Produktdetails
- Verlag: Hessische Kirchengesch. Vereinigung
- Erscheinungstermin: 8. Oktober 2006
- Deutsch
- Abmessung: 23.5cm x 15.5cm
- Gewicht: 730g
- ISBN-13: 9783931849238
- ISBN-10: 3931849236
- Artikelnr.: 25628456
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.2023"Was waren das damals für Weihnachtsfeiern!"
Zum Ende des Jubiläumsjahrs der Paulskirche eine Erinnerung an einen ihrer großen Pfarrer: Karl Veidt widerstand den Nazis, aber er war nicht frei von Fehlern.
Von Cornelia von Wrangel
Schön muss sie gewesen sein, die Weihnacht in der Paulskirche, als der Zweite Weltkrieg noch in weiter Ferne lag. Karl Veidt war da ihr Pfarrer. Viele Facetten hatte dieser Karl Veidt, bewundernswerte und andere, geschuldet der Zeit. "Was waren das damals für Weihnachtsfeiern!", schreibt er in seinen Erinnerungen über die Jahre von 1918 bis 1925, als er zum ersten Mal seinen Dienst in Frankfurts evangelischer Altstadtgemeinde versah. Mit Hunderten Kindern feierte die Gemeinde den vierten Advent, "der große Raum zwischen den Säulen voll leuchtender Kinderaugen". Frau Mack, ist sie je anderswo erwähnt worden? Frau Mack also, die Frau des Organisten, hatte für die Paulskirchenkinder ein Lied komponiert, es erklang alle Jahre: "Läute, Glöcklein, läute heil'ge Weihnacht ein!"
Sehr lange ist es her. Wir kennen nicht die Melodie des Liedes, die wohl ihr Mann, Friedrich Mack, an der Orgel vorgab. Trotzdem: Würde man heute so viele Kinder zusammenbekommen? Vor allem die Eltern dazu? "Und dann der Heilige Abend!" Pfarrer Veidt schwärmt in seinen Memoiren davon, er schwärmt vom Glockengeläut, er schwärmt von Frankfurts Altstadt, so wie sie einmal gewesen sein muss. Kurz vor fünf am Nachmittag ging er mit seiner Frau und den Kindern aus dem Pfarrhaus an der Taubenstraße in die Paulskirche, um zuerst ihr Geläut zu hören und danach an der Ecke des Alten Marktes zu erleben, "wie das doch immerhin ganz respektable Geläute der Paulskirche in dem machtvollen Brausen und Dröhnen der Domglocken unterging".
Am Alten Markt traf man nach des Pfarrers Schilderungen Jahr für Jahr dieselben vertrauten Gesichter, Freunde, Bekannte. Wenn eines fehlte, vermisste man es. Man stand vor der "Goldenen Waage", vor dem katholischen Pfarrhaus oder dem "Gewürzhaus" und "ließ sich von dem Meer der Töne, die all die engen Gassen und Gäßchen der Altstadt durchfluteten, tragen". Bevor es zurück in die Paulskirche ging zur Christvesper um sechs und bevor nach alter Tradition die Bläser vom "Wittenberger Hof" auf dem Paulskirchenturm Weihnachtslieder spielten.
Die Jahre wurden schwieriger, bis zum Schluss die Glocken an Weihnachten verstummten. Weihnachten ohne Glocken, für Karl Veidt war das eine schreckliche Vorstellung. Das zweite Mal war er von 1929 bis 1939 Pfarrer der Paulskirche, zwischendrin hatte er eine Professur am Theologischen Seminar in Herborn, und wurde in jenen Jahren wesentlich für den Kirchenkampf in Frankfurt. Er gehörte zu denen, die sich bei der Abstimmung über die Gleichschaltung der evangelischen Kirche, etwa über die Einführung des Führerprinzips und des Arierparagraphen enthielten, der getaufte Juden von kirchlichen Ämtern ausschloss. Ein klares, offenes Nein kam von ihm nicht.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten war Veidt mit an der Spitze des Pfarrernotbundes, einem im September 1933 gegründeten Vorläufer der Bekennenden Kirche. Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer zählten zu seinen Mitgliedern. Von 1934 an leitete er den Landesbruderrat Hessen-Nassau der Bekennenden Kirche und nahm an den Bekenntnissynoden von Barmen, Augsburg und Bad Oeynhausen teil. Das alles war des Widerspruchs und Protests genug, um schikaniert, verhört und verhaftet zu werden. Veidt war es mehrere Male.
Aber er ließ sich nicht unterkriegen. Wie er und seine Mitstreiter und seine Gemeinde die Nazis an der Nase herumgeführt haben - großartig, einfach großartig. Zum Beispiel wie sie dagegen protestierten, dass ihr geschätzter Pfarrer nach Pfungstadt strafversetzt und durch einen dem Regime und damit den Deutschen Christen willfährigen Mann in der Paulskirche ersetzt werden sollte. Veidt hatte gegen die zwangsweise Vereinigung der drei evangelischen Landeskirchen Nassau, Hessen und Frankfurt aufbegehrt. Er dachte auch nicht daran, seinen Posten zu räumen, sondern klagte vielmehr gegen die Kirchenleitung. Von der Eröffnung des Disziplinarverfahrens bis zu den Verhandlungen in zweiter Instanz war sein Gehalt gesperrt und ihm jede Amtstätigkeit untersagt. Die Zeit nutzte er, um anderswo "zum Kampf gegen die Gewalttätigkeit bekenntniswidriger Kirchenleitungen aufzurufen". Die Aufmüpfigen hatten einen ungeheuren Erfolg. Als sie sich in einem feierlichen Gottesdienst von der Kirchenspitze in Darmstadt lossagten und nichts mit den nationalsozialistisch gesinnten Deutschen Christen zu tun haben wollten, kamen etwa hundert Pfarrer im Ornat. Sie mussten ins Hippodrom ausweichen, heißt es in Veidts Erinnerungen, keine Kirche Frankfurts hätte genug Platz geboten, so groß war der Andrang.
Es begannen die Schikanen, die Hausdurchsuchungen und Verhöre. Veidt konnte nicht einmal mehr in seine Paulskirche. Sein von den Nationalsozialisten eingesetzter Amtsbruder hatte die Schlösser und Schlüssel ausgetauscht. Viel geholfen hat es nicht. Beim Einführungsgottesdienst für den Amtsbruder zog der größte Teil der Kirchenbesucher aus Protest gegen diese Einsetzung "in Ordnung und würdiger Haltung" hinüber zur Alten Nikolaikirche, wo die Vertreter der Bekennenden Kirche einen überfüllten Gottesdienst nach dem anderen feierten. Eins zu null, kann man da nur sagen.
Aber auch hier wies man ihnen die Tür, die Nikolaikirche wurde von innen verriegelt. Denn nun wollten auch die Gegner, die Deutschen Christen, hier Gottesdienst halten, am nächsten Sonntag um zehn. Ihre Gegenspieler waren aber schon eine Stunde früher da. Wie das? Der Nikolai-Küster Brehme hatte einen zweiten Schlüssel in Sicherheit gebracht, dieser "liebe" und "treue" Mann der Inneren Mission. Gelobt sei er, in den Himmel gehoben. Es wiederholte sich, was schon eine Woche zuvor geschah. Von neun Uhr an bis in den späten Nachmittag folgte in der Nikolaikirche ein Gottesdienst dem nächsten. Und die anderen schauten dumm aus der Wäsche. Zwei zu null. Es waren leider nur kurze Punktsiege.
Eine Woche später nutzte auch der zweite Schlüssel nichts mehr. Die Deutschen Christen hatten in der Nikolaikirche neue Türschlösser eingebaut. Pfarrer Veidt war mit seiner Paulsgemeinde heimatlos geworden. Sie fanden aber Unterschlupf, im Vereinshaus West, in der Dreikönigskirche und in der Lukaskirche. Bis die Gestapo Veidt in Frankfurt und im ganzen Gebiet der Landeskirche Redeverbot erteilte. Das war am 10. April 1935. Jetzt wollten sie ihn auf diesem Weg aus dem Amt drängen. Er schlug ihnen wieder ein Schnippchen. Zumindest ein kleines. Mit der "merkwürdigsten Konfirmation, die Frankfurt bis je erlebt hatte". Sagte er selbst.
Vier Tage nach dem Redeverbot, sprich am Sonntag, war in der Dreikönigskirche die Konfirmation von 104 Jungen und Mädchen geplant. "Was sollte ich tun?", schreibt Veidt in seinen Memoiren: "Da kam mir, wie eine Erleuchtung, ein guter Gedanke. Ich halte eine schweigende Konfirmation. Ein anderer muß für mich reden, ich aber konfirmiere." So geschah es. Sie standen zu zweit am Altar. Der Landesbischof von Nassau, August Kortheuer, und er. "Ich bin heute nur der Mund eures Pfarrers", sagte Kortheuer, der ebenfalls der "Machtergreifung" der Deutschen Christen in seiner Landeskirche und der Vereinigung mit den beiden anderen südhessischen Kirchen entgegengetreten und dafür in den Ruhestand versetzt worden war. Der Bischof verlas die Namen und Konfirmationssprüche, sagte die Einsegnungsworte, Veidt aber legte die Hände auf und drückte den Konfirmanden die Hand.
Wo Veidt fortan sprach, ob in Württemberg, Baden, Westfalen oder im Rheinland - er bekam auch dort Redeverbot. Offiziell ist es nach seiner Darstellung nie aufgehoben worden, erreichte vielmehr dadurch sein Ende, dass er es nicht mehr beachtete. Am 30. April 1935 gewann Veidt seinen Prozess gegen die Kirchenleitung, im Herbst kehrte er wieder als Pfarrer in die Paulskirche zurück. Der andere Amtsbruder blieb zwar, aber Veidt wurde, wie er schreibt, wieder in den Gottesdienstplan aufgenommen.
Veidt schied 1939 aus der Paulskirche aus, wechselte zur Matthäuskirche ins Frankfurter Westend, der Kirchenkampf hatte ihn ermattet. Die Matthäuskirche und seine Dienstwohnung wurden 1944 ausgebombt. Er zog nach Wiesbaden-Biebrich, wirkte nun dort, blieb aber durch viele Rundbriefe mit seinen verstreuten Frankfurter Gemeindemitgliedern verbunden. 1945 wurde er pensioniert.
Das war der mutige Pfarrer Veidt, der sich in Kirchen- und Glaubensangelegenheiten nicht reinreden lassen wollte. Es gab aber auch den konservativen, streng nationalen Politiker Veidt, der dem Antisemitismus durchaus etwas abgewinnen konnte. Veidt hatte von 1914 an als Feldgeistlicher am Ersten Weltkrieg teilgenommen. Er diente bei der 21. Reserve-Division des Deutschen Heeres, war Träger des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse, kehrte 1918 nach Frankfurt zurück, nahm in der Paulskirche seinen Pfarrdienst auf und empfand für das Kriegsende und den Zusammenbruch des Kaiserreichs "brennende Scham".
Als Vertreter der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) war Veidt 1919 Abgeordneter in der Weimarer Nationalversammlung und 1924 Mitglied des Reichstags. Später, 1932/1933, vertrat er den Christlich-Sozialen Volksdienst, eine protestantisch-konservative Partei, im Preußischen Landtag in Berlin. Veidt hatte fest eingeprägte Feindbilder, vor allen den Kommunismus. Den Nationalsozialismus lehnte er indes von Anfang an ab. Veidt - ein politischer Widerstandskämpfer, in offener Opposition gegen Hitler und sein Regime? Nein. Es ging ihm um die Kirche. Es war ein innerkirchlicher Protest, ein Protest dagegen, in welche Verfassungsform die Deutschen Christen die evangelische Kirche pressen wollten. Eben in eine mit Führerprinzip und Arierparagraph. So interpretiert auch Wolfgang Thierse, der frühere Präsident des Deutschen Bundestages, Veidts Wirken in seinem Vorwort zu dessen Memoiren, Rundbriefen, Predigten und politischen Reden.
Seine Lebenserinnerungen, aus denen hier immer wieder zitiert wird, diktierte Veidt 1946. Er war zu jenem Zeitpunkt schon sehr krank. Aus vielen Seiten spricht ein Seelsorger und Gemeindepfarrer, der seine Aufgaben liebte, seine Gemeinde und eben die Altstadt, in deren Mitte sie lag. "Das eigentliche echte, alte Frankfurt fand sich hier in der Altstadt, nirgends sonst." Der kein Detail vergaß, selbst die Stricke erwähnte, an denen man sich in jenen Häusern festhalten musste, in denen es kein Geländer gab, und als Beleg dafür einen Pfarrkollegen zitierte: "Ich bin heute wieder zu Gottes Ehre zweimal die Treppe hinuntergefallen."
In seinem Rückblick auf sein Leben ging Veidt auch auf den Mord an den Juden ein, hielt sich und seiner Kirche vor, geschwiegen zu haben, wo sie hätten reden müssen. "Ich habe einmal an einem Sonntagnachmittag gesehen", gab er zu, "wie in der Niedenau aus einem jüdischen Altersheim alle Insassen, fast lauter bettlägrige Leute, herausgeholt und auf einem Lastwagen abtransportiert wurden. Ich habe nicht den Mut gehabt, hinzugehen und wenigstens einigen der Leute die Hand zu reichen und ihnen zu sagen, daß einige da waren, die mit ihnen litten und das verurteilten, was mit ihnen geschah. Wie ein geschlagener Hund bin ich nach Hause gegangen." So verhetzt sei damals "unser Volk" gewesen durch die mit teuflischen Variationen immer neu wiederholte "Melodie", die Juden seien an allem schuld.
In einem jener Rundbriefe, mit denen er Kontakt zu den Gemeindemitgliedern hielt, rief Veidt das letzte Weihnachten noch einmal ins Gedächtnis, das sie vor dem Krieg in der Paulskirche gefeiert hatten. Der Rundbrief stammt von Dezember 1945. Da "läuteten die Glocken über den Dächern der Altstadt und wir sahen noch das Goldkreuz funkeln im Abendsonnenstrahl." Quasi im selben Atemzug aber stellte er fest, dass zu dem Zeitpunkt eigentlich schon kein Frieden mehr in der Welt gewesen sei. Martin Niemöller und viele andere saßen bereits im Gefängnis oder Konzentrationslager, zählte er auf, und die Synagogen hatten schon gebrannt. Die Zukunft unseres Volkes, schrieb er weiter, werde keine Zukunft politischer oder wirtschaftlicher Macht mehr sein. Zu diesem Wege habe Gott sein "Nein" gesprochen.
Immer wenn das Große Stadtgeläut erklingt, also auch an Heiligabend, macht die Paulskirche, in der vor 175 Jahren das erste gesamtdeutsche Parlament tagte, den Auftakt. Erst ertönt ihre Bürgerglocke, dann folgen ihre fünf anderen Glocken. Pfarrer Veidt würde es freuen. Er starb am 10. August 1946 in Wiesbaden.
Werner Becher (Hrsg.): "Karl Veidt, Paulskirchenpfarrer und Reichstagsabgeordneter". Quellen und Studien zur Hessischen Kirchengeschichte, Band 14, Darmstadt und Kassel 2006
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum Ende des Jubiläumsjahrs der Paulskirche eine Erinnerung an einen ihrer großen Pfarrer: Karl Veidt widerstand den Nazis, aber er war nicht frei von Fehlern.
Von Cornelia von Wrangel
Schön muss sie gewesen sein, die Weihnacht in der Paulskirche, als der Zweite Weltkrieg noch in weiter Ferne lag. Karl Veidt war da ihr Pfarrer. Viele Facetten hatte dieser Karl Veidt, bewundernswerte und andere, geschuldet der Zeit. "Was waren das damals für Weihnachtsfeiern!", schreibt er in seinen Erinnerungen über die Jahre von 1918 bis 1925, als er zum ersten Mal seinen Dienst in Frankfurts evangelischer Altstadtgemeinde versah. Mit Hunderten Kindern feierte die Gemeinde den vierten Advent, "der große Raum zwischen den Säulen voll leuchtender Kinderaugen". Frau Mack, ist sie je anderswo erwähnt worden? Frau Mack also, die Frau des Organisten, hatte für die Paulskirchenkinder ein Lied komponiert, es erklang alle Jahre: "Läute, Glöcklein, läute heil'ge Weihnacht ein!"
Sehr lange ist es her. Wir kennen nicht die Melodie des Liedes, die wohl ihr Mann, Friedrich Mack, an der Orgel vorgab. Trotzdem: Würde man heute so viele Kinder zusammenbekommen? Vor allem die Eltern dazu? "Und dann der Heilige Abend!" Pfarrer Veidt schwärmt in seinen Memoiren davon, er schwärmt vom Glockengeläut, er schwärmt von Frankfurts Altstadt, so wie sie einmal gewesen sein muss. Kurz vor fünf am Nachmittag ging er mit seiner Frau und den Kindern aus dem Pfarrhaus an der Taubenstraße in die Paulskirche, um zuerst ihr Geläut zu hören und danach an der Ecke des Alten Marktes zu erleben, "wie das doch immerhin ganz respektable Geläute der Paulskirche in dem machtvollen Brausen und Dröhnen der Domglocken unterging".
Am Alten Markt traf man nach des Pfarrers Schilderungen Jahr für Jahr dieselben vertrauten Gesichter, Freunde, Bekannte. Wenn eines fehlte, vermisste man es. Man stand vor der "Goldenen Waage", vor dem katholischen Pfarrhaus oder dem "Gewürzhaus" und "ließ sich von dem Meer der Töne, die all die engen Gassen und Gäßchen der Altstadt durchfluteten, tragen". Bevor es zurück in die Paulskirche ging zur Christvesper um sechs und bevor nach alter Tradition die Bläser vom "Wittenberger Hof" auf dem Paulskirchenturm Weihnachtslieder spielten.
Die Jahre wurden schwieriger, bis zum Schluss die Glocken an Weihnachten verstummten. Weihnachten ohne Glocken, für Karl Veidt war das eine schreckliche Vorstellung. Das zweite Mal war er von 1929 bis 1939 Pfarrer der Paulskirche, zwischendrin hatte er eine Professur am Theologischen Seminar in Herborn, und wurde in jenen Jahren wesentlich für den Kirchenkampf in Frankfurt. Er gehörte zu denen, die sich bei der Abstimmung über die Gleichschaltung der evangelischen Kirche, etwa über die Einführung des Führerprinzips und des Arierparagraphen enthielten, der getaufte Juden von kirchlichen Ämtern ausschloss. Ein klares, offenes Nein kam von ihm nicht.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten war Veidt mit an der Spitze des Pfarrernotbundes, einem im September 1933 gegründeten Vorläufer der Bekennenden Kirche. Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer zählten zu seinen Mitgliedern. Von 1934 an leitete er den Landesbruderrat Hessen-Nassau der Bekennenden Kirche und nahm an den Bekenntnissynoden von Barmen, Augsburg und Bad Oeynhausen teil. Das alles war des Widerspruchs und Protests genug, um schikaniert, verhört und verhaftet zu werden. Veidt war es mehrere Male.
Aber er ließ sich nicht unterkriegen. Wie er und seine Mitstreiter und seine Gemeinde die Nazis an der Nase herumgeführt haben - großartig, einfach großartig. Zum Beispiel wie sie dagegen protestierten, dass ihr geschätzter Pfarrer nach Pfungstadt strafversetzt und durch einen dem Regime und damit den Deutschen Christen willfährigen Mann in der Paulskirche ersetzt werden sollte. Veidt hatte gegen die zwangsweise Vereinigung der drei evangelischen Landeskirchen Nassau, Hessen und Frankfurt aufbegehrt. Er dachte auch nicht daran, seinen Posten zu räumen, sondern klagte vielmehr gegen die Kirchenleitung. Von der Eröffnung des Disziplinarverfahrens bis zu den Verhandlungen in zweiter Instanz war sein Gehalt gesperrt und ihm jede Amtstätigkeit untersagt. Die Zeit nutzte er, um anderswo "zum Kampf gegen die Gewalttätigkeit bekenntniswidriger Kirchenleitungen aufzurufen". Die Aufmüpfigen hatten einen ungeheuren Erfolg. Als sie sich in einem feierlichen Gottesdienst von der Kirchenspitze in Darmstadt lossagten und nichts mit den nationalsozialistisch gesinnten Deutschen Christen zu tun haben wollten, kamen etwa hundert Pfarrer im Ornat. Sie mussten ins Hippodrom ausweichen, heißt es in Veidts Erinnerungen, keine Kirche Frankfurts hätte genug Platz geboten, so groß war der Andrang.
Es begannen die Schikanen, die Hausdurchsuchungen und Verhöre. Veidt konnte nicht einmal mehr in seine Paulskirche. Sein von den Nationalsozialisten eingesetzter Amtsbruder hatte die Schlösser und Schlüssel ausgetauscht. Viel geholfen hat es nicht. Beim Einführungsgottesdienst für den Amtsbruder zog der größte Teil der Kirchenbesucher aus Protest gegen diese Einsetzung "in Ordnung und würdiger Haltung" hinüber zur Alten Nikolaikirche, wo die Vertreter der Bekennenden Kirche einen überfüllten Gottesdienst nach dem anderen feierten. Eins zu null, kann man da nur sagen.
Aber auch hier wies man ihnen die Tür, die Nikolaikirche wurde von innen verriegelt. Denn nun wollten auch die Gegner, die Deutschen Christen, hier Gottesdienst halten, am nächsten Sonntag um zehn. Ihre Gegenspieler waren aber schon eine Stunde früher da. Wie das? Der Nikolai-Küster Brehme hatte einen zweiten Schlüssel in Sicherheit gebracht, dieser "liebe" und "treue" Mann der Inneren Mission. Gelobt sei er, in den Himmel gehoben. Es wiederholte sich, was schon eine Woche zuvor geschah. Von neun Uhr an bis in den späten Nachmittag folgte in der Nikolaikirche ein Gottesdienst dem nächsten. Und die anderen schauten dumm aus der Wäsche. Zwei zu null. Es waren leider nur kurze Punktsiege.
Eine Woche später nutzte auch der zweite Schlüssel nichts mehr. Die Deutschen Christen hatten in der Nikolaikirche neue Türschlösser eingebaut. Pfarrer Veidt war mit seiner Paulsgemeinde heimatlos geworden. Sie fanden aber Unterschlupf, im Vereinshaus West, in der Dreikönigskirche und in der Lukaskirche. Bis die Gestapo Veidt in Frankfurt und im ganzen Gebiet der Landeskirche Redeverbot erteilte. Das war am 10. April 1935. Jetzt wollten sie ihn auf diesem Weg aus dem Amt drängen. Er schlug ihnen wieder ein Schnippchen. Zumindest ein kleines. Mit der "merkwürdigsten Konfirmation, die Frankfurt bis je erlebt hatte". Sagte er selbst.
Vier Tage nach dem Redeverbot, sprich am Sonntag, war in der Dreikönigskirche die Konfirmation von 104 Jungen und Mädchen geplant. "Was sollte ich tun?", schreibt Veidt in seinen Memoiren: "Da kam mir, wie eine Erleuchtung, ein guter Gedanke. Ich halte eine schweigende Konfirmation. Ein anderer muß für mich reden, ich aber konfirmiere." So geschah es. Sie standen zu zweit am Altar. Der Landesbischof von Nassau, August Kortheuer, und er. "Ich bin heute nur der Mund eures Pfarrers", sagte Kortheuer, der ebenfalls der "Machtergreifung" der Deutschen Christen in seiner Landeskirche und der Vereinigung mit den beiden anderen südhessischen Kirchen entgegengetreten und dafür in den Ruhestand versetzt worden war. Der Bischof verlas die Namen und Konfirmationssprüche, sagte die Einsegnungsworte, Veidt aber legte die Hände auf und drückte den Konfirmanden die Hand.
Wo Veidt fortan sprach, ob in Württemberg, Baden, Westfalen oder im Rheinland - er bekam auch dort Redeverbot. Offiziell ist es nach seiner Darstellung nie aufgehoben worden, erreichte vielmehr dadurch sein Ende, dass er es nicht mehr beachtete. Am 30. April 1935 gewann Veidt seinen Prozess gegen die Kirchenleitung, im Herbst kehrte er wieder als Pfarrer in die Paulskirche zurück. Der andere Amtsbruder blieb zwar, aber Veidt wurde, wie er schreibt, wieder in den Gottesdienstplan aufgenommen.
Veidt schied 1939 aus der Paulskirche aus, wechselte zur Matthäuskirche ins Frankfurter Westend, der Kirchenkampf hatte ihn ermattet. Die Matthäuskirche und seine Dienstwohnung wurden 1944 ausgebombt. Er zog nach Wiesbaden-Biebrich, wirkte nun dort, blieb aber durch viele Rundbriefe mit seinen verstreuten Frankfurter Gemeindemitgliedern verbunden. 1945 wurde er pensioniert.
Das war der mutige Pfarrer Veidt, der sich in Kirchen- und Glaubensangelegenheiten nicht reinreden lassen wollte. Es gab aber auch den konservativen, streng nationalen Politiker Veidt, der dem Antisemitismus durchaus etwas abgewinnen konnte. Veidt hatte von 1914 an als Feldgeistlicher am Ersten Weltkrieg teilgenommen. Er diente bei der 21. Reserve-Division des Deutschen Heeres, war Träger des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse, kehrte 1918 nach Frankfurt zurück, nahm in der Paulskirche seinen Pfarrdienst auf und empfand für das Kriegsende und den Zusammenbruch des Kaiserreichs "brennende Scham".
Als Vertreter der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) war Veidt 1919 Abgeordneter in der Weimarer Nationalversammlung und 1924 Mitglied des Reichstags. Später, 1932/1933, vertrat er den Christlich-Sozialen Volksdienst, eine protestantisch-konservative Partei, im Preußischen Landtag in Berlin. Veidt hatte fest eingeprägte Feindbilder, vor allen den Kommunismus. Den Nationalsozialismus lehnte er indes von Anfang an ab. Veidt - ein politischer Widerstandskämpfer, in offener Opposition gegen Hitler und sein Regime? Nein. Es ging ihm um die Kirche. Es war ein innerkirchlicher Protest, ein Protest dagegen, in welche Verfassungsform die Deutschen Christen die evangelische Kirche pressen wollten. Eben in eine mit Führerprinzip und Arierparagraph. So interpretiert auch Wolfgang Thierse, der frühere Präsident des Deutschen Bundestages, Veidts Wirken in seinem Vorwort zu dessen Memoiren, Rundbriefen, Predigten und politischen Reden.
Seine Lebenserinnerungen, aus denen hier immer wieder zitiert wird, diktierte Veidt 1946. Er war zu jenem Zeitpunkt schon sehr krank. Aus vielen Seiten spricht ein Seelsorger und Gemeindepfarrer, der seine Aufgaben liebte, seine Gemeinde und eben die Altstadt, in deren Mitte sie lag. "Das eigentliche echte, alte Frankfurt fand sich hier in der Altstadt, nirgends sonst." Der kein Detail vergaß, selbst die Stricke erwähnte, an denen man sich in jenen Häusern festhalten musste, in denen es kein Geländer gab, und als Beleg dafür einen Pfarrkollegen zitierte: "Ich bin heute wieder zu Gottes Ehre zweimal die Treppe hinuntergefallen."
In seinem Rückblick auf sein Leben ging Veidt auch auf den Mord an den Juden ein, hielt sich und seiner Kirche vor, geschwiegen zu haben, wo sie hätten reden müssen. "Ich habe einmal an einem Sonntagnachmittag gesehen", gab er zu, "wie in der Niedenau aus einem jüdischen Altersheim alle Insassen, fast lauter bettlägrige Leute, herausgeholt und auf einem Lastwagen abtransportiert wurden. Ich habe nicht den Mut gehabt, hinzugehen und wenigstens einigen der Leute die Hand zu reichen und ihnen zu sagen, daß einige da waren, die mit ihnen litten und das verurteilten, was mit ihnen geschah. Wie ein geschlagener Hund bin ich nach Hause gegangen." So verhetzt sei damals "unser Volk" gewesen durch die mit teuflischen Variationen immer neu wiederholte "Melodie", die Juden seien an allem schuld.
In einem jener Rundbriefe, mit denen er Kontakt zu den Gemeindemitgliedern hielt, rief Veidt das letzte Weihnachten noch einmal ins Gedächtnis, das sie vor dem Krieg in der Paulskirche gefeiert hatten. Der Rundbrief stammt von Dezember 1945. Da "läuteten die Glocken über den Dächern der Altstadt und wir sahen noch das Goldkreuz funkeln im Abendsonnenstrahl." Quasi im selben Atemzug aber stellte er fest, dass zu dem Zeitpunkt eigentlich schon kein Frieden mehr in der Welt gewesen sei. Martin Niemöller und viele andere saßen bereits im Gefängnis oder Konzentrationslager, zählte er auf, und die Synagogen hatten schon gebrannt. Die Zukunft unseres Volkes, schrieb er weiter, werde keine Zukunft politischer oder wirtschaftlicher Macht mehr sein. Zu diesem Wege habe Gott sein "Nein" gesprochen.
Immer wenn das Große Stadtgeläut erklingt, also auch an Heiligabend, macht die Paulskirche, in der vor 175 Jahren das erste gesamtdeutsche Parlament tagte, den Auftakt. Erst ertönt ihre Bürgerglocke, dann folgen ihre fünf anderen Glocken. Pfarrer Veidt würde es freuen. Er starb am 10. August 1946 in Wiesbaden.
Werner Becher (Hrsg.): "Karl Veidt, Paulskirchenpfarrer und Reichstagsabgeordneter". Quellen und Studien zur Hessischen Kirchengeschichte, Band 14, Darmstadt und Kassel 2006
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main