Die Fotografie als epochale Erfindung des technischen Zeitalters hat ihre Spuren in allen kulturellen Erscheinungsformen hinterlassen, nicht zuletzt auch in der Literatur. Die vier Aufsätze, die in diesem Buch versammelt sind, beschäftigen sich mit der Frage, ob und wenn ja welche Einflüsse die Fotografie auf Person und Werk Karl Mays ausgeübt hat.Karl May hat die Fotografie nicht nur als Thema und Motiv im Werk, sondern auch zur persönlichen Ruhmbildung benutzt. Immer wieder findet sich Fotografisches als Metapher oder als Teil einer Neben- oder gar der Haupthandlung in den Tausenden von Seiten seiner literarischen Produktion. Sein Roman "Winnetou IV" ist ohne die Fotografie in ihren verschiedenen Ausprägungen nicht denkbar. Mays gezielter Einsatz der fotografischen Autogrammkarte half mit, ihn zum ersten Schriftstellerstar in der Geschichte des modernen Startums zu machen. Das "Leseralbum", das May anlegte und das schließlich über 500 Fotografien seiner Bewunderer umfasste, istein einzigartiges Zeugnis der Pflege seiner Fans.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2012Vom Schund empor ins Reich der Edelfedern
Zum Jubiläum scharen sich Kenner und Liebhaber um das Lagerfeuer ihrer Jugendträume: Hundert Jahre nach seinem Tod wird Karl May jedoch mehr interpretiert als gelesen.
Der Tod, erklärt Kara Ben Nemsi dem kleingläubigen Hadschi Halef Omar einmal, "ist für mich nicht vorhanden". Und tatsächlich: Auch wenn Karl May am 30. März 1912 in die ewigen Jagdgründe (angeblich mit dem letzten Seufzer "Sieg, großer Sieg! Ich sehe alles rosenrot!") entrückt wurde, lebt sein Mythos augenscheinlich fort. In seinem Geburtsort Hohenstein-Ernstthal feiert man seinen hundertsten Todestag mit dem Event "Karl May lebt", im Katholischen Familienbildungsheim Meckenheim "liest und lebt" ihn ein Schauspieler. Nürnberg würdigt den Unsterblichen mit einem Karl-May-Literaturgottesdienst von Dekan Krieghoff, Berlin mit einer Karl-May-Filmgala mit Atze Brauner, Spiekeroog mit einem Liederabend mit Karl-May-Kompositionen. In Radebeul wird der Karl-May-Erlebnispfad eingeweiht, in München erinnert die Lesung "Verdimmi-verdammi" an die enge Beziehung zwischen Winnetou und Wurzelsepp. Karl Hohenthal, besser bekannt als Franz Xaver Kroetz, hat soeben mit "Hadschi Halef Omar im Wilden Westen" das Werk des Maysters um neue Abenteuer und einige Squaws bereichert.
Martin Walser hat ihn "unter der Bettdecke mit der Taschenlampe" gelesen und beim Wiederlesen für das Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft sofort wieder Feuer gefangen. Sattelt mir noch einmal das Musenross Hatatitla, zündet die Hirschtalgkerzen an: So viel Großes und Schönes hat Karl May geschrieben, noch Edleres gewollt, aber übel hat man ihm seine "vor keiner Niedertracht kapitulierende Menschlichkeit" gelohnt. Empor ins Reich der Edelmenschen? "Da grinse, wer kann." Vom blinden, verwirrten Proleten zum missionarischen Seher, vom Kegeljungen zum "letzten Großmystiker" (Arno Schmidt), vom Kerzendieb und Hochstapler Dr. Heilig zur Lichtgestalt: Karl Mays Biographie folgt so offensichtlich den Mustern von Heilsgeschichte und Kolportage, dass man auch seine letzte rosenrote Vision für eines seiner reißenden Märchen halten könnte. Selbst sein Verleger Ernst Fehsenfeld sah ihm ja von weitem den "leichten Schwung von Reiterbeinen" und das "energische Kinn" Old Shatterhands an. Wenn ein 1,65 Meter großer Hänfling Millionen von Leser in seine folie à trois ("Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle") einzuspannen vermag, kann er auch dem Tod mit seiner Alten Schmetterhand ein Schnippchen schlagen.
Allein, so emsig und sentimental gerührt sich ältere Blutsbrüder und grauköpfige Professoren (Frauen sind in den dark and bloody grounds der May-Literatur noch rarer als im Wilden Westen) über ihre erste Lese-Liebe beugen und noch die verborgensten Hide-Spots von Leben und Werk psychologisch, soziologisch, theologisch und ethnologisch ausleuchten: Wirklich gelesen wird der "Shakespeare der Jungens" (Ernst Bloch) nicht mehr, jedenfalls nicht unter der Bettdecke und mit pochend heißem Herzen. Nicht zufällig wohl fielen der Beginn der May-Forschung und die Gründung der Karl-May-Gesellschaft in den sechziger Jahren mit seinem Niedergang als Volksschriftsteller zusammen. "Der Schuh des Manitou" ist eine Art "Sitara" für Nichtleser.
Das Steckenpferd Hatatitla wird fast nur noch von kauzigen Privatgelehrten geritten; Winnetou kennt man nur noch als Parodie von Parodien, als Doubles von Pierre Brice und Goyko Mitic. Die Wüsten und Prärien, die May sich aus dem Baedeker und seinen Gefängnisfluchtträumen zurechtzimmerte, sind durch Fernreisen, Fernsehen und Internet erschlossen, seine "Gesammelten Werke" historisch-kritisch lückenlos dokumentiert (und durch apokryphe Titel wie Marie Versinis Memoiren "Ich war Winnetous Schwester" in die Gegenwart fortgeschrieben worden). Aber die Generation Facebook liest, wenn überhaupt, lieber Harry Potter und "Herr der Ringe".
Karl May hat sich aus Schund und Schande empor ins Reich der Edelfedern gearbeitet, aber er zahlte einen hohen Preis dafür. Dass der Sieg über die Krittler und Krämer Ardistans ein Pyrrhussieg gewesen sein könnte, zeichnete sich schon zu seinen Lebzeiten ab. Eine Woche vor seinem Tod war der "geborene Verbrecher" bei seinem letzten Auftritt in Wien glanzvoll rehabilitiert worden; selbst Thomas Mann würdigte ihn als "gar nicht uninteressanten Scharlatan". Aber die späte Apotheose erwies sich als Himmelfahrt zweiter Klasse. Unter den zweieinhalbtausend bewegten Zuhörern saß, so jedenfalls die Legende, auch ein erfolgloser Kunstmaler, der mit seiner May-Begeisterung später viel Unheil anrichtete. Und die wenigen Jugendlichen im Saal zeigten sich vom Testament ihres Idols enttäuscht: Sie hatten Old Shatterhands Faust sehen und hören wollen, nicht eine zweieinhalbstündige Predigt über Frieden, Freude und Edelmenschen. Ein Foto von seinem letzten Auftritt zeigt den Fürst der Bleichgesichter als gebrochenen, verwirrten alten Mann vor einem viel zu großen Automobil. Rolf Krauss beschreibt in "Karl May und die Fotografie", wie die Fanalben und Fotopostkarten von Dr. May im Kostüm Old Shatterhands den Mythomanen zum ersten Popstar der deutschen Literaturgeschichte machten. Die bürgerlich-repräsentativen Selbstbildnisse, die er nach dem Zusammenbruch seiner Lebenslügen auf der Orient-Reise 1899 in Umlauf brachte, waren deutlich weniger gefragt, und Klaras Schnappschüsse vom Touristen Karl May unter Palmen und Pyramiden hielt er lieber gleich unter Verschluss.
Zum May-Jubiläum scharen sich Kenner und Liebhaber noch einmal zahlreich um das Lagerfeuer ihrer Jugendträume. Aber der Funke springt nur noch selten über; am ehesten noch bei Gerd Ueding, dem Rhetoriker aus der Tübinger Bloch-Schule ("Es gibt nur Karl May und Hegel, alles dazwischen ist eine unreine Mischung"). Mit Wehmut erinnert Ueding sich seiner frühen "Karl-May-Genusstage", als die naive Freude an Exotik und Abenteuer noch der Vorschein eines "Ganz-Anders-Seins" war. Von der "Sonntagswelt unserer Jugend" blieb nur der bunte Abglanz des literaturwissenschaftlichen Interpretierens. Ueding analysiert in seinen Essays klug und schwungvoll May als Rhetoriker (die "Rhetorik des Herzens" war neben Henrystutzen und Bärentöter seine "dritte Geheimwaffe"), Phantasten und Heilkünstler, seine Affekt-, Selbstentfesselungs und Selbstbestrafungsstrategien und seine Erlösungsmärchen als "Medium und Triebkraft deutscher Geistesgeschichte". Uedings "Spiel sich potenzierender Spiegelungen" zwischen Old Death und Hobble-Frank, Hegel, Goethe, Nietzsche, Strindberg und Kafka ist selbst "zielhaftes, nicht ablenkbares Fabulieren auf die Freiheit hin". Aber doch auch nur ein Abenteuer des Geistes, eine rhetorische Rhapsodie für bleichgesichtige Germanisten.
Auch der Karl-May-Verlag, der seine Goldnuggets früher bedenkenlos für Jugend und Zeit zurechtschliff, befleißigt sich heute philologischer Sorgfalt und Demut. In Band 89 der grünen Reihe - "Im fernen Westen" ist so etwas wie das missing link zwischen "Old Firehand" (1875) und "Winnetou II" (1893) - zeichnet Herausgeber Christoph L. Lorentz im Nachwort akribisch nach, wie der um seine moralische und literarische Reputation besorgte May Ellen, eine seiner wenigen Frauenfiguren, in einen Harry und den blutrünstigen Ur-Winnetou, der noch nach Indianerart auf Skalpjagd geht und Zigarrenstummel schluckt, in einen roten Heiland verwandelte. Die von Old Shatterhand erzählte Comic-Biographie "Karl May - Die ganze Wahrheit" wird vom Verlag kaum autorisiert werden; eher schon "Karl May oder Die Macht der Phantasie".
Helmut Schmiedt dokumentiert materialreich, chronologisch, absolut seriös und nur ein bisschen spröde den Stand der Forschung und verschweigt dabei weder die wunden Punkte der Mayschen Selbstinszenierungen noch seinen sinkenden Ruhm. Als "Massenphänomen" werde Karl May immer älter und schwächer und vielleicht bald ganz verschwunden sein; aber sein Platz unter den Klassikern des Bildungsbürgertums ist gesichert. "Nur noch bei den Nichtsahnenden existiert Karl May als literarischer Grobmotoriker und nichtsnutziger Bewohner des kulturellen Souterrains." Uff, zounds und howgh - der stellvertretende Häuptling der Karl-May-Gesellschaft hat gesprochen.
Thomas Kramers May-Biographie ist nicht ganz so treffsicher und schwer wie Schmiedts Bärentöter, aber auch eine Liebeserklärung und als erste Orientierung für Greenhorns allemal brauchbar. Allerdings unterstreicht Kramer Mays "erstaunliche Aktualität" durch manchmal erstaunliche Aktualisierungen: So entdeckt er in ihm einen Vorläufer von Dieter Bohlen und neueren Dschungelcamps, in seinem "Waldröschen" eine hellsichtige Vision des Internetzeitalters und in dem toten Winnetou aus "Winnetous Erben" gar einen "Prärie-Lenin", der "Wildwest-Bolschewiki" anführt.
Rüdiger Schaper widmet dem "elektrischen Winnetou" des Spätwerks eine luzide Analyse, aber auch er versteigt sich zu manchmal abenteuerlichen Urteilen und Querverweisen. Der frisch in seinen Dämon Emma verliebte Knastbruder erinnert ihn an Bonnie und Clyde, seine Reiseromankulissen an James Camerons "Avatar", Las Vegas und Schlingensiefs Operndorf in der Wüste. Aber auch wenn Schaper immer wieder abschweift, sich in feuilletonistischen Phrasen und schnoddrigen Provokationen gefällt (der Übermensch May darf hier schon mal "vögeln" oder "dealen": "Ein Kara Ben Nemsi kennt keinen Knacks!"): Mit dem Schlachtruf "Befreit Karl May!", originellen Gedanken und einem radikal subjektiven Zugriff bringt er neben viel heißer Luft auch einigen frischen Wind in die erstarrten Fronten und stickigen Weihrauchnebel der May-Gemeinde.
Schaper spielt mit spätpubertärer Lust den Outlaw und bleibt so dem tolldreisten Aufschneider und Hochstapler vielleicht treuer als die braven Fährtenleser auf ausgetretenen Pfaden. Die Karl-May-Festspiele, Jubiläumssymposien und Literaturgottesdienste irren nämlich: Wenn Karl May noch lebt, dann weder als Dieter Bohlen avant la lettre noch als Experte für ökumenische Dialoge und interkulturelle Begegnungen mit bedrohten Naturvölkern und frühen Islamisten, sondern nur als Ausbrecher aus dem Gefängnis literaturwissenschaftlicher Zuschreibungen und nostalgischer Verklärungen.
MARTIN HALTER.
Christian Moser: "Karl May - Die ganze Wahrheit".
Carlsen Verlag, Hamburg 2012. 160 S., geb., 12,90 [Euro].
Gerd Ueding: "Utopisches Grenzland: Über Karl May". Essays.
Klöpfer & Meyer, Tübingen 2012. 303 S., geb., 22,- [Euro].
Thomas Kramer: "Karl May". Ein biographisches Porträt.
Herder Verlag, Freiburg 2011. 192 S., br., 12,99 [Euro].
Rolf H.Krauss: "Karl May und die Fotografie". Vier Annäherungen.
Jonas Verlag, Marburg 2011. 95 S., geb., 20,- [Euro].
Rüdiger Schaper: "Karl May. Untertan, Hochstapler, Übermensch".
Siedler Verlag, München 2011. 240 S., geb., 19,99 [Euro].
Claus Roxin u. a. (Hrsg.): Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2011.
Hansa Verlag, Husum 2011. 329 S., 27,- [Euro].
Helmut Schmiedt: "Karl May oder Die Macht der Phantasie". Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2011. 368 S., geb., 22,95 [Euro].
Karl May: "Im fernen Westen". Gesammelte Werke Band 89.
Karl May Verlag, Bamberg/Radebeul 2011. 534 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum Jubiläum scharen sich Kenner und Liebhaber um das Lagerfeuer ihrer Jugendträume: Hundert Jahre nach seinem Tod wird Karl May jedoch mehr interpretiert als gelesen.
Der Tod, erklärt Kara Ben Nemsi dem kleingläubigen Hadschi Halef Omar einmal, "ist für mich nicht vorhanden". Und tatsächlich: Auch wenn Karl May am 30. März 1912 in die ewigen Jagdgründe (angeblich mit dem letzten Seufzer "Sieg, großer Sieg! Ich sehe alles rosenrot!") entrückt wurde, lebt sein Mythos augenscheinlich fort. In seinem Geburtsort Hohenstein-Ernstthal feiert man seinen hundertsten Todestag mit dem Event "Karl May lebt", im Katholischen Familienbildungsheim Meckenheim "liest und lebt" ihn ein Schauspieler. Nürnberg würdigt den Unsterblichen mit einem Karl-May-Literaturgottesdienst von Dekan Krieghoff, Berlin mit einer Karl-May-Filmgala mit Atze Brauner, Spiekeroog mit einem Liederabend mit Karl-May-Kompositionen. In Radebeul wird der Karl-May-Erlebnispfad eingeweiht, in München erinnert die Lesung "Verdimmi-verdammi" an die enge Beziehung zwischen Winnetou und Wurzelsepp. Karl Hohenthal, besser bekannt als Franz Xaver Kroetz, hat soeben mit "Hadschi Halef Omar im Wilden Westen" das Werk des Maysters um neue Abenteuer und einige Squaws bereichert.
Martin Walser hat ihn "unter der Bettdecke mit der Taschenlampe" gelesen und beim Wiederlesen für das Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft sofort wieder Feuer gefangen. Sattelt mir noch einmal das Musenross Hatatitla, zündet die Hirschtalgkerzen an: So viel Großes und Schönes hat Karl May geschrieben, noch Edleres gewollt, aber übel hat man ihm seine "vor keiner Niedertracht kapitulierende Menschlichkeit" gelohnt. Empor ins Reich der Edelmenschen? "Da grinse, wer kann." Vom blinden, verwirrten Proleten zum missionarischen Seher, vom Kegeljungen zum "letzten Großmystiker" (Arno Schmidt), vom Kerzendieb und Hochstapler Dr. Heilig zur Lichtgestalt: Karl Mays Biographie folgt so offensichtlich den Mustern von Heilsgeschichte und Kolportage, dass man auch seine letzte rosenrote Vision für eines seiner reißenden Märchen halten könnte. Selbst sein Verleger Ernst Fehsenfeld sah ihm ja von weitem den "leichten Schwung von Reiterbeinen" und das "energische Kinn" Old Shatterhands an. Wenn ein 1,65 Meter großer Hänfling Millionen von Leser in seine folie à trois ("Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle") einzuspannen vermag, kann er auch dem Tod mit seiner Alten Schmetterhand ein Schnippchen schlagen.
Allein, so emsig und sentimental gerührt sich ältere Blutsbrüder und grauköpfige Professoren (Frauen sind in den dark and bloody grounds der May-Literatur noch rarer als im Wilden Westen) über ihre erste Lese-Liebe beugen und noch die verborgensten Hide-Spots von Leben und Werk psychologisch, soziologisch, theologisch und ethnologisch ausleuchten: Wirklich gelesen wird der "Shakespeare der Jungens" (Ernst Bloch) nicht mehr, jedenfalls nicht unter der Bettdecke und mit pochend heißem Herzen. Nicht zufällig wohl fielen der Beginn der May-Forschung und die Gründung der Karl-May-Gesellschaft in den sechziger Jahren mit seinem Niedergang als Volksschriftsteller zusammen. "Der Schuh des Manitou" ist eine Art "Sitara" für Nichtleser.
Das Steckenpferd Hatatitla wird fast nur noch von kauzigen Privatgelehrten geritten; Winnetou kennt man nur noch als Parodie von Parodien, als Doubles von Pierre Brice und Goyko Mitic. Die Wüsten und Prärien, die May sich aus dem Baedeker und seinen Gefängnisfluchtträumen zurechtzimmerte, sind durch Fernreisen, Fernsehen und Internet erschlossen, seine "Gesammelten Werke" historisch-kritisch lückenlos dokumentiert (und durch apokryphe Titel wie Marie Versinis Memoiren "Ich war Winnetous Schwester" in die Gegenwart fortgeschrieben worden). Aber die Generation Facebook liest, wenn überhaupt, lieber Harry Potter und "Herr der Ringe".
Karl May hat sich aus Schund und Schande empor ins Reich der Edelfedern gearbeitet, aber er zahlte einen hohen Preis dafür. Dass der Sieg über die Krittler und Krämer Ardistans ein Pyrrhussieg gewesen sein könnte, zeichnete sich schon zu seinen Lebzeiten ab. Eine Woche vor seinem Tod war der "geborene Verbrecher" bei seinem letzten Auftritt in Wien glanzvoll rehabilitiert worden; selbst Thomas Mann würdigte ihn als "gar nicht uninteressanten Scharlatan". Aber die späte Apotheose erwies sich als Himmelfahrt zweiter Klasse. Unter den zweieinhalbtausend bewegten Zuhörern saß, so jedenfalls die Legende, auch ein erfolgloser Kunstmaler, der mit seiner May-Begeisterung später viel Unheil anrichtete. Und die wenigen Jugendlichen im Saal zeigten sich vom Testament ihres Idols enttäuscht: Sie hatten Old Shatterhands Faust sehen und hören wollen, nicht eine zweieinhalbstündige Predigt über Frieden, Freude und Edelmenschen. Ein Foto von seinem letzten Auftritt zeigt den Fürst der Bleichgesichter als gebrochenen, verwirrten alten Mann vor einem viel zu großen Automobil. Rolf Krauss beschreibt in "Karl May und die Fotografie", wie die Fanalben und Fotopostkarten von Dr. May im Kostüm Old Shatterhands den Mythomanen zum ersten Popstar der deutschen Literaturgeschichte machten. Die bürgerlich-repräsentativen Selbstbildnisse, die er nach dem Zusammenbruch seiner Lebenslügen auf der Orient-Reise 1899 in Umlauf brachte, waren deutlich weniger gefragt, und Klaras Schnappschüsse vom Touristen Karl May unter Palmen und Pyramiden hielt er lieber gleich unter Verschluss.
Zum May-Jubiläum scharen sich Kenner und Liebhaber noch einmal zahlreich um das Lagerfeuer ihrer Jugendträume. Aber der Funke springt nur noch selten über; am ehesten noch bei Gerd Ueding, dem Rhetoriker aus der Tübinger Bloch-Schule ("Es gibt nur Karl May und Hegel, alles dazwischen ist eine unreine Mischung"). Mit Wehmut erinnert Ueding sich seiner frühen "Karl-May-Genusstage", als die naive Freude an Exotik und Abenteuer noch der Vorschein eines "Ganz-Anders-Seins" war. Von der "Sonntagswelt unserer Jugend" blieb nur der bunte Abglanz des literaturwissenschaftlichen Interpretierens. Ueding analysiert in seinen Essays klug und schwungvoll May als Rhetoriker (die "Rhetorik des Herzens" war neben Henrystutzen und Bärentöter seine "dritte Geheimwaffe"), Phantasten und Heilkünstler, seine Affekt-, Selbstentfesselungs und Selbstbestrafungsstrategien und seine Erlösungsmärchen als "Medium und Triebkraft deutscher Geistesgeschichte". Uedings "Spiel sich potenzierender Spiegelungen" zwischen Old Death und Hobble-Frank, Hegel, Goethe, Nietzsche, Strindberg und Kafka ist selbst "zielhaftes, nicht ablenkbares Fabulieren auf die Freiheit hin". Aber doch auch nur ein Abenteuer des Geistes, eine rhetorische Rhapsodie für bleichgesichtige Germanisten.
Auch der Karl-May-Verlag, der seine Goldnuggets früher bedenkenlos für Jugend und Zeit zurechtschliff, befleißigt sich heute philologischer Sorgfalt und Demut. In Band 89 der grünen Reihe - "Im fernen Westen" ist so etwas wie das missing link zwischen "Old Firehand" (1875) und "Winnetou II" (1893) - zeichnet Herausgeber Christoph L. Lorentz im Nachwort akribisch nach, wie der um seine moralische und literarische Reputation besorgte May Ellen, eine seiner wenigen Frauenfiguren, in einen Harry und den blutrünstigen Ur-Winnetou, der noch nach Indianerart auf Skalpjagd geht und Zigarrenstummel schluckt, in einen roten Heiland verwandelte. Die von Old Shatterhand erzählte Comic-Biographie "Karl May - Die ganze Wahrheit" wird vom Verlag kaum autorisiert werden; eher schon "Karl May oder Die Macht der Phantasie".
Helmut Schmiedt dokumentiert materialreich, chronologisch, absolut seriös und nur ein bisschen spröde den Stand der Forschung und verschweigt dabei weder die wunden Punkte der Mayschen Selbstinszenierungen noch seinen sinkenden Ruhm. Als "Massenphänomen" werde Karl May immer älter und schwächer und vielleicht bald ganz verschwunden sein; aber sein Platz unter den Klassikern des Bildungsbürgertums ist gesichert. "Nur noch bei den Nichtsahnenden existiert Karl May als literarischer Grobmotoriker und nichtsnutziger Bewohner des kulturellen Souterrains." Uff, zounds und howgh - der stellvertretende Häuptling der Karl-May-Gesellschaft hat gesprochen.
Thomas Kramers May-Biographie ist nicht ganz so treffsicher und schwer wie Schmiedts Bärentöter, aber auch eine Liebeserklärung und als erste Orientierung für Greenhorns allemal brauchbar. Allerdings unterstreicht Kramer Mays "erstaunliche Aktualität" durch manchmal erstaunliche Aktualisierungen: So entdeckt er in ihm einen Vorläufer von Dieter Bohlen und neueren Dschungelcamps, in seinem "Waldröschen" eine hellsichtige Vision des Internetzeitalters und in dem toten Winnetou aus "Winnetous Erben" gar einen "Prärie-Lenin", der "Wildwest-Bolschewiki" anführt.
Rüdiger Schaper widmet dem "elektrischen Winnetou" des Spätwerks eine luzide Analyse, aber auch er versteigt sich zu manchmal abenteuerlichen Urteilen und Querverweisen. Der frisch in seinen Dämon Emma verliebte Knastbruder erinnert ihn an Bonnie und Clyde, seine Reiseromankulissen an James Camerons "Avatar", Las Vegas und Schlingensiefs Operndorf in der Wüste. Aber auch wenn Schaper immer wieder abschweift, sich in feuilletonistischen Phrasen und schnoddrigen Provokationen gefällt (der Übermensch May darf hier schon mal "vögeln" oder "dealen": "Ein Kara Ben Nemsi kennt keinen Knacks!"): Mit dem Schlachtruf "Befreit Karl May!", originellen Gedanken und einem radikal subjektiven Zugriff bringt er neben viel heißer Luft auch einigen frischen Wind in die erstarrten Fronten und stickigen Weihrauchnebel der May-Gemeinde.
Schaper spielt mit spätpubertärer Lust den Outlaw und bleibt so dem tolldreisten Aufschneider und Hochstapler vielleicht treuer als die braven Fährtenleser auf ausgetretenen Pfaden. Die Karl-May-Festspiele, Jubiläumssymposien und Literaturgottesdienste irren nämlich: Wenn Karl May noch lebt, dann weder als Dieter Bohlen avant la lettre noch als Experte für ökumenische Dialoge und interkulturelle Begegnungen mit bedrohten Naturvölkern und frühen Islamisten, sondern nur als Ausbrecher aus dem Gefängnis literaturwissenschaftlicher Zuschreibungen und nostalgischer Verklärungen.
MARTIN HALTER.
Christian Moser: "Karl May - Die ganze Wahrheit".
Carlsen Verlag, Hamburg 2012. 160 S., geb., 12,90 [Euro].
Gerd Ueding: "Utopisches Grenzland: Über Karl May". Essays.
Klöpfer & Meyer, Tübingen 2012. 303 S., geb., 22,- [Euro].
Thomas Kramer: "Karl May". Ein biographisches Porträt.
Herder Verlag, Freiburg 2011. 192 S., br., 12,99 [Euro].
Rolf H.Krauss: "Karl May und die Fotografie". Vier Annäherungen.
Jonas Verlag, Marburg 2011. 95 S., geb., 20,- [Euro].
Rüdiger Schaper: "Karl May. Untertan, Hochstapler, Übermensch".
Siedler Verlag, München 2011. 240 S., geb., 19,99 [Euro].
Claus Roxin u. a. (Hrsg.): Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2011.
Hansa Verlag, Husum 2011. 329 S., 27,- [Euro].
Helmut Schmiedt: "Karl May oder Die Macht der Phantasie". Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2011. 368 S., geb., 22,95 [Euro].
Karl May: "Im fernen Westen". Gesammelte Werke Band 89.
Karl May Verlag, Bamberg/Radebeul 2011. 534 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main