Karl Renner gilt bis heute als einer der wichtigsten Politiker Österreichs. Als Staatskanzler gründete er die Erste Republik, als Bundespräsident führte er die Zweite Republik an. Man kann ihn zu Recht als "Jahrhundertpolitiker" bezeichnen, da er das
Geschick der österreichischen Sozialdemokratie über viele Jahrzehnte prägte. Doch er gilt auch als einer der umstrittensten Politiker, da sein offizielles "Ja" zum "Anschluss" an Hitler-Deutschland seinem Ansehen erheblich geschadet hat. Siegfried Nasko untersucht nochmals alle Quellen und zeichnet ein völlig neues Bild von der vielschichtigen Persönlichkeit Karl Renners und seinem politischen Wirken und Schaffen.
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Geschick der österreichischen Sozialdemokratie über viele Jahrzehnte prägte. Doch er gilt auch als einer der umstrittensten Politiker, da sein offizielles "Ja" zum "Anschluss" an Hitler-Deutschland seinem Ansehen erheblich geschadet hat. Siegfried Nasko untersucht nochmals alle Quellen und zeichnet ein völlig neues Bild von der vielschichtigen Persönlichkeit Karl Renners und seinem politischen Wirken und Schaffen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2017Flexibel und vielseitig
Karl Renner als zweifacher Republikgründer Österreichs
Karl Renner war einer der bedeutendsten und zugleich einer der umstrittensten Politiker Österreichs im 20. Jahrhundert. Als Genossenschafter, Parlamentarier, Sozialdemokrat, Staats- und Rechtstheoretiker sowie Schriftsteller erlebte er fünf Systembrüche: das Ende der Habsburgermonarchie 1918, die Erste Republik 1919/20, die Errichtung der autoritären "Ständestaat"-Diktatur 1933/34, den "Anschluss" an NS-Deutschland 1938 und die Zweite Republik 1945.
Aus verarmter, bäuerlicher und mährischer Großfamilie stammend, repräsentierte er die deutsche Aufsteiger-Intelligenz. 1907 im Wiener Reichsrat und 1908 im Niederösterreichischen Landtag tätig, fungierte er 1918 wie 1945 als Republik-Gründer. Mit Max und Friedrich Adler, Rudolf Hilferding, Karl Kautsky und Otto Bauer zählte er zu den einflussreichsten Austromarxisten. Am Brünner Parteitag 1899 hatten sie ein Programm zur Umwandlung der Monarchie in einen "demokratischen Nationalitäten-Bundesstaat" mit Selbstverwaltungskörpern beschlossen, um den Völkerhader zu schlichten. Im Unterschied zu Bauer sah Renner im Zerfall der Monarchie einen Rückschritt. Die Bildung von Nationalstaaten begriff er als unheilvolle Entwicklung und trat für übernationale Staatengebilde ein. Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Idee deutete er, falls freiwillig gebildet, positiv als einen Großwirtschaftsraum, was ihn bei der Parteilinken in Misskredit brachte. Sein Wandel vom Großösterreicher zum Verfechter eines Anschlusses nach 1918 nahm kein Wunder, gleichwohl dies später immer Stein des Anstoßes seiner Gegner war.
Siegfried Nasko, kenntnisreichster Biograph Renners, versteht es umso mehr, ihn in nahezu allen Fragen heikler politischer Lebenslagen gegenüber seinen Kritikern gekonnt in Schutz zu nehmen. Renner hatte es auch nie leicht. Als Staatskanzler und Leiter der österreichischen Delegation in Paris musste er den Friedensvertrag von Saint-Germain entgegennehmen, der im Artikel 88 das Anschluss-Verbot beinhaltete. Österreich wurde damit zur Unabhängigkeit gezwungen, weshalb auch von "Staatsvertrag" die Rede war. Nachdem Georges Clemenceau die Annahme ultimativ gefordert hatte - widrigenfalls wollte man zwangsweise vorgehen -, unterzeichnete Renner am 10. September 1919. Dreitägige Staatstrauer war angesagt, und der Anschluss-Wunsch lebte weiter fort.
Stets um Ausgleich bemüht, versuchte Renner 1920 vergeblich den Bruch der Großen Koalition zu kitten. Die Genfer Völkerbundanleihe zur Sanierung der Staatsfinanzen von 1922 beklagte er, da eine zwanzigjährige Entsagung vom Anschluss Bedingung war. Bei einer Feier des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold in Nürnberg redete Renner 1926 davon, dass Deutschland und Österreich "ein Volk" seien. Drei Jahre später regte er im Sonntagsblatt "Herold" einen Weltkongress aller Staaten unter Vorsitz der Vereinigten Staaten an, um den Anschluss zu ermöglichen. 1931 zum ersten Präsidenten des Nationalrats gewählt, nahm er in seiner Antrittsrede auf das Zollunionprojekt zwischen Österreich und Deutschland Bezug. Beide hätten damit den ersten Schritt auf dem Weg ins Freie getan. Das "zum Krüppel geschlagene Österreich" könne damit "das Herrschaftsdiadem seiner Souveränität niederlegen".
Der Machtantritt Hitlers, den Renner als österreichisches Gewächs begriff, führte 1933 zur Streichung des "Anschluss-Paragraphen" aus dem sozialdemokratischen Parteiprogramm. Weder Bauer noch Renner strichen aber den Anschluss-Wunsch aus ihrem Herzen. Im Bürgerkriegsjahr 1934 saß Renner monatelang in Haft, was ihn später verleitete zu sagen, der braune Faschismus sei ihm lieber als der schwarze. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Österreich gab Renner als Sozialdemokrat sein "Ja" zum Anschluss, wenngleich unter Methoden zustande gekommen, die er nicht billige.
Das Interview erschien am 3. April 1938 im "Neuen Wiener Tagblatt". Renner führte darin aus, er habe seit der Gründung der Republik "Deutsch-Österreich" allen Anforderungen und Verboten zum Trotz den Kampf um den Anschluss geführt. Die 20-jährige "Irrfahrt des österreichischen Volkes" sei nun zu Ende und "das traurige Zwischenspiel von 1866 bis 1918" Geschichte. Im "Anschluss" sah er das Selbstbestimmungsrecht für Österreich realisiert, wofür er in Saint-Germain eingetreten war. So sah er auch das Münchner Abkommen vom September 1938, pries die deutsche Einverleibung des Sudetenlandes und erlag dem gleichen Irrtum westlicher Staatsmänner, die den europäischen Frieden damit gerettet sahen.
Renner löste sich vom Anschluss-Denken erst nach der alliierten Moskauer Deklaration vom 1. November 1943, die dann die Befreiung und Unabhängigkeit Österreichs verheißen sollte. Er propagierte ausgehend davon die Opfer-These, gleichwohl der eigene Beitrag zur Selbstbefreiung gering war. Für Stalin, dem sich Renner 1945 geschickt angedient hatte, war entscheidend, dass er für Österreichs völlige Unabhängigkeit eintrat und damit dem Anschluss-Gedanken abschwor. So wurde Renner Chef einer provisorischen Regierung, die die Basis für die staatliche Einheit trotz Zonentrennung schuf. Er war stets flexibel, offen und vielseitig. Manchen erscheint das heute noch als purer Opportunismus. Erfolgreiche Politik ist davon aber nie ganz frei. Das detailreiche Buch Naskos über ein schillerndes Politikerleben ist lesenswert, gleichwohl es fallweise etwas apologetisch wirkt.
MICHAEL GEHLER
Siegfried Nasko: Karl Renner. Zu Unrecht umstritten? Eine Wahrheitssuche. Residenz Verlag, Salzburg/Wien 2016, 463 S., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karl Renner als zweifacher Republikgründer Österreichs
Karl Renner war einer der bedeutendsten und zugleich einer der umstrittensten Politiker Österreichs im 20. Jahrhundert. Als Genossenschafter, Parlamentarier, Sozialdemokrat, Staats- und Rechtstheoretiker sowie Schriftsteller erlebte er fünf Systembrüche: das Ende der Habsburgermonarchie 1918, die Erste Republik 1919/20, die Errichtung der autoritären "Ständestaat"-Diktatur 1933/34, den "Anschluss" an NS-Deutschland 1938 und die Zweite Republik 1945.
Aus verarmter, bäuerlicher und mährischer Großfamilie stammend, repräsentierte er die deutsche Aufsteiger-Intelligenz. 1907 im Wiener Reichsrat und 1908 im Niederösterreichischen Landtag tätig, fungierte er 1918 wie 1945 als Republik-Gründer. Mit Max und Friedrich Adler, Rudolf Hilferding, Karl Kautsky und Otto Bauer zählte er zu den einflussreichsten Austromarxisten. Am Brünner Parteitag 1899 hatten sie ein Programm zur Umwandlung der Monarchie in einen "demokratischen Nationalitäten-Bundesstaat" mit Selbstverwaltungskörpern beschlossen, um den Völkerhader zu schlichten. Im Unterschied zu Bauer sah Renner im Zerfall der Monarchie einen Rückschritt. Die Bildung von Nationalstaaten begriff er als unheilvolle Entwicklung und trat für übernationale Staatengebilde ein. Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Idee deutete er, falls freiwillig gebildet, positiv als einen Großwirtschaftsraum, was ihn bei der Parteilinken in Misskredit brachte. Sein Wandel vom Großösterreicher zum Verfechter eines Anschlusses nach 1918 nahm kein Wunder, gleichwohl dies später immer Stein des Anstoßes seiner Gegner war.
Siegfried Nasko, kenntnisreichster Biograph Renners, versteht es umso mehr, ihn in nahezu allen Fragen heikler politischer Lebenslagen gegenüber seinen Kritikern gekonnt in Schutz zu nehmen. Renner hatte es auch nie leicht. Als Staatskanzler und Leiter der österreichischen Delegation in Paris musste er den Friedensvertrag von Saint-Germain entgegennehmen, der im Artikel 88 das Anschluss-Verbot beinhaltete. Österreich wurde damit zur Unabhängigkeit gezwungen, weshalb auch von "Staatsvertrag" die Rede war. Nachdem Georges Clemenceau die Annahme ultimativ gefordert hatte - widrigenfalls wollte man zwangsweise vorgehen -, unterzeichnete Renner am 10. September 1919. Dreitägige Staatstrauer war angesagt, und der Anschluss-Wunsch lebte weiter fort.
Stets um Ausgleich bemüht, versuchte Renner 1920 vergeblich den Bruch der Großen Koalition zu kitten. Die Genfer Völkerbundanleihe zur Sanierung der Staatsfinanzen von 1922 beklagte er, da eine zwanzigjährige Entsagung vom Anschluss Bedingung war. Bei einer Feier des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold in Nürnberg redete Renner 1926 davon, dass Deutschland und Österreich "ein Volk" seien. Drei Jahre später regte er im Sonntagsblatt "Herold" einen Weltkongress aller Staaten unter Vorsitz der Vereinigten Staaten an, um den Anschluss zu ermöglichen. 1931 zum ersten Präsidenten des Nationalrats gewählt, nahm er in seiner Antrittsrede auf das Zollunionprojekt zwischen Österreich und Deutschland Bezug. Beide hätten damit den ersten Schritt auf dem Weg ins Freie getan. Das "zum Krüppel geschlagene Österreich" könne damit "das Herrschaftsdiadem seiner Souveränität niederlegen".
Der Machtantritt Hitlers, den Renner als österreichisches Gewächs begriff, führte 1933 zur Streichung des "Anschluss-Paragraphen" aus dem sozialdemokratischen Parteiprogramm. Weder Bauer noch Renner strichen aber den Anschluss-Wunsch aus ihrem Herzen. Im Bürgerkriegsjahr 1934 saß Renner monatelang in Haft, was ihn später verleitete zu sagen, der braune Faschismus sei ihm lieber als der schwarze. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Österreich gab Renner als Sozialdemokrat sein "Ja" zum Anschluss, wenngleich unter Methoden zustande gekommen, die er nicht billige.
Das Interview erschien am 3. April 1938 im "Neuen Wiener Tagblatt". Renner führte darin aus, er habe seit der Gründung der Republik "Deutsch-Österreich" allen Anforderungen und Verboten zum Trotz den Kampf um den Anschluss geführt. Die 20-jährige "Irrfahrt des österreichischen Volkes" sei nun zu Ende und "das traurige Zwischenspiel von 1866 bis 1918" Geschichte. Im "Anschluss" sah er das Selbstbestimmungsrecht für Österreich realisiert, wofür er in Saint-Germain eingetreten war. So sah er auch das Münchner Abkommen vom September 1938, pries die deutsche Einverleibung des Sudetenlandes und erlag dem gleichen Irrtum westlicher Staatsmänner, die den europäischen Frieden damit gerettet sahen.
Renner löste sich vom Anschluss-Denken erst nach der alliierten Moskauer Deklaration vom 1. November 1943, die dann die Befreiung und Unabhängigkeit Österreichs verheißen sollte. Er propagierte ausgehend davon die Opfer-These, gleichwohl der eigene Beitrag zur Selbstbefreiung gering war. Für Stalin, dem sich Renner 1945 geschickt angedient hatte, war entscheidend, dass er für Österreichs völlige Unabhängigkeit eintrat und damit dem Anschluss-Gedanken abschwor. So wurde Renner Chef einer provisorischen Regierung, die die Basis für die staatliche Einheit trotz Zonentrennung schuf. Er war stets flexibel, offen und vielseitig. Manchen erscheint das heute noch als purer Opportunismus. Erfolgreiche Politik ist davon aber nie ganz frei. Das detailreiche Buch Naskos über ein schillerndes Politikerleben ist lesenswert, gleichwohl es fallweise etwas apologetisch wirkt.
MICHAEL GEHLER
Siegfried Nasko: Karl Renner. Zu Unrecht umstritten? Eine Wahrheitssuche. Residenz Verlag, Salzburg/Wien 2016, 463 S., 25,- [Euro].
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