Using the complete Marx and Engels database only recently opened, Jonathan Sperber juxtaposes the private man against the public agitator whose incendiary books inflamed the dissident world of Europe. Sperber not only animates Marx's personal life but also presents Marx's story against a backdrop of contemporaries. Karl Marx is the defining portrait of a towering historical figure.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2013Ein revolutionärer Denker sieht aber anders aus
Jonathan Sperber widmet sich Leben und Werk von Karl Marx überaus kenntnisreich - und so sehr um Distanz zu aller Marxologie bemüht, dass man zuletzt nicht mehr recht versteht, wie daraus der Marxismus werden konnte.
Die neue Marx-Biographie des amerikanischen Historikers Jonathan Sperber stutzt jedes frische Interesse an der Person und ihrem Denken gleich eingangs durch eine Reihe apodiktischer Urteile zurecht. Statt "eines Zeitgenossen, dessen Ideen die moderne Welt prägen", zeichnet Sperber Marx als einen "rückwärtsgewandten Menschen", der ganz dem frühen 19. Jahrhundert verhaftet geblieben sei und für ein Verständnis des modernen Kapitalismus und der Gegenwart wenig beizutragen habe. Im Übrigen stimme das, was Marx selbst geschrieben und vertreten habe, "wenn überhaupt, nur und hier und dort mit dem überein, was spätere Freunde und Feinde in seinen Schriften fanden". Beruhte die ganze, epochale Wirkung dieses Werks und seines Urhebers also auf einem Missverständnis?
Man versteht nicht so ganz, warum Sperber, schon bevor es losgeht, sein Sujet mit derart vielen Kautelen und Einschränkungen versieht. Lässt man sich auf diese Erkundungsfahrt mit angezogener Handbremse ein, sind allerdings erst einmal die beträchtlichen Vorzüge und Stärken des Buchs zu würdigen. Es entfaltet in gut lesbarer und informierter Art und Weise die intellektuelle Biographie des Mannes mit all seinen unzeitgemäßen universalistischen Ansprüchen und ständigen fiebrigen Revolutionserwartungen. Alles Wichtige wird systematisch abgehandelt: von den romantischen und junghegelianischen Anfängen über die Wendung zur politischen Ökonomie bis zu den ausgedehnten historischen Studien und zur fortlaufenden Rezeption der modernen Naturwissenschaften, immer begleitet von einer ausgedehnten, die "Weltlage" taxierenden Publizistik oder Pamphletistik, deren literarischer Glanz oder analytische Schärfe vielfach erst posthum entdeckt worden ist.
Dazu kam bei Marx ein dichtes Netz von Korrespondenzen (die Briefe sind oft das Spannendste in diesem Schrifttum) oder eine frappierende Menge an aufgeblähten, mit brachialer polemischer Wucht vorgetragenen Schmähschriften oder apokryphe Dossiers, in denen ein geübter historisch-materialistischer Objektivismus unvermittelt in obskure Verschwörungstheorien abgleiten konnte. Für diese detaillierte Rekonstruktion eines geistigen und politischen Kosmos hat Sperber nicht zuletzt von der editorischen Leistung der Herausgeber der "Marx-Engels-Gesamt-Ausgabe" (MEGA) Gebrauch gemacht, die alle bekannten oder unbekannten Schriften genauer kontextualisiert und zu den Briefen die Gegenkorrespondenzen hinzugestellt haben.
Auch der Privatmensch Marx und sein engstes persönliches Umfeld sowie die Milieus seiner Lebens- und Wirkungsorte von Trier und Köln bis Paris und London werden in vielen, teilweise reizvollen und überraschenden Details ausgeleuchtet, wenn auch ein wenig schmallippig, etwa was die lebenslange Liebesbeziehung zu einer Frau und seinen Töchtern angeht - eine aufgehobene "Entfremdung", die für ihn der erste Vorschein dessen war, was "Kommunismus" bedeuten konnte. Auch einige besonders umstrittene Fragen - etwa die des persönlichen und theoretischen Umgangs von Marx mit seinem Judentum, von dem er sich zu "emancipieren" suchte, indem er es mit dem "Schachergeist" der bürgerlichen Gesellschaft assoziierte - werden von Sperber mit gelassener Souveränität in ihren Zeitzusammenhang gestellt.
Was einem bei so viel distanzierter Sachlichkeit aber fehlt, wäre das intensive Bestreben des Biographen, der Essenz der enormen Wirkung seines Protagonisten näher zu kommen, dem eigentümlichen historischen Momentum, das von dieser Figur ausging. Alles ist bei Sperber eben darauf angelegt, gegen eine verblichene Romantisierung oder Legendenbildung anzuargumentieren, wie sie unter östlichen Hagiographen, aber auch unter westlichen Marxologen lange im Schwange war. Was ganz in Ordnung wäre, bekäme man dafür ein realistischeres, widersprüchlicheres, schärfer gezeichnetes Bild der Person und ihrer Ausstrahlungen. Das ist aber leider nicht der Fall - eben wegen der programmatischen Tendenz des Biographen, das Inkommensurable und Frappante dieser Figur und ihrer Geschichte lieber herunterzuspielen als hervorzuheben.
Das beginnt und endet mit der Person von Friedrich Engels, den Tristram Hunt unlängst nicht nur höchst lebendig porträtiert, sondern als einen bedeutenden Kopf und Akteur eigenen Rechts gewürdigt hat (F.A.Z. vom 17. Oktober 2012). Engels hat Marx entscheidende Anstöße und Kenntnisse geliefert, mit ihm über fast vierzig Jahre hinweg einen intellektuellen Austausch von beispielloser Dichte und Intensität gepflegt, hat ihn und seine Familie materiell unterhalten und sein eigenes Leben und seine eigenen theoretischen oder politischen Ambitionen völlig auf den Freund ausgerichtet, als Anreger, als Kritiker, als Manager. Nach Marx' Tod war er es, der die Konvolute unlesbarer Manuskripte geordnet, entziffert, teilweise ediert hat. Und er hat in einer Reihe populärer Schriften das, was man seither "Marxismus" nennt, überhaupt erst in den Strom der entstehenden sozialistischen Massenparteien eingespeist und für ihre Bedürfnisse operationalisiert. Kurzum, ohne Engels hätte es vielleicht gar keinen "Marx" gegeben, mit allem, was an diesen Namen geknüpft ist. In seinem begreiflichen Widerstand gegen eine abgestandene "Mohr & General"-Romantik verweigert sich Sperber im Gegenzug auch gleich dem Präzedenzlosen dieser persönlichen, intellektuellen und politischen Verbindung, für die man schwerlich irgendeine Parallele findet.
Hier stößt man an den blinden Fleck dieser ganzen Darstellung. Indem der Biograph seinen Protagonisten in die Welt eines überlebten Jakobinertums, einer ebenfalls überholten "politischen Ökonomie" à la Smith und Ricardo, einer anachronistischen, hegelianischen Vorstellung von Philosophie als "einem imperialen Zweig des Wissens" sowie einer naiven, auf Technik, Industrie und Naturwissenschaften fixierten Fortschrittsgläubigkeit verweist, verpasst er das, was nun einmal das Elektrisierende oder eben das "Revolutionäre" dieser geistigen Mixtur ausgemacht hat.
Sperber zitiert die berühmte Parallele, die Engels in seiner Grabrede auf Marx hergestellt hatte, als er den toten Freund als denjenigen rühmte, der "das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte" entdeckt habe, so wie Charles Darwin zuvor das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur. Das aber, sagt Sperber, sei purer "Positivismus" gewesen, eine plane Fortschritts- und Entwicklungstheorie, wie man sie auch Darwin (ganz gegen seine Intention) unterlegt habe, sei es im Geiste eines liberalen Evolutionismus oder einer sozialdarwinistischen Züchtungsidee. Ganz entsprechend sei Marx - halb zu Unrecht, halb allerdings auch zu Recht - rein "positivistisch" gedeutet worden, in reformistischer oder in revolutionärer Wendung. Also war der ganze Marxismus eigentlich ein Positivismus?
Schon Darwins historische Bahnbrecherrolle lässt sich schwerlich in eine Geschichte der Beschränktheiten und Missverständnisse seiner Theorie auflösen. Für Marx, der noch eine weit komplexere Figur war, gilt das erst recht. "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren ... Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung der gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen früheren aus." Etwas Derartiges hatte niemand je zuvor so gesagt oder gedacht.
Dass Marx das in den Begriffen seiner Zeit getan hat, erfüllt von ebenfalls sehr zeittypischen apokalyptischen oder eschatologischen Heils- und Unheilserwartungen, und dass er daraus politische Schlussfolgerungen über die Rettungs- und Befreiungsaufgabe eines halb empirischen, halb phantasmagorischen "Proletariats" zog, die ins Leere liefen und im Jahrhundert danach Revolutionären ganz anderer Sorte und ihren brutalen Gesellschaftsexperimenten als Inspiration oder Legitimation gedient haben - das alles ist natürlich unbestreitbar. Aber dass die modernen Sozialwissenschaften, ebenso wie ein Gutteil der Lebens- und Kulturformen des zwanzigsten Jahrhunderts ohne diesen mächtigen Impuls nicht denkbar gewesen wären, doch wohl auch. Und im Übrigen leben wir mehr denn je in jenem umwälzenden Zeitstrom, den Marx mit hypochondrischer Überempfindlichkeit als Erster diagnostiziert hat. Ob man ihn unter den (von Marx selbst gemiedenen) Überbegriff "Kapitalismus" fasst, ist eine zweite Frage.
GERD KOENEN.
Jonathan Sperber: "Karl Marx". Sein Leben und sein Jahrhundert.
Aus dem Englischen von Thomas Atzert, Friedrich Griese und Karl-Heinz Siber. Verlag C. H. Beck, München 2013. 634 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jonathan Sperber widmet sich Leben und Werk von Karl Marx überaus kenntnisreich - und so sehr um Distanz zu aller Marxologie bemüht, dass man zuletzt nicht mehr recht versteht, wie daraus der Marxismus werden konnte.
Die neue Marx-Biographie des amerikanischen Historikers Jonathan Sperber stutzt jedes frische Interesse an der Person und ihrem Denken gleich eingangs durch eine Reihe apodiktischer Urteile zurecht. Statt "eines Zeitgenossen, dessen Ideen die moderne Welt prägen", zeichnet Sperber Marx als einen "rückwärtsgewandten Menschen", der ganz dem frühen 19. Jahrhundert verhaftet geblieben sei und für ein Verständnis des modernen Kapitalismus und der Gegenwart wenig beizutragen habe. Im Übrigen stimme das, was Marx selbst geschrieben und vertreten habe, "wenn überhaupt, nur und hier und dort mit dem überein, was spätere Freunde und Feinde in seinen Schriften fanden". Beruhte die ganze, epochale Wirkung dieses Werks und seines Urhebers also auf einem Missverständnis?
Man versteht nicht so ganz, warum Sperber, schon bevor es losgeht, sein Sujet mit derart vielen Kautelen und Einschränkungen versieht. Lässt man sich auf diese Erkundungsfahrt mit angezogener Handbremse ein, sind allerdings erst einmal die beträchtlichen Vorzüge und Stärken des Buchs zu würdigen. Es entfaltet in gut lesbarer und informierter Art und Weise die intellektuelle Biographie des Mannes mit all seinen unzeitgemäßen universalistischen Ansprüchen und ständigen fiebrigen Revolutionserwartungen. Alles Wichtige wird systematisch abgehandelt: von den romantischen und junghegelianischen Anfängen über die Wendung zur politischen Ökonomie bis zu den ausgedehnten historischen Studien und zur fortlaufenden Rezeption der modernen Naturwissenschaften, immer begleitet von einer ausgedehnten, die "Weltlage" taxierenden Publizistik oder Pamphletistik, deren literarischer Glanz oder analytische Schärfe vielfach erst posthum entdeckt worden ist.
Dazu kam bei Marx ein dichtes Netz von Korrespondenzen (die Briefe sind oft das Spannendste in diesem Schrifttum) oder eine frappierende Menge an aufgeblähten, mit brachialer polemischer Wucht vorgetragenen Schmähschriften oder apokryphe Dossiers, in denen ein geübter historisch-materialistischer Objektivismus unvermittelt in obskure Verschwörungstheorien abgleiten konnte. Für diese detaillierte Rekonstruktion eines geistigen und politischen Kosmos hat Sperber nicht zuletzt von der editorischen Leistung der Herausgeber der "Marx-Engels-Gesamt-Ausgabe" (MEGA) Gebrauch gemacht, die alle bekannten oder unbekannten Schriften genauer kontextualisiert und zu den Briefen die Gegenkorrespondenzen hinzugestellt haben.
Auch der Privatmensch Marx und sein engstes persönliches Umfeld sowie die Milieus seiner Lebens- und Wirkungsorte von Trier und Köln bis Paris und London werden in vielen, teilweise reizvollen und überraschenden Details ausgeleuchtet, wenn auch ein wenig schmallippig, etwa was die lebenslange Liebesbeziehung zu einer Frau und seinen Töchtern angeht - eine aufgehobene "Entfremdung", die für ihn der erste Vorschein dessen war, was "Kommunismus" bedeuten konnte. Auch einige besonders umstrittene Fragen - etwa die des persönlichen und theoretischen Umgangs von Marx mit seinem Judentum, von dem er sich zu "emancipieren" suchte, indem er es mit dem "Schachergeist" der bürgerlichen Gesellschaft assoziierte - werden von Sperber mit gelassener Souveränität in ihren Zeitzusammenhang gestellt.
Was einem bei so viel distanzierter Sachlichkeit aber fehlt, wäre das intensive Bestreben des Biographen, der Essenz der enormen Wirkung seines Protagonisten näher zu kommen, dem eigentümlichen historischen Momentum, das von dieser Figur ausging. Alles ist bei Sperber eben darauf angelegt, gegen eine verblichene Romantisierung oder Legendenbildung anzuargumentieren, wie sie unter östlichen Hagiographen, aber auch unter westlichen Marxologen lange im Schwange war. Was ganz in Ordnung wäre, bekäme man dafür ein realistischeres, widersprüchlicheres, schärfer gezeichnetes Bild der Person und ihrer Ausstrahlungen. Das ist aber leider nicht der Fall - eben wegen der programmatischen Tendenz des Biographen, das Inkommensurable und Frappante dieser Figur und ihrer Geschichte lieber herunterzuspielen als hervorzuheben.
Das beginnt und endet mit der Person von Friedrich Engels, den Tristram Hunt unlängst nicht nur höchst lebendig porträtiert, sondern als einen bedeutenden Kopf und Akteur eigenen Rechts gewürdigt hat (F.A.Z. vom 17. Oktober 2012). Engels hat Marx entscheidende Anstöße und Kenntnisse geliefert, mit ihm über fast vierzig Jahre hinweg einen intellektuellen Austausch von beispielloser Dichte und Intensität gepflegt, hat ihn und seine Familie materiell unterhalten und sein eigenes Leben und seine eigenen theoretischen oder politischen Ambitionen völlig auf den Freund ausgerichtet, als Anreger, als Kritiker, als Manager. Nach Marx' Tod war er es, der die Konvolute unlesbarer Manuskripte geordnet, entziffert, teilweise ediert hat. Und er hat in einer Reihe populärer Schriften das, was man seither "Marxismus" nennt, überhaupt erst in den Strom der entstehenden sozialistischen Massenparteien eingespeist und für ihre Bedürfnisse operationalisiert. Kurzum, ohne Engels hätte es vielleicht gar keinen "Marx" gegeben, mit allem, was an diesen Namen geknüpft ist. In seinem begreiflichen Widerstand gegen eine abgestandene "Mohr & General"-Romantik verweigert sich Sperber im Gegenzug auch gleich dem Präzedenzlosen dieser persönlichen, intellektuellen und politischen Verbindung, für die man schwerlich irgendeine Parallele findet.
Hier stößt man an den blinden Fleck dieser ganzen Darstellung. Indem der Biograph seinen Protagonisten in die Welt eines überlebten Jakobinertums, einer ebenfalls überholten "politischen Ökonomie" à la Smith und Ricardo, einer anachronistischen, hegelianischen Vorstellung von Philosophie als "einem imperialen Zweig des Wissens" sowie einer naiven, auf Technik, Industrie und Naturwissenschaften fixierten Fortschrittsgläubigkeit verweist, verpasst er das, was nun einmal das Elektrisierende oder eben das "Revolutionäre" dieser geistigen Mixtur ausgemacht hat.
Sperber zitiert die berühmte Parallele, die Engels in seiner Grabrede auf Marx hergestellt hatte, als er den toten Freund als denjenigen rühmte, der "das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte" entdeckt habe, so wie Charles Darwin zuvor das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur. Das aber, sagt Sperber, sei purer "Positivismus" gewesen, eine plane Fortschritts- und Entwicklungstheorie, wie man sie auch Darwin (ganz gegen seine Intention) unterlegt habe, sei es im Geiste eines liberalen Evolutionismus oder einer sozialdarwinistischen Züchtungsidee. Ganz entsprechend sei Marx - halb zu Unrecht, halb allerdings auch zu Recht - rein "positivistisch" gedeutet worden, in reformistischer oder in revolutionärer Wendung. Also war der ganze Marxismus eigentlich ein Positivismus?
Schon Darwins historische Bahnbrecherrolle lässt sich schwerlich in eine Geschichte der Beschränktheiten und Missverständnisse seiner Theorie auflösen. Für Marx, der noch eine weit komplexere Figur war, gilt das erst recht. "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren ... Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung der gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen früheren aus." Etwas Derartiges hatte niemand je zuvor so gesagt oder gedacht.
Dass Marx das in den Begriffen seiner Zeit getan hat, erfüllt von ebenfalls sehr zeittypischen apokalyptischen oder eschatologischen Heils- und Unheilserwartungen, und dass er daraus politische Schlussfolgerungen über die Rettungs- und Befreiungsaufgabe eines halb empirischen, halb phantasmagorischen "Proletariats" zog, die ins Leere liefen und im Jahrhundert danach Revolutionären ganz anderer Sorte und ihren brutalen Gesellschaftsexperimenten als Inspiration oder Legitimation gedient haben - das alles ist natürlich unbestreitbar. Aber dass die modernen Sozialwissenschaften, ebenso wie ein Gutteil der Lebens- und Kulturformen des zwanzigsten Jahrhunderts ohne diesen mächtigen Impuls nicht denkbar gewesen wären, doch wohl auch. Und im Übrigen leben wir mehr denn je in jenem umwälzenden Zeitstrom, den Marx mit hypochondrischer Überempfindlichkeit als Erster diagnostiziert hat. Ob man ihn unter den (von Marx selbst gemiedenen) Überbegriff "Kapitalismus" fasst, ist eine zweite Frage.
GERD KOENEN.
Jonathan Sperber: "Karl Marx". Sein Leben und sein Jahrhundert.
Aus dem Englischen von Thomas Atzert, Friedrich Griese und Karl-Heinz Siber. Verlag C. H. Beck, München 2013. 634 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
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