DAMALS kürt "Karl Marx" zum besten historischen Buch des Jahres 2013
Seit vier Jahrzehnten ist dies die erste große Marx-Biographie - geschrieben von einem exzellenten Kenner auf der Grundlage intensiver Forschungen. Jonathan Sperber zeigt uns Karl Marx genauer als je zuvor im Kontext seines Jahrhunderts und interpretiert ihn nicht, wie die meisten seiner Vorgänger, als eine Art posthumen Zeitgenossen. Dieses Buch macht uns vielmehr bewusst, wie stark Marx sich im Koordinatensystem der eigenen Epoche bewegte - zwischen den Ereignissen der Französischen Revolution und einer kapitalistischen Zukunft.
Kein anderer Denker ist so gründlich in eine permanente Deutungshaftung für die Gegenwart genommen worden wie Karl Marx. Doch über der immensen und mit den aktuellen Krisen des Finanzkapitalismus wieder anschwellenden Wirkungsgeschichte sind die Ursprünge seiner Theorie weitgehend aus dem Blick geraten. Jonathan Sperber schildert den historischen Marx - er rekonstruiert die Entstehung der Marxschen Theorie im Kontext der damaligen Ideen und Kontroversen, zeichnet seine politischen Aktivitäten vom Redakteur der Rheinischen Zeitung bis zum Gründervater der sozialistischen Bewegungen nach und beschreibt auch sehr eindrucksvoll den Menschen Karl Marx. Die Biographie folgt den Spuren eines genialen Mannes, der ein Leben lang nach einer neuen und radikaleren Version der Französischen Revolution suchte und schließlich - neben Darwin - zum meistzitierten Denker des 19. Jahrhunderts werden sollte.
Seit vier Jahrzehnten ist dies die erste große Marx-Biographie - geschrieben von einem exzellenten Kenner auf der Grundlage intensiver Forschungen. Jonathan Sperber zeigt uns Karl Marx genauer als je zuvor im Kontext seines Jahrhunderts und interpretiert ihn nicht, wie die meisten seiner Vorgänger, als eine Art posthumen Zeitgenossen. Dieses Buch macht uns vielmehr bewusst, wie stark Marx sich im Koordinatensystem der eigenen Epoche bewegte - zwischen den Ereignissen der Französischen Revolution und einer kapitalistischen Zukunft.
Kein anderer Denker ist so gründlich in eine permanente Deutungshaftung für die Gegenwart genommen worden wie Karl Marx. Doch über der immensen und mit den aktuellen Krisen des Finanzkapitalismus wieder anschwellenden Wirkungsgeschichte sind die Ursprünge seiner Theorie weitgehend aus dem Blick geraten. Jonathan Sperber schildert den historischen Marx - er rekonstruiert die Entstehung der Marxschen Theorie im Kontext der damaligen Ideen und Kontroversen, zeichnet seine politischen Aktivitäten vom Redakteur der Rheinischen Zeitung bis zum Gründervater der sozialistischen Bewegungen nach und beschreibt auch sehr eindrucksvoll den Menschen Karl Marx. Die Biographie folgt den Spuren eines genialen Mannes, der ein Leben lang nach einer neuen und radikaleren Version der Französischen Revolution suchte und schließlich - neben Darwin - zum meistzitierten Denker des 19. Jahrhunderts werden sollte.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
So geht's nicht mit Marx, schimpft Thomas Steinfeld angesichts dieser Biografie von Jonathan Sperber. Stimmungslehre, Tratsch, abgehalfterte Geschichtsphilosophie und sozialer Determinismus sind laut Rezensent die Zutaten, aus denen der Autor seinen Historisierungsversuch zusammenkocht. Rabiat nennt Steinfeld Sperbers Vorgehensweise nicht nur in Bezug auf Marxens Hegel-Rezeption. Bei Sperber, so lässt uns der Rezensent warnend wissen, bleibt von Marx nicht viel mehr übrig als persönliche Umstände, und jede inhaltliche Auseinandersetzung mit ökonomischer Theorie, mit Markt und Ware und Eigentum wird zur Episode heruntermarginalisiert. Dass der Autor abgesehen von solchem Edeltratsch immerhin die persönlichen und politischen Verbindungen von Karl Marx mit kaum je gesehener Genauigkeit verfolgt, scheint Steinfeld am Ende auch nicht mehr zu besänftigen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.05.2013Ein revolutionärer Denker sieht aber anders aus
Jonathan Sperber widmet sich Leben und Werk von Karl Marx überaus kenntnisreich - und so sehr um Distanz zu aller Marxologie bemüht, dass man zuletzt nicht mehr recht versteht, wie daraus der Marxismus werden konnte.
Die neue Marx-Biographie des amerikanischen Historikers Jonathan Sperber stutzt jedes frische Interesse an der Person und ihrem Denken gleich eingangs durch eine Reihe apodiktischer Urteile zurecht. Statt "eines Zeitgenossen, dessen Ideen die moderne Welt prägen", zeichnet Sperber Marx als einen "rückwärtsgewandten Menschen", der ganz dem frühen 19. Jahrhundert verhaftet geblieben sei und für ein Verständnis des modernen Kapitalismus und der Gegenwart wenig beizutragen habe. Im Übrigen stimme das, was Marx selbst geschrieben und vertreten habe, "wenn überhaupt, nur und hier und dort mit dem überein, was spätere Freunde und Feinde in seinen Schriften fanden". Beruhte die ganze, epochale Wirkung dieses Werks und seines Urhebers also auf einem Missverständnis?
Man versteht nicht so ganz, warum Sperber, schon bevor es losgeht, sein Sujet mit derart vielen Kautelen und Einschränkungen versieht. Lässt man sich auf diese Erkundungsfahrt mit angezogener Handbremse ein, sind allerdings erst einmal die beträchtlichen Vorzüge und Stärken des Buchs zu würdigen. Es entfaltet in gut lesbarer und informierter Art und Weise die intellektuelle Biographie des Mannes mit all seinen unzeitgemäßen universalistischen Ansprüchen und ständigen fiebrigen Revolutionserwartungen. Alles Wichtige wird systematisch abgehandelt: von den romantischen und junghegelianischen Anfängen über die Wendung zur politischen Ökonomie bis zu den ausgedehnten historischen Studien und zur fortlaufenden Rezeption der modernen Naturwissenschaften, immer begleitet von einer ausgedehnten, die "Weltlage" taxierenden Publizistik oder Pamphletistik, deren literarischer Glanz oder analytische Schärfe vielfach erst posthum entdeckt worden ist.
Dazu kam bei Marx ein dichtes Netz von Korrespondenzen (die Briefe sind oft das Spannendste in diesem Schrifttum) oder eine frappierende Menge an aufgeblähten, mit brachialer polemischer Wucht vorgetragenen Schmähschriften oder apokryphe Dossiers, in denen ein geübter historisch-materialistischer Objektivismus unvermittelt in obskure Verschwörungstheorien abgleiten konnte. Für diese detaillierte Rekonstruktion eines geistigen und politischen Kosmos hat Sperber nicht zuletzt von der editorischen Leistung der Herausgeber der "Marx-Engels-Gesamt-Ausgabe" (MEGA) Gebrauch gemacht, die alle bekannten oder unbekannten Schriften genauer kontextualisiert und zu den Briefen die Gegenkorrespondenzen hinzugestellt haben.
Auch der Privatmensch Marx und sein engstes persönliches Umfeld sowie die Milieus seiner Lebens- und Wirkungsorte von Trier und Köln bis Paris und London werden in vielen, teilweise reizvollen und überraschenden Details ausgeleuchtet, wenn auch ein wenig schmallippig, etwa was die lebenslange Liebesbeziehung zu einer Frau und seinen Töchtern angeht - eine aufgehobene "Entfremdung", die für ihn der erste Vorschein dessen war, was "Kommunismus" bedeuten konnte. Auch einige besonders umstrittene Fragen - etwa die des persönlichen und theoretischen Umgangs von Marx mit seinem Judentum, von dem er sich zu "emancipieren" suchte, indem er es mit dem "Schachergeist" der bürgerlichen Gesellschaft assoziierte - werden von Sperber mit gelassener Souveränität in ihren Zeitzusammenhang gestellt.
Was einem bei so viel distanzierter Sachlichkeit aber fehlt, wäre das intensive Bestreben des Biographen, der Essenz der enormen Wirkung seines Protagonisten näher zu kommen, dem eigentümlichen historischen Momentum, das von dieser Figur ausging. Alles ist bei Sperber eben darauf angelegt, gegen eine verblichene Romantisierung oder Legendenbildung anzuargumentieren, wie sie unter östlichen Hagiographen, aber auch unter westlichen Marxologen lange im Schwange war. Was ganz in Ordnung wäre, bekäme man dafür ein realistischeres, widersprüchlicheres, schärfer gezeichnetes Bild der Person und ihrer Ausstrahlungen. Das ist aber leider nicht der Fall - eben wegen der programmatischen Tendenz des Biographen, das Inkommensurable und Frappante dieser Figur und ihrer Geschichte lieber herunterzuspielen als hervorzuheben.
Das beginnt und endet mit der Person von Friedrich Engels, den Tristram Hunt unlängst nicht nur höchst lebendig porträtiert, sondern als einen bedeutenden Kopf und Akteur eigenen Rechts gewürdigt hat (F.A.Z. vom 17. Oktober 2012). Engels hat Marx entscheidende Anstöße und Kenntnisse geliefert, mit ihm über fast vierzig Jahre hinweg einen intellektuellen Austausch von beispielloser Dichte und Intensität gepflegt, hat ihn und seine Familie materiell unterhalten und sein eigenes Leben und seine eigenen theoretischen oder politischen Ambitionen völlig auf den Freund ausgerichtet, als Anreger, als Kritiker, als Manager. Nach Marx' Tod war er es, der die Konvolute unlesbarer Manuskripte geordnet, entziffert, teilweise ediert hat. Und er hat in einer Reihe populärer Schriften das, was man seither "Marxismus" nennt, überhaupt erst in den Strom der entstehenden sozialistischen Massenparteien eingespeist und für ihre Bedürfnisse operationalisiert. Kurzum, ohne Engels hätte es vielleicht gar keinen "Marx" gegeben, mit allem, was an diesen Namen geknüpft ist. In seinem begreiflichen Widerstand gegen eine abgestandene "Mohr & General"-Romantik verweigert sich Sperber im Gegenzug auch gleich dem Präzedenzlosen dieser persönlichen, intellektuellen und politischen Verbindung, für die man schwerlich irgendeine Parallele findet.
Hier stößt man an den blinden Fleck dieser ganzen Darstellung. Indem der Biograph seinen Protagonisten in die Welt eines überlebten Jakobinertums, einer ebenfalls überholten "politischen Ökonomie" à la Smith und Ricardo, einer anachronistischen, hegelianischen Vorstellung von Philosophie als "einem imperialen Zweig des Wissens" sowie einer naiven, auf Technik, Industrie und Naturwissenschaften fixierten Fortschrittsgläubigkeit verweist, verpasst er das, was nun einmal das Elektrisierende oder eben das "Revolutionäre" dieser geistigen Mixtur ausgemacht hat.
Sperber zitiert die berühmte Parallele, die Engels in seiner Grabrede auf Marx hergestellt hatte, als er den toten Freund als denjenigen rühmte, der "das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte" entdeckt habe, so wie Charles Darwin zuvor das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur. Das aber, sagt Sperber, sei purer "Positivismus" gewesen, eine plane Fortschritts- und Entwicklungstheorie, wie man sie auch Darwin (ganz gegen seine Intention) unterlegt habe, sei es im Geiste eines liberalen Evolutionismus oder einer sozialdarwinistischen Züchtungsidee. Ganz entsprechend sei Marx - halb zu Unrecht, halb allerdings auch zu Recht - rein "positivistisch" gedeutet worden, in reformistischer oder in revolutionärer Wendung. Also war der ganze Marxismus eigentlich ein Positivismus?
Schon Darwins historische Bahnbrecherrolle lässt sich schwerlich in eine Geschichte der Beschränktheiten und Missverständnisse seiner Theorie auflösen. Für Marx, der noch eine weit komplexere Figur war, gilt das erst recht. "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren ... Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung der gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen früheren aus." Etwas Derartiges hatte niemand je zuvor so gesagt oder gedacht.
Dass Marx das in den Begriffen seiner Zeit getan hat, erfüllt von ebenfalls sehr zeittypischen apokalyptischen oder eschatologischen Heils- und Unheilserwartungen, und dass er daraus politische Schlussfolgerungen über die Rettungs- und Befreiungsaufgabe eines halb empirischen, halb phantasmagorischen "Proletariats" zog, die ins Leere liefen und im Jahrhundert danach Revolutionären ganz anderer Sorte und ihren brutalen Gesellschaftsexperimenten als Inspiration oder Legitimation gedient haben - das alles ist natürlich unbestreitbar. Aber dass die modernen Sozialwissenschaften, ebenso wie ein Gutteil der Lebens- und Kulturformen des zwanzigsten Jahrhunderts ohne diesen mächtigen Impuls nicht denkbar gewesen wären, doch wohl auch. Und im Übrigen leben wir mehr denn je in jenem umwälzenden Zeitstrom, den Marx mit hypochondrischer Überempfindlichkeit als Erster diagnostiziert hat. Ob man ihn unter den (von Marx selbst gemiedenen) Überbegriff "Kapitalismus" fasst, ist eine zweite Frage.
GERD KOENEN.
Jonathan Sperber: "Karl Marx". Sein Leben und sein Jahrhundert.
Aus dem Englischen von Thomas Atzert, Friedrich Griese und Karl-Heinz Siber. Verlag C. H. Beck, München 2013. 634 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jonathan Sperber widmet sich Leben und Werk von Karl Marx überaus kenntnisreich - und so sehr um Distanz zu aller Marxologie bemüht, dass man zuletzt nicht mehr recht versteht, wie daraus der Marxismus werden konnte.
Die neue Marx-Biographie des amerikanischen Historikers Jonathan Sperber stutzt jedes frische Interesse an der Person und ihrem Denken gleich eingangs durch eine Reihe apodiktischer Urteile zurecht. Statt "eines Zeitgenossen, dessen Ideen die moderne Welt prägen", zeichnet Sperber Marx als einen "rückwärtsgewandten Menschen", der ganz dem frühen 19. Jahrhundert verhaftet geblieben sei und für ein Verständnis des modernen Kapitalismus und der Gegenwart wenig beizutragen habe. Im Übrigen stimme das, was Marx selbst geschrieben und vertreten habe, "wenn überhaupt, nur und hier und dort mit dem überein, was spätere Freunde und Feinde in seinen Schriften fanden". Beruhte die ganze, epochale Wirkung dieses Werks und seines Urhebers also auf einem Missverständnis?
Man versteht nicht so ganz, warum Sperber, schon bevor es losgeht, sein Sujet mit derart vielen Kautelen und Einschränkungen versieht. Lässt man sich auf diese Erkundungsfahrt mit angezogener Handbremse ein, sind allerdings erst einmal die beträchtlichen Vorzüge und Stärken des Buchs zu würdigen. Es entfaltet in gut lesbarer und informierter Art und Weise die intellektuelle Biographie des Mannes mit all seinen unzeitgemäßen universalistischen Ansprüchen und ständigen fiebrigen Revolutionserwartungen. Alles Wichtige wird systematisch abgehandelt: von den romantischen und junghegelianischen Anfängen über die Wendung zur politischen Ökonomie bis zu den ausgedehnten historischen Studien und zur fortlaufenden Rezeption der modernen Naturwissenschaften, immer begleitet von einer ausgedehnten, die "Weltlage" taxierenden Publizistik oder Pamphletistik, deren literarischer Glanz oder analytische Schärfe vielfach erst posthum entdeckt worden ist.
Dazu kam bei Marx ein dichtes Netz von Korrespondenzen (die Briefe sind oft das Spannendste in diesem Schrifttum) oder eine frappierende Menge an aufgeblähten, mit brachialer polemischer Wucht vorgetragenen Schmähschriften oder apokryphe Dossiers, in denen ein geübter historisch-materialistischer Objektivismus unvermittelt in obskure Verschwörungstheorien abgleiten konnte. Für diese detaillierte Rekonstruktion eines geistigen und politischen Kosmos hat Sperber nicht zuletzt von der editorischen Leistung der Herausgeber der "Marx-Engels-Gesamt-Ausgabe" (MEGA) Gebrauch gemacht, die alle bekannten oder unbekannten Schriften genauer kontextualisiert und zu den Briefen die Gegenkorrespondenzen hinzugestellt haben.
Auch der Privatmensch Marx und sein engstes persönliches Umfeld sowie die Milieus seiner Lebens- und Wirkungsorte von Trier und Köln bis Paris und London werden in vielen, teilweise reizvollen und überraschenden Details ausgeleuchtet, wenn auch ein wenig schmallippig, etwa was die lebenslange Liebesbeziehung zu einer Frau und seinen Töchtern angeht - eine aufgehobene "Entfremdung", die für ihn der erste Vorschein dessen war, was "Kommunismus" bedeuten konnte. Auch einige besonders umstrittene Fragen - etwa die des persönlichen und theoretischen Umgangs von Marx mit seinem Judentum, von dem er sich zu "emancipieren" suchte, indem er es mit dem "Schachergeist" der bürgerlichen Gesellschaft assoziierte - werden von Sperber mit gelassener Souveränität in ihren Zeitzusammenhang gestellt.
Was einem bei so viel distanzierter Sachlichkeit aber fehlt, wäre das intensive Bestreben des Biographen, der Essenz der enormen Wirkung seines Protagonisten näher zu kommen, dem eigentümlichen historischen Momentum, das von dieser Figur ausging. Alles ist bei Sperber eben darauf angelegt, gegen eine verblichene Romantisierung oder Legendenbildung anzuargumentieren, wie sie unter östlichen Hagiographen, aber auch unter westlichen Marxologen lange im Schwange war. Was ganz in Ordnung wäre, bekäme man dafür ein realistischeres, widersprüchlicheres, schärfer gezeichnetes Bild der Person und ihrer Ausstrahlungen. Das ist aber leider nicht der Fall - eben wegen der programmatischen Tendenz des Biographen, das Inkommensurable und Frappante dieser Figur und ihrer Geschichte lieber herunterzuspielen als hervorzuheben.
Das beginnt und endet mit der Person von Friedrich Engels, den Tristram Hunt unlängst nicht nur höchst lebendig porträtiert, sondern als einen bedeutenden Kopf und Akteur eigenen Rechts gewürdigt hat (F.A.Z. vom 17. Oktober 2012). Engels hat Marx entscheidende Anstöße und Kenntnisse geliefert, mit ihm über fast vierzig Jahre hinweg einen intellektuellen Austausch von beispielloser Dichte und Intensität gepflegt, hat ihn und seine Familie materiell unterhalten und sein eigenes Leben und seine eigenen theoretischen oder politischen Ambitionen völlig auf den Freund ausgerichtet, als Anreger, als Kritiker, als Manager. Nach Marx' Tod war er es, der die Konvolute unlesbarer Manuskripte geordnet, entziffert, teilweise ediert hat. Und er hat in einer Reihe populärer Schriften das, was man seither "Marxismus" nennt, überhaupt erst in den Strom der entstehenden sozialistischen Massenparteien eingespeist und für ihre Bedürfnisse operationalisiert. Kurzum, ohne Engels hätte es vielleicht gar keinen "Marx" gegeben, mit allem, was an diesen Namen geknüpft ist. In seinem begreiflichen Widerstand gegen eine abgestandene "Mohr & General"-Romantik verweigert sich Sperber im Gegenzug auch gleich dem Präzedenzlosen dieser persönlichen, intellektuellen und politischen Verbindung, für die man schwerlich irgendeine Parallele findet.
Hier stößt man an den blinden Fleck dieser ganzen Darstellung. Indem der Biograph seinen Protagonisten in die Welt eines überlebten Jakobinertums, einer ebenfalls überholten "politischen Ökonomie" à la Smith und Ricardo, einer anachronistischen, hegelianischen Vorstellung von Philosophie als "einem imperialen Zweig des Wissens" sowie einer naiven, auf Technik, Industrie und Naturwissenschaften fixierten Fortschrittsgläubigkeit verweist, verpasst er das, was nun einmal das Elektrisierende oder eben das "Revolutionäre" dieser geistigen Mixtur ausgemacht hat.
Sperber zitiert die berühmte Parallele, die Engels in seiner Grabrede auf Marx hergestellt hatte, als er den toten Freund als denjenigen rühmte, der "das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte" entdeckt habe, so wie Charles Darwin zuvor das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur. Das aber, sagt Sperber, sei purer "Positivismus" gewesen, eine plane Fortschritts- und Entwicklungstheorie, wie man sie auch Darwin (ganz gegen seine Intention) unterlegt habe, sei es im Geiste eines liberalen Evolutionismus oder einer sozialdarwinistischen Züchtungsidee. Ganz entsprechend sei Marx - halb zu Unrecht, halb allerdings auch zu Recht - rein "positivistisch" gedeutet worden, in reformistischer oder in revolutionärer Wendung. Also war der ganze Marxismus eigentlich ein Positivismus?
Schon Darwins historische Bahnbrecherrolle lässt sich schwerlich in eine Geschichte der Beschränktheiten und Missverständnisse seiner Theorie auflösen. Für Marx, der noch eine weit komplexere Figur war, gilt das erst recht. "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren ... Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung der gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen früheren aus." Etwas Derartiges hatte niemand je zuvor so gesagt oder gedacht.
Dass Marx das in den Begriffen seiner Zeit getan hat, erfüllt von ebenfalls sehr zeittypischen apokalyptischen oder eschatologischen Heils- und Unheilserwartungen, und dass er daraus politische Schlussfolgerungen über die Rettungs- und Befreiungsaufgabe eines halb empirischen, halb phantasmagorischen "Proletariats" zog, die ins Leere liefen und im Jahrhundert danach Revolutionären ganz anderer Sorte und ihren brutalen Gesellschaftsexperimenten als Inspiration oder Legitimation gedient haben - das alles ist natürlich unbestreitbar. Aber dass die modernen Sozialwissenschaften, ebenso wie ein Gutteil der Lebens- und Kulturformen des zwanzigsten Jahrhunderts ohne diesen mächtigen Impuls nicht denkbar gewesen wären, doch wohl auch. Und im Übrigen leben wir mehr denn je in jenem umwälzenden Zeitstrom, den Marx mit hypochondrischer Überempfindlichkeit als Erster diagnostiziert hat. Ob man ihn unter den (von Marx selbst gemiedenen) Überbegriff "Kapitalismus" fasst, ist eine zweite Frage.
GERD KOENEN.
Jonathan Sperber: "Karl Marx". Sein Leben und sein Jahrhundert.
Aus dem Englischen von Thomas Atzert, Friedrich Griese und Karl-Heinz Siber. Verlag C. H. Beck, München 2013. 634 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.08.2013Leere Autorität
Jonathan Sperber hat eine wuchtige, viel gelobte Biografie über Karl Marx verfasst. Sie ist gegen jeden Versuch gekehrt,
aus seinen Schriften etwas für die Gegenwart lernen zu wollen. Aber kann man Marx wirklich so entsorgen?
VON THOMAS STEINFELD
Auf die in jüngster Zeit häufig gestellte Frage, ob Karl Marx nicht doch recht behalten habe, gibt es keine vernünftige Antwort. Denn sie ist ja nicht ernst gemeint. Wäre sie es, müsste zuerst geklärt werden, womit er denn recht behalten haben soll: Mit der Behauptung des „Kommunistischen Manifests“ etwa, die bürgerliche Gesellschaft werde sich in Gestalt einer revolutionären Arbeiterklasse selbst abschaffen? Nein, so genau will man es nicht wissen. Es geht ja nur um die bloße Erinnerung daran, dass es einmal eine Gesellschaftskritik gab, die den Kapitalismus für eine so verheerende Veranstaltung hielt, dass sie ihn beenden wollte – ohne dass diese Erinnerung irgendwelche Folgen für die Gegenwart haben soll. Und darüber hinaus: Falls Karl Marx recht behalten hätte, mit seiner Lehre von den zyklisch verlaufenden Krisen zum Beispiel, müsste man sich deswegen nicht auf ihn berufen. Dann wüsste man nämlich schon so viel über diese Gesellschaft und ihre Wirtschaftsform, dass die Frage, wer hier recht hatte und wer nicht, nur noch als unerheblich erschiene. Trotzdem gibt es diese Frage. Sie ist unangenehm, weil sie eine leere Autorität in die Welt setzt.
Wäre man zynisch, müsste man sagen, dass sie in diesem Frühjahr eine ihr angemessene Antwort erhielt – in Gestalt eines großen Dementis. Es erschien nämlich, zuerst auf Deutsch, dann in den angelsächsischen Ländern, eine Biografie über Karl Marx, verfasst von Jonathan Sperber, einem Historiker an der Universität von Missouri im amerikanischen Mittelwesten. Weitgehend freundlich, zuweilen begeistert empfangen, stellt dieses umfangreiche Werk eine Neuerung in der überwältigend großen Literatur zu Marx dar: „Das Bild von Karl Marx als einem Zeitgenossen, dessen Ideen die moderne Welt prägten, ist überholt und sollte einem neuen Verständnis weichen, das ihn als Gestalt einer verflossenen historischen Epoche sieht, die gegenüber unserer Gegenwart immer weiter in die Vergangenheit zurücksinkt: Er gehört zum Zeitalter der Französischen Revolution, der Anfänge der Industrialisierung in England und der aus ihr abgeleiteten politischen Ökonomie.“ Wenn in der Frage, ob Karl Marx recht behalten habe, nur die Anrufung einer leeren Autorität steckt, stellt sich Jonathan Sperbers Arbeit als deren Umkehrung dar: Mit der radikalen Historisierung, die er im Sinn hat, soll bewiesen werden, dass diese Autorität tatsächlich leer ist. In dieser Absicht aber steckt nicht nur ein literarisches, darstellerisches, sondern auch ein logisches Dilemma.
Der britische Philosoph John Gray schreibt in seiner wohlwollenden Rezension in der New York Review of Books (9. Mai 2013), die Biografie sei „auf eine feine Weise revisionistisch“ („subtly revisionist“). Ob das Buch subtil ist, sei zunächst einmal dahingestellt. Auf eine Neufassung der Geschichte aber zielt es gewiss, auch wenn es sich deswegen zuerst einer Schwierigkeit stellen muss, in der sich jede radikale Historisierung befindet: Warum überhaupt von den Unternehmungen eines toten Philosophen erzählen, der in vergangenen Zeiten längst obsoleten Gedanken nachging? Weil es zum Beispiel junge Gelehrte wie Rahel Jaeggi und Daniel Loick gibt, die einen von ihnen herausgegebenen Band „Nach Marx“ (Suhrkamp Verlag, Berlin 2013), mit dem Satz beginnen: „Die Menschen werden obdachlos, weil zu viele Wohnungen gebaut wurden, sie hungern, weil zu viele Lebensmittel produziert wurden“ – mit einer offensichtlichen Reverenz an das „Kommunistische Manifest“ also, in dem Karl Marx und Friedrich Engels beschreiben, dass der Reichtum in kapitalistischen Verhältnissen sehr viel Armut schafft. Sperbers Biografie, so detailliert und sachlich sie erscheinen mag, hat eine polemische Spitze. Sie ist gegen jeden Versuch gekehrt, aus den Marx’schen Schriften etwas für die Gegenwart lernen zu wollen.
Jonathan Sperber begründet sein Unternehmen, indem er sich etwa auf den Umgang mit Charles Darwin beruft. Dessen „Ideen“ müssten auch heute noch dargestellt werden, „obwohl Darwin keine Kenntnis von der modernen Genetik hatte“. Aber es gibt hier keine Parallele: Die Evolutionstheorie gilt heute keineswegs als überholt, die Lehren von Variation und natürlicher Selektion eingeschlossen. Im Gegenteil: Sie gehören zum Stoff nicht des Geschichts-, sondern des Biologieunterrichts. „Das Leben und die Kämpfe Mazzinis und seines Mitstreiters Giuseppe Garibaldi sind immer noch faszinierend“, erläutert Jonathan Sperber weiter, „obwohl die politischen Probleme, die sie beschäftigten, längst gelöst sind“. Aber auch diese Behauptung ist falsch. Von der Mafia bis zur Lega Nord, von den Industrieruinen des Südens bis zu den Nöten eines verfehlten Staatskonzerns namens Fiat oder den Querelen um die Immobiliensteuer: Die italienische Politik legt jeden Tag Zeugnis davon ab, dass die nationale Einheit Italiens alles andere als ein „gelöstes Problem“ darstellt. Weniger „subtil“ soll hier Marx in die Vergangenheit befördert werden, als vielmehr gewaltsam.
Wenn diese Biografie dennoch ein Verdienst besitzt, dann liegt es darin, dass Sperber die persönlichen und politischen Verbindungen Karl Marx’ mit einer Sorgfalt verfolgt, die bislang eher Einzelstudien vorbehalten war. Nutzen zog er dabei aus den jüngsten Ausgaben der „MEGA“, der historisch-kritischen Edition der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels, die auch den gesamten Briefwechsel der beiden dokumentiert. Aus dieser Ausgabe entsteht, wie Sperber mit Recht sagt, zwar kein völlig neues Bild von Leben und Werk der beiden. Sie erlaubt ihm aber, deren mannigfaltigen persönlichen Beziehungen in den Mittelpunkt zu stellen und ihre politischen oder theoretischen Überzeugungen nach eher menschlichen Gesichtspunkten zu betrachten.
Manches ist dabei neu. Oder es wurde nicht dargestellt: In welchem Maße sich Karl Marx in seinen Londoner Jahren, und zwar von Anfang bis Ende, in den und für die Organisationen der Sozialisten und Kommunisten engagierte, war noch nicht zu lesen, hatten ihn doch die Biografen bislang von morgens bis abends in der British Library vermutet. Wie aufmerksam er den Krim-Krieg verfolgte, musste man sich bisher anhand seiner journalistischen Arbeiten selber erschließen. Und dass er Lord Palmerston, der während dieses Krieges britischer Premierminister war, für einen russischen Agenten hielt, ist mehr als eine skurrile Anekdote: Sie offenbart (und sie soll offenbaren), dass sich Karl Marx, wenn es um Tagespolitik ging, zuweilen nicht weniger von haltlosen Meinungen, Ressentiments und Verschwörungstheorien leiten ließ als gewöhnliche Zeitgenossen.
Die zentralen Kategorien der marxistischen Lehre: die Arbeit und das Eigentum, der Mehrwert und das Kapital, der Markt und die Ware, finden sich in dieser Biografie an den Rand gerückt. Jonathan Sperber weicht der Auseinandersetzung mit ihnen zwar nicht völlig aus. Sein Buch ist dennoch etwas völlig anderes als eine offene Auseinandersetzung mit Theorie: Er erzählt die Geschichte eines Lebens, von seinen Anfängen kurz nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft in einer kleinen Stadt im äußersten Westen Deutschlands über die unruhige Zeit in Köln, Brüssel und Paris, als die Revolution bald bevorzustehen schien, bis hin in die langen Jahre des Exils in London, die vor allem der Wissenschaft gewidmet waren. Was immer innerhalb dieser Geschichte an Theorie zu verhandeln wäre, muss deshalb als Episode innerhalb einer Biografie erscheinen. Und es kann gar nicht anders sein: Jede soziale Tatsache, jede ökonomische Kategorie, der sich Karl Marx zuwandte, verwandelt sich darin in eine Funktion des „edlen Tratsches“, dem, wie die britische Schriftstellerin A. S. Byatt in ihrem Roman „The Biographer’s Tale“ (2000) sagt, selbst eine gute Biografie nicht ausweichen kann.
Der Preis für die Verschmelzung von Theorie und Biografie ist erheblich: „Nicht nur die kritischen, sondern auch die positiven Äußerungen von Marx schlugen einen antipreußischen Ton an“, heißt es zum Beispiel bei Sperber, „was zum einen typisch für die Junghegelianer war, zugleich aber auch Ausdruck seiner Erziehung in der Stadt Trier.“ Eine solche Abstammungslehre, die äußerliche Konstellationen wie Geburtsort oder Bildungsmilieu in intellektuelle Überzeugungen verwandelt, für die es keine anderen Argumente als persönliche Prägungen geben soll, lässt sich auch in eine Denunziation verwandeln. Das klingt dann so: „Man könnte überspitzt sagen, Marx habe aus politischen Gründen die Arbeiterklasse erfunden, um nach seinen frustrierenden Erfahrungen mit der autoritären preußischen Herrschaft seinen Ambitionen Flügel zu verleihen“ – als ob Karl Marx zum Ökonomen und Revolutionär geworden wäre, nur weil ihm die preußische Regierung die Arbeit an seinen Kölner Zeitungen unmöglich gemacht hatte.
Und es geht noch schlimmer: „Marx verspürte eine starke Abneigung gegen das Privateigentum an Grund und Boden.“ In solchen Sätzen wird eine anspruchsvolle ökonomische Analyse in schlichtes Gefühlsleben aufgelöst, sodass man sich, glaubte man dem Biografen, fragen müsste, wie diesen angeblichen Theoretiker überhaupt je einer hätte ernst nehmen können. Wenn Sperber den Gegenstand seiner Biografie so gründlich ins 19. Jahrhundert versetzt, dass von ihm kaum mehr übrig bleibt als persönliche Umstände, wechselnde Allianzen und lauter Schuldenmacherei, dann ergeben sich daraus zwei Konsequenzen. Die eine ist, dass Karl Marx, je tiefer er in der Vergangenheit versinken soll, einen desto schlechteren Eindruck als Prophet kommender Zeiten und anderer Verhältnisse machen muss. Die andere ist, dass das Urteil, an den theoretischen Arbeiten dieses Gelehrten sei wenig von allgemeinem Interesse zu entdecken, sich auch auf dessen theoretische Umgebung erstrecken muss. Deswegen kommt es etwa zu einer eher wunderlichen Darstellung der idealistischen Philosophie: „In Hegels Denken“, erklärt Jonathan Sperber in einem ebenso knappen wie wilden Exkurs, „hatte die Interaktion des wahrnehmenden Subjekts mit dem Objekt der Wahrnehmung letztendlich die Aushöhlung der Gestalt und des Rahmens der subjektiven Wahrnehmung zur Folge, gewöhnlich weil die Interaktion zu einem Selbstwiderspruch in der Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung führte.“ Hätte Hegel tatsächlich je solche Dinge gesagt, verstünde man, dass Jonathan Sperber eine so bizarre Erkenntnistheorie für „undurchsichtig, verschwommen und furchtbar abstrakt“ hielte.
Das Problem ist nur: Diese Darstellung der Hegelschen Lehre hat mit ihr selbst kaum etwas zu tun. Im gesamten Werk des Philosophen ist weder von „Interaktion“ noch von „Aushöhlung“ die Rede. Schon gar nicht spricht er von Selbstwidersprüchen der Wahrnehmung. Und überhaupt war die Erkenntnistheorie nie das Element gewesen, das Karl Marx an Hegel interessiert hatte – die Philosophie der Geschichte oder die Philosophie des Rechts, vielleicht auch die Logik, waren ihm weitaus wichtiger. Diese Verwirrung wiegt um so schwerer, als Jonathan Sperber den preußischen Staatsphilosophen Hegel und dessen Berliner Schule zum maßgeblichen Einfluss auf den jungen Marx erklärt: so „berauschend wie das Bier, das Marx in Bonn konsumierte, und emotional ebenso stimulierend wie seine Liebe zu Jenny von Westphalen“.
In Isaiah Berlins kleiner Marx-Biographie aus dem Jahr 1939 (auf deutsch zuletzt bei Ullstein, Berlin 1968) findet sich eine weit überlegene Darstellung der Faszination, die Hegels Lehre auf den jungen Marx ausübte, vor allem wegen dessen Vermögen, „im Besonderen den lebendigsten Ausdruck des Allgemeinen“ zu finden.
Im übrigen ist, im selben Verlag wie Sperbers Biografie, im vergangenen Jahr Gareth Stedman Jones’ Einführung in das „Kommunistische Manifest“ (C. H. Beck Verlag, München 2012) erschienen, die einen wesentlich souveräneren Überblick über Auseinandersetzungen liefert, die Karl Marx den Theoretikern widmete, von denen er gelernt hatte – also nicht nur Hegel und die Junghegelianer, sondern auch Adam Smith, David Ricardo, Claude-Henri de Saint-Simon oder Pierre-Joseph Proudhon.
Nun war aber Karl Marx, der eigenen Vorstellung nach wie im Urteil der Nachwelt, in erster Linie weder Journalist noch Utopist noch Philosoph, sondern Ökonom. Und wenn er heute noch, jenseits aller koketten Anrufungen, eine Aktualität haben sollte, dann läge sie in seiner Kritik an der Rationalität eines Wirtschaftssystems, das zu seinen Lebzeiten einen ersten großen Aufschwung nahm und noch heute besteht, mächtiger als je. Denn der Kapitalismus hat ja, nur weil er schon alt ist, nicht aufgehört zu existieren, und der Zweck, der die Gesellschaft zusammenhält, ist noch immer die Vermehrung von Geld, und noch immer ist Arbeit, von diesem Zweck her betrachtet, vor allem ein Kostenfaktor. Wenn Jonathan Sperber aber mit dem falschen Propheten Karl Marx auch den Wirtschaftswissenschaftler nach Hause schickt, dann bleibt auch von dessen politischer Ökonomie kaum etwas übrig. Der amerikanische Historiker betreibt diesen Abschied auf durchaus rabiate Weise: Im Grunde, sagt er, sei diese politische Ökonomie schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts „rückwärtsgewandt“, also nicht mehr aktuell gewesen.
Zur Begründung führt er zum Beispiel das sogenannte „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ an, mit dem sich Karl Marx im dritten Band des „Kapitals“ beschäftigt. Gemeint ist mit diesem Gesetz, dass ein Unternehmer um so weniger verdienen müsse, je mehr Geld er in die Rationalisierung seines Betriebs, also in Maschinen, stecke – denn die einzige Quelle seines Profits sei ja die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft. Um dieses Gesetz, das von Adam Smith und David Ricardo, den Klassikern der ökonomischen Lehre, formuliert und von Karl Marx in Auseinandersetzung mit diesen beiden fortentwickelt wurde, gibt es innerhalb und außerhalb der marxistischen Ökonomie einen Streit, der so alt ist wie die Wirtschaftswissenschaften selber und sich bis heute fortsetzt – Hans-Werner Sinn zum Beispiel, der Präsident des Münchner „ifo Instituts für Wirtschaftsforschung“, verfasste im Jahr 1975 einen der maßgeblichen Aufsätze zu diesem Gegenstand.
Aber was kümmert Jonathan Sperber die Theorie? Er stellt fest, dass Adam Smith und David Ricardo im 18. und frühen 19. Jahrhundert lebten, „zu einer Zeit und einer Umgebung, die geprägt waren durch ein schnelles Wachstum der Bevölkerung bei begrenzten Ressourcen“, und kommt zu dem Schluss: „Es war eine pessimistisch gestimmte Zeit, ganz anders als die Jahrzehnte wirtschaftlicher Blüte zu Beginn der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Marx’ Vorstellung von der Zukunft des Kapitalismus war eine Vorstellung jener Vergangenheit, ein rückwärtsgewandter Blick, den er allerdings mit vielen Nationalökonomen seiner Zeit teilte.“ Ein wenig Stimmungslehre, ein wenig zum Tratsch heruntergekommene Geschichtsphilosophie, ein wenig sozialer Determinismus ersetzen hier jede inhaltliche Auseinandersetzung mit ökonomischer Theorie.
Richard J. Evans, Historiker an der Universität Cambridge, schrieb in einer Rezension zu Jonathan Sperber für die London Review of Books (23. Mai 2013), dieser habe „uns einen Marx für das Zeitalter nach dem Marxismus gegeben“. Sollte er recht haben, wäre das ein Grund zu großer Sorge, zumindest den Zustand der Geschichtswissenschaften betreffend. Wie recht haben dagegen Rahel Jaeggi und Daniel Loick, die Herausgeber des Bandes „Nach Marx“, wenn sie bemerken, dass Karl Marx sich in seiner ökonomischen Theorie „auf einem Reflexionsniveau bewegt, das in Bezug auf die hier angesprochenen Fragen überhaupt erst wieder erreicht werden“ müsse.
„Das Bild von Karl Marx als einem
Zeitgenossen ist überholt“,
schreibt Jonathan Sperber
Auch er ließ sich zuweilen
von haltlosen Meinungen leiten
Hier wird ökonomische Analyse
in Gefühlsleben aufgelöst
Stimmungslehre, Tratsch und
Determinismus ersetzen die
theoretische Auseinandersetzung
Das Denkmal in Chemnitz entstammt zweifellos einer vergangenen Epoche, aber welche Aktualität haben die Ideen des Karl Marx (1818-1883)?
FOTO: WALTER KORN
Jonathan Sperber: Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert. Aus dem Englischen von Thomas Atzert, Friedrich Griese und Karl Heinz Sieber. C. H. Beck Verlag, München 2013. 640 Seiten, 24,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jonathan Sperber hat eine wuchtige, viel gelobte Biografie über Karl Marx verfasst. Sie ist gegen jeden Versuch gekehrt,
aus seinen Schriften etwas für die Gegenwart lernen zu wollen. Aber kann man Marx wirklich so entsorgen?
VON THOMAS STEINFELD
Auf die in jüngster Zeit häufig gestellte Frage, ob Karl Marx nicht doch recht behalten habe, gibt es keine vernünftige Antwort. Denn sie ist ja nicht ernst gemeint. Wäre sie es, müsste zuerst geklärt werden, womit er denn recht behalten haben soll: Mit der Behauptung des „Kommunistischen Manifests“ etwa, die bürgerliche Gesellschaft werde sich in Gestalt einer revolutionären Arbeiterklasse selbst abschaffen? Nein, so genau will man es nicht wissen. Es geht ja nur um die bloße Erinnerung daran, dass es einmal eine Gesellschaftskritik gab, die den Kapitalismus für eine so verheerende Veranstaltung hielt, dass sie ihn beenden wollte – ohne dass diese Erinnerung irgendwelche Folgen für die Gegenwart haben soll. Und darüber hinaus: Falls Karl Marx recht behalten hätte, mit seiner Lehre von den zyklisch verlaufenden Krisen zum Beispiel, müsste man sich deswegen nicht auf ihn berufen. Dann wüsste man nämlich schon so viel über diese Gesellschaft und ihre Wirtschaftsform, dass die Frage, wer hier recht hatte und wer nicht, nur noch als unerheblich erschiene. Trotzdem gibt es diese Frage. Sie ist unangenehm, weil sie eine leere Autorität in die Welt setzt.
Wäre man zynisch, müsste man sagen, dass sie in diesem Frühjahr eine ihr angemessene Antwort erhielt – in Gestalt eines großen Dementis. Es erschien nämlich, zuerst auf Deutsch, dann in den angelsächsischen Ländern, eine Biografie über Karl Marx, verfasst von Jonathan Sperber, einem Historiker an der Universität von Missouri im amerikanischen Mittelwesten. Weitgehend freundlich, zuweilen begeistert empfangen, stellt dieses umfangreiche Werk eine Neuerung in der überwältigend großen Literatur zu Marx dar: „Das Bild von Karl Marx als einem Zeitgenossen, dessen Ideen die moderne Welt prägten, ist überholt und sollte einem neuen Verständnis weichen, das ihn als Gestalt einer verflossenen historischen Epoche sieht, die gegenüber unserer Gegenwart immer weiter in die Vergangenheit zurücksinkt: Er gehört zum Zeitalter der Französischen Revolution, der Anfänge der Industrialisierung in England und der aus ihr abgeleiteten politischen Ökonomie.“ Wenn in der Frage, ob Karl Marx recht behalten habe, nur die Anrufung einer leeren Autorität steckt, stellt sich Jonathan Sperbers Arbeit als deren Umkehrung dar: Mit der radikalen Historisierung, die er im Sinn hat, soll bewiesen werden, dass diese Autorität tatsächlich leer ist. In dieser Absicht aber steckt nicht nur ein literarisches, darstellerisches, sondern auch ein logisches Dilemma.
Der britische Philosoph John Gray schreibt in seiner wohlwollenden Rezension in der New York Review of Books (9. Mai 2013), die Biografie sei „auf eine feine Weise revisionistisch“ („subtly revisionist“). Ob das Buch subtil ist, sei zunächst einmal dahingestellt. Auf eine Neufassung der Geschichte aber zielt es gewiss, auch wenn es sich deswegen zuerst einer Schwierigkeit stellen muss, in der sich jede radikale Historisierung befindet: Warum überhaupt von den Unternehmungen eines toten Philosophen erzählen, der in vergangenen Zeiten längst obsoleten Gedanken nachging? Weil es zum Beispiel junge Gelehrte wie Rahel Jaeggi und Daniel Loick gibt, die einen von ihnen herausgegebenen Band „Nach Marx“ (Suhrkamp Verlag, Berlin 2013), mit dem Satz beginnen: „Die Menschen werden obdachlos, weil zu viele Wohnungen gebaut wurden, sie hungern, weil zu viele Lebensmittel produziert wurden“ – mit einer offensichtlichen Reverenz an das „Kommunistische Manifest“ also, in dem Karl Marx und Friedrich Engels beschreiben, dass der Reichtum in kapitalistischen Verhältnissen sehr viel Armut schafft. Sperbers Biografie, so detailliert und sachlich sie erscheinen mag, hat eine polemische Spitze. Sie ist gegen jeden Versuch gekehrt, aus den Marx’schen Schriften etwas für die Gegenwart lernen zu wollen.
Jonathan Sperber begründet sein Unternehmen, indem er sich etwa auf den Umgang mit Charles Darwin beruft. Dessen „Ideen“ müssten auch heute noch dargestellt werden, „obwohl Darwin keine Kenntnis von der modernen Genetik hatte“. Aber es gibt hier keine Parallele: Die Evolutionstheorie gilt heute keineswegs als überholt, die Lehren von Variation und natürlicher Selektion eingeschlossen. Im Gegenteil: Sie gehören zum Stoff nicht des Geschichts-, sondern des Biologieunterrichts. „Das Leben und die Kämpfe Mazzinis und seines Mitstreiters Giuseppe Garibaldi sind immer noch faszinierend“, erläutert Jonathan Sperber weiter, „obwohl die politischen Probleme, die sie beschäftigten, längst gelöst sind“. Aber auch diese Behauptung ist falsch. Von der Mafia bis zur Lega Nord, von den Industrieruinen des Südens bis zu den Nöten eines verfehlten Staatskonzerns namens Fiat oder den Querelen um die Immobiliensteuer: Die italienische Politik legt jeden Tag Zeugnis davon ab, dass die nationale Einheit Italiens alles andere als ein „gelöstes Problem“ darstellt. Weniger „subtil“ soll hier Marx in die Vergangenheit befördert werden, als vielmehr gewaltsam.
Wenn diese Biografie dennoch ein Verdienst besitzt, dann liegt es darin, dass Sperber die persönlichen und politischen Verbindungen Karl Marx’ mit einer Sorgfalt verfolgt, die bislang eher Einzelstudien vorbehalten war. Nutzen zog er dabei aus den jüngsten Ausgaben der „MEGA“, der historisch-kritischen Edition der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels, die auch den gesamten Briefwechsel der beiden dokumentiert. Aus dieser Ausgabe entsteht, wie Sperber mit Recht sagt, zwar kein völlig neues Bild von Leben und Werk der beiden. Sie erlaubt ihm aber, deren mannigfaltigen persönlichen Beziehungen in den Mittelpunkt zu stellen und ihre politischen oder theoretischen Überzeugungen nach eher menschlichen Gesichtspunkten zu betrachten.
Manches ist dabei neu. Oder es wurde nicht dargestellt: In welchem Maße sich Karl Marx in seinen Londoner Jahren, und zwar von Anfang bis Ende, in den und für die Organisationen der Sozialisten und Kommunisten engagierte, war noch nicht zu lesen, hatten ihn doch die Biografen bislang von morgens bis abends in der British Library vermutet. Wie aufmerksam er den Krim-Krieg verfolgte, musste man sich bisher anhand seiner journalistischen Arbeiten selber erschließen. Und dass er Lord Palmerston, der während dieses Krieges britischer Premierminister war, für einen russischen Agenten hielt, ist mehr als eine skurrile Anekdote: Sie offenbart (und sie soll offenbaren), dass sich Karl Marx, wenn es um Tagespolitik ging, zuweilen nicht weniger von haltlosen Meinungen, Ressentiments und Verschwörungstheorien leiten ließ als gewöhnliche Zeitgenossen.
Die zentralen Kategorien der marxistischen Lehre: die Arbeit und das Eigentum, der Mehrwert und das Kapital, der Markt und die Ware, finden sich in dieser Biografie an den Rand gerückt. Jonathan Sperber weicht der Auseinandersetzung mit ihnen zwar nicht völlig aus. Sein Buch ist dennoch etwas völlig anderes als eine offene Auseinandersetzung mit Theorie: Er erzählt die Geschichte eines Lebens, von seinen Anfängen kurz nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft in einer kleinen Stadt im äußersten Westen Deutschlands über die unruhige Zeit in Köln, Brüssel und Paris, als die Revolution bald bevorzustehen schien, bis hin in die langen Jahre des Exils in London, die vor allem der Wissenschaft gewidmet waren. Was immer innerhalb dieser Geschichte an Theorie zu verhandeln wäre, muss deshalb als Episode innerhalb einer Biografie erscheinen. Und es kann gar nicht anders sein: Jede soziale Tatsache, jede ökonomische Kategorie, der sich Karl Marx zuwandte, verwandelt sich darin in eine Funktion des „edlen Tratsches“, dem, wie die britische Schriftstellerin A. S. Byatt in ihrem Roman „The Biographer’s Tale“ (2000) sagt, selbst eine gute Biografie nicht ausweichen kann.
Der Preis für die Verschmelzung von Theorie und Biografie ist erheblich: „Nicht nur die kritischen, sondern auch die positiven Äußerungen von Marx schlugen einen antipreußischen Ton an“, heißt es zum Beispiel bei Sperber, „was zum einen typisch für die Junghegelianer war, zugleich aber auch Ausdruck seiner Erziehung in der Stadt Trier.“ Eine solche Abstammungslehre, die äußerliche Konstellationen wie Geburtsort oder Bildungsmilieu in intellektuelle Überzeugungen verwandelt, für die es keine anderen Argumente als persönliche Prägungen geben soll, lässt sich auch in eine Denunziation verwandeln. Das klingt dann so: „Man könnte überspitzt sagen, Marx habe aus politischen Gründen die Arbeiterklasse erfunden, um nach seinen frustrierenden Erfahrungen mit der autoritären preußischen Herrschaft seinen Ambitionen Flügel zu verleihen“ – als ob Karl Marx zum Ökonomen und Revolutionär geworden wäre, nur weil ihm die preußische Regierung die Arbeit an seinen Kölner Zeitungen unmöglich gemacht hatte.
Und es geht noch schlimmer: „Marx verspürte eine starke Abneigung gegen das Privateigentum an Grund und Boden.“ In solchen Sätzen wird eine anspruchsvolle ökonomische Analyse in schlichtes Gefühlsleben aufgelöst, sodass man sich, glaubte man dem Biografen, fragen müsste, wie diesen angeblichen Theoretiker überhaupt je einer hätte ernst nehmen können. Wenn Sperber den Gegenstand seiner Biografie so gründlich ins 19. Jahrhundert versetzt, dass von ihm kaum mehr übrig bleibt als persönliche Umstände, wechselnde Allianzen und lauter Schuldenmacherei, dann ergeben sich daraus zwei Konsequenzen. Die eine ist, dass Karl Marx, je tiefer er in der Vergangenheit versinken soll, einen desto schlechteren Eindruck als Prophet kommender Zeiten und anderer Verhältnisse machen muss. Die andere ist, dass das Urteil, an den theoretischen Arbeiten dieses Gelehrten sei wenig von allgemeinem Interesse zu entdecken, sich auch auf dessen theoretische Umgebung erstrecken muss. Deswegen kommt es etwa zu einer eher wunderlichen Darstellung der idealistischen Philosophie: „In Hegels Denken“, erklärt Jonathan Sperber in einem ebenso knappen wie wilden Exkurs, „hatte die Interaktion des wahrnehmenden Subjekts mit dem Objekt der Wahrnehmung letztendlich die Aushöhlung der Gestalt und des Rahmens der subjektiven Wahrnehmung zur Folge, gewöhnlich weil die Interaktion zu einem Selbstwiderspruch in der Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung führte.“ Hätte Hegel tatsächlich je solche Dinge gesagt, verstünde man, dass Jonathan Sperber eine so bizarre Erkenntnistheorie für „undurchsichtig, verschwommen und furchtbar abstrakt“ hielte.
Das Problem ist nur: Diese Darstellung der Hegelschen Lehre hat mit ihr selbst kaum etwas zu tun. Im gesamten Werk des Philosophen ist weder von „Interaktion“ noch von „Aushöhlung“ die Rede. Schon gar nicht spricht er von Selbstwidersprüchen der Wahrnehmung. Und überhaupt war die Erkenntnistheorie nie das Element gewesen, das Karl Marx an Hegel interessiert hatte – die Philosophie der Geschichte oder die Philosophie des Rechts, vielleicht auch die Logik, waren ihm weitaus wichtiger. Diese Verwirrung wiegt um so schwerer, als Jonathan Sperber den preußischen Staatsphilosophen Hegel und dessen Berliner Schule zum maßgeblichen Einfluss auf den jungen Marx erklärt: so „berauschend wie das Bier, das Marx in Bonn konsumierte, und emotional ebenso stimulierend wie seine Liebe zu Jenny von Westphalen“.
In Isaiah Berlins kleiner Marx-Biographie aus dem Jahr 1939 (auf deutsch zuletzt bei Ullstein, Berlin 1968) findet sich eine weit überlegene Darstellung der Faszination, die Hegels Lehre auf den jungen Marx ausübte, vor allem wegen dessen Vermögen, „im Besonderen den lebendigsten Ausdruck des Allgemeinen“ zu finden.
Im übrigen ist, im selben Verlag wie Sperbers Biografie, im vergangenen Jahr Gareth Stedman Jones’ Einführung in das „Kommunistische Manifest“ (C. H. Beck Verlag, München 2012) erschienen, die einen wesentlich souveräneren Überblick über Auseinandersetzungen liefert, die Karl Marx den Theoretikern widmete, von denen er gelernt hatte – also nicht nur Hegel und die Junghegelianer, sondern auch Adam Smith, David Ricardo, Claude-Henri de Saint-Simon oder Pierre-Joseph Proudhon.
Nun war aber Karl Marx, der eigenen Vorstellung nach wie im Urteil der Nachwelt, in erster Linie weder Journalist noch Utopist noch Philosoph, sondern Ökonom. Und wenn er heute noch, jenseits aller koketten Anrufungen, eine Aktualität haben sollte, dann läge sie in seiner Kritik an der Rationalität eines Wirtschaftssystems, das zu seinen Lebzeiten einen ersten großen Aufschwung nahm und noch heute besteht, mächtiger als je. Denn der Kapitalismus hat ja, nur weil er schon alt ist, nicht aufgehört zu existieren, und der Zweck, der die Gesellschaft zusammenhält, ist noch immer die Vermehrung von Geld, und noch immer ist Arbeit, von diesem Zweck her betrachtet, vor allem ein Kostenfaktor. Wenn Jonathan Sperber aber mit dem falschen Propheten Karl Marx auch den Wirtschaftswissenschaftler nach Hause schickt, dann bleibt auch von dessen politischer Ökonomie kaum etwas übrig. Der amerikanische Historiker betreibt diesen Abschied auf durchaus rabiate Weise: Im Grunde, sagt er, sei diese politische Ökonomie schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts „rückwärtsgewandt“, also nicht mehr aktuell gewesen.
Zur Begründung führt er zum Beispiel das sogenannte „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ an, mit dem sich Karl Marx im dritten Band des „Kapitals“ beschäftigt. Gemeint ist mit diesem Gesetz, dass ein Unternehmer um so weniger verdienen müsse, je mehr Geld er in die Rationalisierung seines Betriebs, also in Maschinen, stecke – denn die einzige Quelle seines Profits sei ja die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft. Um dieses Gesetz, das von Adam Smith und David Ricardo, den Klassikern der ökonomischen Lehre, formuliert und von Karl Marx in Auseinandersetzung mit diesen beiden fortentwickelt wurde, gibt es innerhalb und außerhalb der marxistischen Ökonomie einen Streit, der so alt ist wie die Wirtschaftswissenschaften selber und sich bis heute fortsetzt – Hans-Werner Sinn zum Beispiel, der Präsident des Münchner „ifo Instituts für Wirtschaftsforschung“, verfasste im Jahr 1975 einen der maßgeblichen Aufsätze zu diesem Gegenstand.
Aber was kümmert Jonathan Sperber die Theorie? Er stellt fest, dass Adam Smith und David Ricardo im 18. und frühen 19. Jahrhundert lebten, „zu einer Zeit und einer Umgebung, die geprägt waren durch ein schnelles Wachstum der Bevölkerung bei begrenzten Ressourcen“, und kommt zu dem Schluss: „Es war eine pessimistisch gestimmte Zeit, ganz anders als die Jahrzehnte wirtschaftlicher Blüte zu Beginn der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Marx’ Vorstellung von der Zukunft des Kapitalismus war eine Vorstellung jener Vergangenheit, ein rückwärtsgewandter Blick, den er allerdings mit vielen Nationalökonomen seiner Zeit teilte.“ Ein wenig Stimmungslehre, ein wenig zum Tratsch heruntergekommene Geschichtsphilosophie, ein wenig sozialer Determinismus ersetzen hier jede inhaltliche Auseinandersetzung mit ökonomischer Theorie.
Richard J. Evans, Historiker an der Universität Cambridge, schrieb in einer Rezension zu Jonathan Sperber für die London Review of Books (23. Mai 2013), dieser habe „uns einen Marx für das Zeitalter nach dem Marxismus gegeben“. Sollte er recht haben, wäre das ein Grund zu großer Sorge, zumindest den Zustand der Geschichtswissenschaften betreffend. Wie recht haben dagegen Rahel Jaeggi und Daniel Loick, die Herausgeber des Bandes „Nach Marx“, wenn sie bemerken, dass Karl Marx sich in seiner ökonomischen Theorie „auf einem Reflexionsniveau bewegt, das in Bezug auf die hier angesprochenen Fragen überhaupt erst wieder erreicht werden“ müsse.
„Das Bild von Karl Marx als einem
Zeitgenossen ist überholt“,
schreibt Jonathan Sperber
Auch er ließ sich zuweilen
von haltlosen Meinungen leiten
Hier wird ökonomische Analyse
in Gefühlsleben aufgelöst
Stimmungslehre, Tratsch und
Determinismus ersetzen die
theoretische Auseinandersetzung
Das Denkmal in Chemnitz entstammt zweifellos einer vergangenen Epoche, aber welche Aktualität haben die Ideen des Karl Marx (1818-1883)?
FOTO: WALTER KORN
Jonathan Sperber: Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert. Aus dem Englischen von Thomas Atzert, Friedrich Griese und Karl Heinz Sieber. C. H. Beck Verlag, München 2013. 640 Seiten, 24,90 Euro.
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"Maßgebliche Biographie."
Bernhard Schulz, Tagesspiegel, 5. Mai 2018
Bernhard Schulz, Tagesspiegel, 5. Mai 2018