karl Kraus: Dramatiker, Satiriker und radikaler Humanist - prangerte in seinen Schriften die bürgerliche Doppelmoral, die skrupellose Kriegsverherrlichung und die Presse seiner Zeit an und wurde so zur moralisch-künstlerischen Autorität.
Bert Brecht nannte ihn "den ersten Schriftsteller unserer Zeit".
Bert Brecht nannte ihn "den ersten Schriftsteller unserer Zeit".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003Eine Feder hat er, das muß man ihm lassen
Nicht lang gefackelt: Die Karl-Kraus-Biographie von Friedrich Rothe / Von Burkhard Spinnen
Es gibt sie ja, die Sympathie auf den ersten Blick; Verhaltensfachleute verstehen sich sogar mehr und mehr dazu, sie zur einzig dauerhaften zu erklären. Es gibt freilich auch das Gegenteil; und genau das habe ich nach wenigen Seiten Lektüre dieses Buches empfunden und bin es bis zum Schluß trotz aller Bemühungen nicht losgeworden. Wenn nun aber ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es dabei irgendwie falsch klingt, dann kann das nach Lichtenberg mindestens zwei Gründe haben.
Fangen wir beim ersten an, also bei mir. Ich bin mit dem Werk von Karl Kraus, wie soll ich sagen, literarisch und intellektuell sozialisiert worden. Wohlgemerkt: mit dem Werk, also insbesondere mit der "Fackel" als dem Niederschlag aus siebenunddreißig Jahren des unausgesetzten Kampfes gegen Presse und Phrase. Man liest ja, wenn man Kraus mit Emphase liest, weniger einzelne Texte, vielmehr stets Teile eines sprach- und medienkritischen Mammutunternehmens; die "Fackel" ist das Protokoll einer lebenslangen Anstrengung, sich gegen die Attacken aus vorsätzlichem Sprachmißbrauch und unbewußter Sprachverhunzung zur Wehr zu setzen. Seltsam daher, dann aber wieder verständlich, daß ich als "Fackel"-Leser weniger ein Bild dieses unermüdlichen "Menschen" Karl Kraus und vielmehr eines der "Instanz" K. K. imaginierte. Offen gesagt, in all den Jahren meiner Kraus-Lektüre habe ich (als ein zumindest durchschnittlich neugieriger Mensch) nie das Bedürfnis verspürt, eine Kraus-Biographie zu lesen. Tatsächlich war doch dieses "Leben" in den Satiren und Glossen, in den Polemiken und Essays vollständig aufgegangen.
"Ich" heißt es zwar immer wieder in siebenunddreißig "Fackel"-Jahren. Ich, ich, ich. Aber dieses Ich bezeichnet ja nicht eine Person, etwa den 1874 in Böhmen als Sohn eines Unternehmers geborenen, in Wien aufgewachsenen und später als freier Kritiker arbeitenden Herrn Kraus, lange Zeit wohnhaft Lotharinger Straße - es bezeichnet vielmehr die "persona", das figürliche Zentrum der satirischen Entrüstung, das von der Phrase verletzte Bewußtsein und endlich die sprachrichtende Instanz. Sich dazu einen zu denken, der Körpergröße und Gewicht, Wohnung und Liebesaffären und ökonomische Verhältnisse hat, das kam mir nicht in den Sinn. Oder anders gesagt: das wurde mir bei der Lektüre mit Vorsatz und gründlichem Erfolg ausgetrieben!
Kein Wunder also, daß ich auf jedes Ansinnen, den sogenannten Menschen hinter diesem sprachkritischen Jahrhundertwerk zu rekonstruieren, reagieren muß, als würde ich (das heißt mal wieder: meine Leseerfahrung) grob beleidigt. Und wenn nun der Berliner Literaturwissenschaftler Friedrich Rothe seine Kraus-Biographie auch noch damit beginnt, ausgerechnet die politischen Verwerfungen zu beschreiben, in die Karl Kraus in den letzten drei Jahren seines Lebens geriet, von der Machtergreifung der Nazis bis zu seinem Tod im Sommer 1936, wenn er hier ausführlich schildert, welche Klientel Kraus verschreckte, als er den Dollfußschen Ständestaat als Bollwerk gegen den Nazismus verteidigte - ja, dann bin ich nicht nur beleidigt, sondern regelrecht aufgebracht. Ausgerechnet mit einer Phase beginnen, in der alles ins Chaos geriet, und nach über sechzig Seiten noch immer nicht damit begonnen, dem vielleicht nicht ganz einschlägig vorgebildeten Leser ein bisserl zu erklären, was der Herr Kraus denn so gemacht hat und wie er dazu gekommen ist in den letzten paarunddreißig Jahren, das fand ich geradezu empörend. Was reitet diesen Mann? habe ich mich gefragt. Haben ihn die Verlagslektoren vielleicht gezwungen, eine Biographie mit dem Ende zu beginnen, weil an diesem Ende mit dem Nazismus etwas im Leben von Kraus auftaucht, womit größere Bevölkerungsschichten sich (via Guido Knopp) besser auskennen als mit der Sprachkritik und der literarischen Welt um 1900?
So! Und jetzt beruhige ich mich wieder. - Es ist ja ein durchaus legitimes Unterfangen, eine Biographie zu schreiben ("eine" übrigens, nicht "die", wie hier der Untertitel verkündet). Und wer eine Biographie schreibt und wirklich eine Biographie, nicht eine Hagiographie, der muß auch ins Privatleben einer Instanz schauen dürfen, der muß mit dem "Menschlichen" auch bisweilen das Halbherzige und das Unausgewogene oder gar das Banale zur Kenntnis nehmen und geben. Rothe tut das, im gebotenen Maße. Seine Biographie hat etwas im guten Sinne des Wortes Biederes; sie stützt sich fast ausschließlich auf die teils längst bekannten Quellen, auf die "Fackel" also und auf die veröffentlichten Briefwechsel. Keineswegs unternimmt sie den so risikoreichen Versuch, einen "unbekannten" oder gar den "anderen" Kraus zu konstruieren. Der Versuch, Werk und Leben gleichmäßig zu gewichten, bestimmte Höhepunkte des Werkes auszumachen und sie bestimmten Lebensphasen zuzuordnen, bewegt sich in den Bahnen der bisherigen Forschung. Schließlich werden nach der verkorksten Einleitung auch Kraus' sprachkritische Grundlagen und sein intellektuelles Umfeld so erläutert, wie es eine auf den größten gemeinsamen Nenner gebrachte Kraus-Forschung wahrscheinlich ganz ähnlich tun würde. Ein besonderes Interesse widmet Rothe dem Vorleser Karl Kraus; wo das Werk in der Stimme des Autors Gestalt annimmt, verspricht ja eine besondere Einheit von Leben und Werk zu erscheinen. Und natürlich fehlt auch nicht das Kapitel über Kraus' Beziehung zu seinem Judentum und dem der anderen.
Kurzum, daß dieses Buch den Kraus-Jüngern wenig vermittelt, was sie nicht schon kennten, ist völlig richtig; doch dieses in einem Publikumsverlag erscheinende Buch hat vielleicht auch eher das Ziel, sich an einen weiteren Kreis von Interessierten zu wenden, an die vielen zumal, die sich Werke und Epochen am liebsten durch Lebensbeschreibungen erschließen.
Damit wäre die Sache also wieder einigermaßen ins Gleichgewicht gebracht. In meinem Kopf geht es nun einmal ein bißchen arg kraus zu, und die Biographie von Friedrich Rothe hat am Anfang einen Knacks und bohrt keine allzu dicken Bretter. Ich sollte mich jetzt daran gewöhnen, daß die Instanz K. K. sich einmal privatim in eine böhmische Gräfin verliebte und dabei hinnahm, wie seine verehrte Sidi nicht genug moralische Selbständigkeit besaß, um das etwas Unstandesgemäße einer solche Beziehung in Kauf zu nehmen. Gut. Und daß es den immerhin deutschsprachigen Schriftsteller Kraus auch einmal aus dem Wiener Reservat in die deutsche Metropole und zu den deutschen Lesern gezogen hat, darf mich auch nicht verschrecken. Es wollen ja immer noch alle nach Berlin.
Aber: nein! Auf so ein Wiegel-Wagel darf meine Rezension nicht hinauslaufen - mein Kraus würde mir im Traum erscheinen und ein Urteil verlangen. Und das fälle ich auch. Es lautet, wie gesagt: Nein! Denn letzten Endes bin ich doch überzeugt, daß man es eben nicht so machen darf wie Friedrich Rothe. Kaum ein Autor hat so wie Kraus sein "Leben" in ein Periodikum von Texten verwandelt; seine Entrüstung: Satiren; seine größte Handgreiflichkeit: eine Plakataktion; seine Weltanschauung: ein Weltkriegsdrama; seine Liebe: Gedichte. Und also - davon bin ich überzeugt - darf es keine "Biographie" geben, die so tut, als ließe sich das Produkt dieser Metamorphose ohne größere Schwierigkeiten in Werk und Leben auseinanderdividieren.
Wären da nicht die paar Briefwechsel, besonders der mit Frau Nadherny, wir wüßten ja gar nichts über den "privaten" Kraus, wir wüßten nicht einmal, wie wir danach fragen sollten. Friedrich Rothe aber sammelt diese wenigen Schlüssellochbilder - den unglücklichen Liebhaber, den begeisterten Vorleser, den gescheiterten Konvertiten und den verkannten Parteiwechsler Kraus - und klebt sie auf einen Passierschein, der den Weg hinter das Werk und hinein in das Leben frei machen soll. Worauf dann freilich über weite Strecken nichts als die übliche Kartographie des sprachkritischen Werkes betrieben wird, weil ja bei gegebener Materiallage nichts anderes möglich ist.
Schwindel ist das nicht, Blauäugigkeit allemal. Ich muß mir nur Karl Kraus als Leser dieser seiner Biographie vorstellen. Er würde sie wahrscheinlich unter die Garderobengespräche zählen, die die Zuhörer seiner Lesungen führten, um den unerhörten Eindruck schnell wieder abzuschütteln und in das Mittelmaß ihres Alltags zurückzukehren. "Eine Feder hat er, das muß ihm der Neid lassen", sagten damals die leicht indignierten Bildungsbürger. "Er is doch e Jud", sagten die beleidigten Juden. Und was sagen heute die Literaturwissenschaftler? "Ooch son Dichta!" - Aber das trifft es nicht.
Friedrich Rothe: "Karl Kraus". Die Biographie. Piper Verlag, München 2003. 423 S., geb., 24,90 [Euro].
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Nicht lang gefackelt: Die Karl-Kraus-Biographie von Friedrich Rothe / Von Burkhard Spinnen
Es gibt sie ja, die Sympathie auf den ersten Blick; Verhaltensfachleute verstehen sich sogar mehr und mehr dazu, sie zur einzig dauerhaften zu erklären. Es gibt freilich auch das Gegenteil; und genau das habe ich nach wenigen Seiten Lektüre dieses Buches empfunden und bin es bis zum Schluß trotz aller Bemühungen nicht losgeworden. Wenn nun aber ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es dabei irgendwie falsch klingt, dann kann das nach Lichtenberg mindestens zwei Gründe haben.
Fangen wir beim ersten an, also bei mir. Ich bin mit dem Werk von Karl Kraus, wie soll ich sagen, literarisch und intellektuell sozialisiert worden. Wohlgemerkt: mit dem Werk, also insbesondere mit der "Fackel" als dem Niederschlag aus siebenunddreißig Jahren des unausgesetzten Kampfes gegen Presse und Phrase. Man liest ja, wenn man Kraus mit Emphase liest, weniger einzelne Texte, vielmehr stets Teile eines sprach- und medienkritischen Mammutunternehmens; die "Fackel" ist das Protokoll einer lebenslangen Anstrengung, sich gegen die Attacken aus vorsätzlichem Sprachmißbrauch und unbewußter Sprachverhunzung zur Wehr zu setzen. Seltsam daher, dann aber wieder verständlich, daß ich als "Fackel"-Leser weniger ein Bild dieses unermüdlichen "Menschen" Karl Kraus und vielmehr eines der "Instanz" K. K. imaginierte. Offen gesagt, in all den Jahren meiner Kraus-Lektüre habe ich (als ein zumindest durchschnittlich neugieriger Mensch) nie das Bedürfnis verspürt, eine Kraus-Biographie zu lesen. Tatsächlich war doch dieses "Leben" in den Satiren und Glossen, in den Polemiken und Essays vollständig aufgegangen.
"Ich" heißt es zwar immer wieder in siebenunddreißig "Fackel"-Jahren. Ich, ich, ich. Aber dieses Ich bezeichnet ja nicht eine Person, etwa den 1874 in Böhmen als Sohn eines Unternehmers geborenen, in Wien aufgewachsenen und später als freier Kritiker arbeitenden Herrn Kraus, lange Zeit wohnhaft Lotharinger Straße - es bezeichnet vielmehr die "persona", das figürliche Zentrum der satirischen Entrüstung, das von der Phrase verletzte Bewußtsein und endlich die sprachrichtende Instanz. Sich dazu einen zu denken, der Körpergröße und Gewicht, Wohnung und Liebesaffären und ökonomische Verhältnisse hat, das kam mir nicht in den Sinn. Oder anders gesagt: das wurde mir bei der Lektüre mit Vorsatz und gründlichem Erfolg ausgetrieben!
Kein Wunder also, daß ich auf jedes Ansinnen, den sogenannten Menschen hinter diesem sprachkritischen Jahrhundertwerk zu rekonstruieren, reagieren muß, als würde ich (das heißt mal wieder: meine Leseerfahrung) grob beleidigt. Und wenn nun der Berliner Literaturwissenschaftler Friedrich Rothe seine Kraus-Biographie auch noch damit beginnt, ausgerechnet die politischen Verwerfungen zu beschreiben, in die Karl Kraus in den letzten drei Jahren seines Lebens geriet, von der Machtergreifung der Nazis bis zu seinem Tod im Sommer 1936, wenn er hier ausführlich schildert, welche Klientel Kraus verschreckte, als er den Dollfußschen Ständestaat als Bollwerk gegen den Nazismus verteidigte - ja, dann bin ich nicht nur beleidigt, sondern regelrecht aufgebracht. Ausgerechnet mit einer Phase beginnen, in der alles ins Chaos geriet, und nach über sechzig Seiten noch immer nicht damit begonnen, dem vielleicht nicht ganz einschlägig vorgebildeten Leser ein bisserl zu erklären, was der Herr Kraus denn so gemacht hat und wie er dazu gekommen ist in den letzten paarunddreißig Jahren, das fand ich geradezu empörend. Was reitet diesen Mann? habe ich mich gefragt. Haben ihn die Verlagslektoren vielleicht gezwungen, eine Biographie mit dem Ende zu beginnen, weil an diesem Ende mit dem Nazismus etwas im Leben von Kraus auftaucht, womit größere Bevölkerungsschichten sich (via Guido Knopp) besser auskennen als mit der Sprachkritik und der literarischen Welt um 1900?
So! Und jetzt beruhige ich mich wieder. - Es ist ja ein durchaus legitimes Unterfangen, eine Biographie zu schreiben ("eine" übrigens, nicht "die", wie hier der Untertitel verkündet). Und wer eine Biographie schreibt und wirklich eine Biographie, nicht eine Hagiographie, der muß auch ins Privatleben einer Instanz schauen dürfen, der muß mit dem "Menschlichen" auch bisweilen das Halbherzige und das Unausgewogene oder gar das Banale zur Kenntnis nehmen und geben. Rothe tut das, im gebotenen Maße. Seine Biographie hat etwas im guten Sinne des Wortes Biederes; sie stützt sich fast ausschließlich auf die teils längst bekannten Quellen, auf die "Fackel" also und auf die veröffentlichten Briefwechsel. Keineswegs unternimmt sie den so risikoreichen Versuch, einen "unbekannten" oder gar den "anderen" Kraus zu konstruieren. Der Versuch, Werk und Leben gleichmäßig zu gewichten, bestimmte Höhepunkte des Werkes auszumachen und sie bestimmten Lebensphasen zuzuordnen, bewegt sich in den Bahnen der bisherigen Forschung. Schließlich werden nach der verkorksten Einleitung auch Kraus' sprachkritische Grundlagen und sein intellektuelles Umfeld so erläutert, wie es eine auf den größten gemeinsamen Nenner gebrachte Kraus-Forschung wahrscheinlich ganz ähnlich tun würde. Ein besonderes Interesse widmet Rothe dem Vorleser Karl Kraus; wo das Werk in der Stimme des Autors Gestalt annimmt, verspricht ja eine besondere Einheit von Leben und Werk zu erscheinen. Und natürlich fehlt auch nicht das Kapitel über Kraus' Beziehung zu seinem Judentum und dem der anderen.
Kurzum, daß dieses Buch den Kraus-Jüngern wenig vermittelt, was sie nicht schon kennten, ist völlig richtig; doch dieses in einem Publikumsverlag erscheinende Buch hat vielleicht auch eher das Ziel, sich an einen weiteren Kreis von Interessierten zu wenden, an die vielen zumal, die sich Werke und Epochen am liebsten durch Lebensbeschreibungen erschließen.
Damit wäre die Sache also wieder einigermaßen ins Gleichgewicht gebracht. In meinem Kopf geht es nun einmal ein bißchen arg kraus zu, und die Biographie von Friedrich Rothe hat am Anfang einen Knacks und bohrt keine allzu dicken Bretter. Ich sollte mich jetzt daran gewöhnen, daß die Instanz K. K. sich einmal privatim in eine böhmische Gräfin verliebte und dabei hinnahm, wie seine verehrte Sidi nicht genug moralische Selbständigkeit besaß, um das etwas Unstandesgemäße einer solche Beziehung in Kauf zu nehmen. Gut. Und daß es den immerhin deutschsprachigen Schriftsteller Kraus auch einmal aus dem Wiener Reservat in die deutsche Metropole und zu den deutschen Lesern gezogen hat, darf mich auch nicht verschrecken. Es wollen ja immer noch alle nach Berlin.
Aber: nein! Auf so ein Wiegel-Wagel darf meine Rezension nicht hinauslaufen - mein Kraus würde mir im Traum erscheinen und ein Urteil verlangen. Und das fälle ich auch. Es lautet, wie gesagt: Nein! Denn letzten Endes bin ich doch überzeugt, daß man es eben nicht so machen darf wie Friedrich Rothe. Kaum ein Autor hat so wie Kraus sein "Leben" in ein Periodikum von Texten verwandelt; seine Entrüstung: Satiren; seine größte Handgreiflichkeit: eine Plakataktion; seine Weltanschauung: ein Weltkriegsdrama; seine Liebe: Gedichte. Und also - davon bin ich überzeugt - darf es keine "Biographie" geben, die so tut, als ließe sich das Produkt dieser Metamorphose ohne größere Schwierigkeiten in Werk und Leben auseinanderdividieren.
Wären da nicht die paar Briefwechsel, besonders der mit Frau Nadherny, wir wüßten ja gar nichts über den "privaten" Kraus, wir wüßten nicht einmal, wie wir danach fragen sollten. Friedrich Rothe aber sammelt diese wenigen Schlüssellochbilder - den unglücklichen Liebhaber, den begeisterten Vorleser, den gescheiterten Konvertiten und den verkannten Parteiwechsler Kraus - und klebt sie auf einen Passierschein, der den Weg hinter das Werk und hinein in das Leben frei machen soll. Worauf dann freilich über weite Strecken nichts als die übliche Kartographie des sprachkritischen Werkes betrieben wird, weil ja bei gegebener Materiallage nichts anderes möglich ist.
Schwindel ist das nicht, Blauäugigkeit allemal. Ich muß mir nur Karl Kraus als Leser dieser seiner Biographie vorstellen. Er würde sie wahrscheinlich unter die Garderobengespräche zählen, die die Zuhörer seiner Lesungen führten, um den unerhörten Eindruck schnell wieder abzuschütteln und in das Mittelmaß ihres Alltags zurückzukehren. "Eine Feder hat er, das muß ihm der Neid lassen", sagten damals die leicht indignierten Bildungsbürger. "Er is doch e Jud", sagten die beleidigten Juden. Und was sagen heute die Literaturwissenschaftler? "Ooch son Dichta!" - Aber das trifft es nicht.
Friedrich Rothe: "Karl Kraus". Die Biographie. Piper Verlag, München 2003. 423 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Die Bezeichnung "Biografie", die der Verlag dem Buch angeheftet hat, findet Willi Jasper etwas "irreführend", denn dem Autor gehe es im vorliegenden Werk nicht um eine vollständige Lebensbeschreibung von Karl Kraus, sondern vielmehr um Kraus als Herausgeber und Verfasser der Zeitung "Fackel", die 1899 erstmals erschien. Jasper findet es nicht immer leicht, sich durch das "Labyrinth" von Quellentexten und Erörterungen hindurch zu finden. Auch die Kapitelüberschriften können seiner Ansicht nach den Text nicht gliedern. Trotzdem sei Rothe nicht nur ein "erregendes Zeitbild", sondern zudem ein lebendiges Porträt Kraus' gelungen, lobt der Rezensent nachdrücklich. Er findet es bewundernswert, dass Rothe nicht der unbequemen Frage ausweicht, ob Karl Kraus ein "jüdischer Antisemit" gewesen ist, wie ihm mitunter vorgeworfen wurde. Alles in allem, so Jasper abschließend, bleibt Kraus ein "stiller, ein schwieriger Klassiker", und er rechnet es dem Autor als "Verdienst" an, ihn mit seinem Buch wieder "zum Reden gebracht" zu haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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