Jewish Studies gegründet hat. Seine Nachfolger im Direktorenamt waren zwei bekannte deutsche Wissenschaftler: 2001 übernahm Raphael Gross für fünf Jahre das Amt, bevor er die Leitung des Jüdischen Museums ins Frankfurt übernahm; gefolgt von Christian Wiese, der 2010 als Martin-Buber-Professor ebenfalls am Main antrat. Heute leitet der 1965 in Jerusalem geborene Historiker Gideon Reuveni das Studienzentrum.

Timms ist als Engländer eine Besonderheit im insgesamt nicht sehr weitläufigen Kreis der Karl-Kraus-Forschung: Er hat die bis heute maßgebliche zweibändige Gesamtdarstellung geschrieben, "Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse". Deren zweiter Teil erscheint nun endlich in diesem Herbst in dem österreichischen Verlag Bibliothek der Provinz, der damit eine dreißigjährige Publikationsmalaise beendet. Schon der erste Band, im Original 1986 bei Yale University Press erschienen, brauchte neun Jahre, bis er in deutscher Übersetzung 1995 bei Deuticke herauskam. Der zweite Band erschien 2005, bis zur übersetzten Ausgabe werden elf Jahre vergangen sein. Das passt zwar einerseits zum sperrigen Werk von Kraus, wirft aber kein gutes Licht auf die beteiligten Verlage, die lieber auf die Veröffentlichung verzichteten beziehungsweise sich vornehm zurückhielten, namentlich Suhrkamp und Hanser. Timms erinnert sich: "Ich war vor zehn Jahren beim Deuticke Verlag in Wien, der damals gerade vom Hanser Verlag gekauft worden war, und traf auch Michael Krüger, der sich die Kosten für die Übersetzung hatte ausrechnen lassen. Er sagte, er sei zu dem Ergebnis gekommen, dass ein so umfangreiches Buch sich nicht rentieren würde." Suhrkamp, wo unter anderem eine Werkausgabe von Kraus vorliegt, hat sich darauf beschränkt, 1999 die Taschenbuchausgabe des Deuticke-Bandes zu machen.

Wie bei dem Gegenstand nicht anders zu erwarten, ist die Übersetzung Tüftelarbeit; schon der erste Band brauchte zwei Übersetzer. Dazu Timms: "Als Übersetzer muss man den ganzen Hintergrund der österreichischen Kultur- und Sozialgeschichte kennen und sollte daher an der Quelle sitzen. Die jetzige Übersetzerin Brigitte Stocker war sehr prinzipientreu, sie hat nie eine Rückübersetzung gemacht, sondern hat immer auf das Original zurückgegriffen." Internet und die online verfügbare Ausgabe der von Kraus seit 1899 herausgegebenen und von 1904 an allein von ihm verfasste Zeitschrift "Die Fackel" erleichtern gewiss vieles, aber ohne ausgiebige Recherchen in der Nationalbibliothek oder in der Wien Bibliothek, wo der Nachlass verwahrt wird, ist eine seriöse Übersetzung nicht zu haben.

Der zweite Band wird auf den Übertitel "Satiriker der Apokalypse" verzichten und "Karl Kraus. Die Krise der Nachkriegszeit und der Aufstieg des Hakenkreuzes" heißen. Das Nazi-Emblem im Titel auch deshalb, weil es Kraus, wie Timms erklärt, an rund neunzig Stellen erwähnt beziehungsweise sprachspielerisch damit umgeht. "Kraus hat vielfach darauf angespielt, etwa mit Wendungen wie ,Das Kreuz gewinnt die Hakenform', um Querverbindungen zwischen Klerikalismus und Faschismus anzudeuten." Und so erlebt man als Leser des elegant geschriebenen zweiten Bandes einen weitaus politischeren Publizisten als den primär satirischen Künstler des ersten Bandes.

Wie kam es überhaupt dazu, dass sich ein englischer Student in das Werk des Wiener Publizisten verliebte? "Das Schuljahr 1959/60 verbrachte ich in Fürth als unerfahrener Assistent für Englisch. Als ich mich über den Mangel an zeitkritischen deutschen Autoren beklagte, hat mich ein Kollege auf Tucholsky und Kraus aufmerksam gemacht. Tucholsky gefiel mir zwar, aber nicht als Forschungsgegenstand, dafür war er mir viel zu durchsichtig. Man konnte auf den ersten Blick erkennen, was er mit seinen Texten wollte. Bei Kraus war im Gegensatz dazu alles verschlüsselt."

In Cambridge traf Timms auf einen akademischen Lehrer, bei dem er promovieren wollte: den Germanisten Joseph Peter Stern, ein Flüchtling aus der Tschechoslowakei. "Als ich das erste Mal in seinem Büro saß, stand auf dem Regal die ganze ,Fackel' in Originalausgaben. Er sagte: ,Sie müssen erst einmal alles durchlesen.'" Das bedeutete Schwerstarbeit, 922 Ausgaben mit einem Umfang von mehr als 20 000 Druckseiten. Kein Wunder, dass Timms am Ende sieben Jahre brauchte. Das habe aber "auch an der Tiefe der Texte" gelegen: "Auf jeder Seite wimmelte es von Namen und Anspielungen. Ich vergleiche das mit einem Puzzle: Erst wenn man die Oberfläche bei Kraus umdreht, entdeckt man das geheime Muster. Wenn man in den ,Letzten Tagen der Menschheit' auf einen Teutomanen namens Pogatschnigg trifft, glaubt man, das müsse eine satirische Erfindung sein. Und dann entdeckte ich, dass es unter den frühen Anhängern Adolf Hitlers wirklich einen Pogatschnigg gegeben hat - da gab es etwas zu erforschen."

Die Wege zu Kraus sind oft verschlungen, aber wer einmal affiziert ist, wird den Radikalisten erfahrungsgemäß nicht mehr los. Siehe Elias Canetti, siehe Hans Weigel, Helmut Qualtinger, Hans Wollschläger, Nike Wagner, Uwe Dick, Jonathan Franzen. Auch im Falle von Edward Timms war es die Präzision des Stils, die Deckungsgleichheit von Leben und Werk, die Kraus wie wenige andere verkörpert, die seine Neugier weckte. Er habe einmal den Kraus-Forscher Werner Welzig, der aus einem katholischen Milieu in Wien stammt, gefragt, woher seine Begeisterung für Kraus rühre, erzählt Timms. Welzig habe geantwortet, er hätte sich von einem Priester beraten lassen, wer das beste Deutsch der Ersten Republik geschrieben habe.

Reden wir also über die "Letzten Tage der Menschheit", jenes vielstimmige Mammutwerk aus Hunderten von Figuren, das mit der Nachricht von der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo und damit am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Wien einsetzt. Wie sehr die jahrzehntelange Beschäftigung mit Kraus sich auf Timms ausgewirkt hat, merkt man sowohl im schriftlichen als auch im mündlichen Umgang: Er spricht und schreibt ein makelloses, ein wenig aus der Zeit gefallenes Deutsch; und er hat immer noch nicht genug von seinem Forschungsgegenstand: Ende 2015 hat er zusammen mit Fred Bridgham die erste vollständige Übersetzung von "The Last Days of Mankind" herausgebracht.

Das Echo blieb überschaubar, Kraus ist in den angelsächsischen Ländern noch immer ein großes Gerücht. In einer der wenigen Rezensionen bemängelte der Historiker Richard Evans, dass die Übersetzung versuche, die dialektale Färbung des Textes nachzuempfinden - das solle man besser den Schauspielern überlassen. Timms widerspricht ungewohnt energisch: "Die Andeutung für den Schauspieler muss da sein, sonst spricht man den Dialog wie in einem Stück von George Bernard Shaw. Der englische Kritiker mag von einem well-made play geträumt haben, aber Kraus' Meisterwerk ist das genaue Gegenteil eines konventionellen abendfüllenden Stückes. Er will etwas völlig anders vermitteln als die herkömmliche Theatertradition."

Vor hundert Jahren, im dritten Kriegsjahr, begann Kraus mit der Niederschrift des Stücks, erste Kostproben seiner polyphonen Stimmensammlung veröffentlichte er in der "Fackel". Timms plädiert dafür, "Die letzten Tage der Menschheit" nicht nur als Zeitdokument zu interpretieren, sonder als große Anklage - und als ahnungsvolle Vorausschau auf den nächsten, noch viel größeren Krieg. "Kraus war ein prophetischer Autor. Schon im Ersten Weltkrieg hat er Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung als ,Luftmord' bezeichnet: in der Absicht, eine Munitionsfabrik zu treffen, zerstört man eine Mädchenschule!"

Der Jude Kraus war 1911 in die katholische Kirche eingetreten, sein Freund, der Architekt Adolf Loos, habe ihn "in die Arme der allein seligmachenden Kirche" geleitet, schrieb er später. Die Konversion verlief in aller Stille, Kraus wollte in der Öffentlichkeit nicht als Opportunist dastehen. Der Austritt war dann aber 1922 doch recht geräuschvoll, weil sich Kraus darüber echauffierte, dass die katholische Kirche Max Reinhardt die Salzburger Kollegienkirche als Theater-Spielstätte zur Verfügung stellte.

Anders als die Zeitdiagnostiker Tucholsky und George Orwell, habe Kraus' Stück vor diesem Hintergrund auch eine religiöse Dimension, die oft übersehen werde. Timms macht sie so dingfest: "In den ,Letzten Tagen der Menschheit' fällt auf, dass die kriegsbegeisterten Geistlichen meistens Protestanten sind. Besonders wirksam ist die Gegenüberstellung des kriegshetzerischen Zeitungspapstes Moriz Benedikt mit Papst Benedikt XV. Erst nach dem Krieg baute Kraus Szenen in das Stück ein, die die Haltung der katholischen ,Reichspost' anprangerten. In der Kriegs-,Fackel' und in der 1919 erschienenen Erstausgabe der ,Letzten Tage' war das weniger betont."

Man kann nicht über Leben und Werk von Karl Kraus sprechen, ohne über die Rolle zu reden, die seine langjährige Geliebte Sidonie Nádherná von Borutin darin spielt. Denn wie so oft war Kraus auch beim Schreiben der "Letzten Tage" Gast im Schloss Janowitz in Böhmen, das damals noch in ganzer Schönheit blühte, bevor es zwischen die Mühlsteine des politischen Systeme geriet und in einen Abgrund taumelte. Einen Niedergang, den Friedrich Pfäfflin minutiös rekonstruierte (F.A.Z. vom 8. September 2015). Neuerdings keimt aber wieder neues Leben dort auf (F.A.Z. vom 23. August 2014).

Was Sidonies Image als Kraus' intellektuell nicht ebenbürtige Gefährtin angeht, die ihren Verlust erst begriff, als Kraus 1936 gestorben war, ist Timms anderer Meinung: "Von Sidonie Nádherná behauptete Kraus einmal scherzhaft, sie sei nur mit zwei Büchern vertraut: mit seinen Gedichten und dem Eisenbahnfahrplan. Aber als ich in Prag ihre Tagebücher las, habe ich ein völlig anderes Bild herausgelesen. Was sie alles gelesen hatte als junge Frau, die nicht studieren durfte, die zuhause unterrichtet wurde und früh heiraten sollte! Sie kannte nicht nur Rilke, sondern verehrte auch Kierkegaard. Sie war eine feinfühlige und leidenschaftliche Frau, eine polygame Natur mit vielen Beziehungen, von denen ein paar ihre Persönlichkeit tief geprägt haben." Wie viele Krausianer hofft Timms, dass ihre Briefe an Kraus, die als verschollen gelten, auftauchen. "Das würde mich nicht überraschen. Wer würde einen solchen Schatz zerstören?"

Dass Kraus heute in Österreich eine gleichzeitig kanonische und doch manchen Kreisen unwillkommene Figur ist, nimmt Timms achselzuckend zur Kenntnis. Kein Wunder, seine Österreicher kennt er nach jahrzehntelangem Umgang mit ihnen recht gut, auch wenn er diplomatisch vorsichtig mit ihnen umgeht, etwa wenn es um die Frage geht, ob die Rezeption von Kraus möglicherweise darunter leidet, dass er bis heute mit der Zuschreibung "Nestbeschmutzer" etikettiert wird? ",Nestbeschmutzung' ist ein Begriff, der im Zusammenhang mit Kraus immer wieder auftaucht. In Wirklichkeit war er ein Gegner des engstirnigen Nationalismus in jeder Form."

Einen wie Kraus könnte die Gegenwart gut gebrauchen, in der es in vielen Ländern um die Pressefreiheit schlecht bestellt ist. Aktuell macht Timms aufgrund seiner familiären Situation besonders die Türkei Sorgen. Als Ehemann einer türkischstämmigen Physikerin, mit der er die Biographie des Dichters Nazim Hikmet schrieb (Saime Goksu, Edward Timms: "Romantic Communist", 2006), verweist er auf die aktuelle Lage in der Türkei: "Ein Journalist, der etwas Kritisches gegen Präsident Erdogan sagt, wird sofort vor Gericht gestellt - wegen Beleidigung der Republik Türkei. Was für eine Vorstellung!"

Dass Edward Timms neben seiner lebenslangen Hingabe an den Satiriker auch noch anderes im Sinn hatte, zeigt eine Blick auf seine Veröffentlichungsliste und in seine vor drei Jahren vorgelegte Autobiographie ("Taking Up The Torch"). So hat er sich zuletzt einer in Deutschland beinahe vergessenen Frau, der Stuttgarter Pazifistin Anna Haag, gewidmet. "Anna Haag and her Secret Diary" ist in diesem Frühjahr bei Peter Lang erschienen. Die Monographie wertet die im Stuttgarter Stadtarchiv aufbewahrten Tagebücher aus; sie zeigen eine Frau, die früh, hellsichtig und mit äußerster Schärfe, die Barbarei des Nationalsozialismus durchschaute und geißelte. Timms vergleicht deren Bedeutung "auf der Ebene der Einsicht und Prinzipientreue ohne weiteres mit den Tagebüchern Viktor Klemperers".

Das Vereinigte Königreich und Österreich haben Timms längst mit Orden bedacht. Deutsche Leser könnten anfangen, die Arbeit dieses Gelehrten zur Kenntnis zu nehmen. Kraus, das darf man unterstellen, wäre mit Timms' wissenschaftlicher Prosa einverstanden gewesen.

HANNES HINTERMEIER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr