Die Betriebsgeheimnisse eines ganz normalen Mannes
An seinem Hochzeitstag fühlt sich Karlmann "Charly" Renn als Sieger. Er hat seine Traumfrau geheiratet, und Boris Becker gewinnt Wimbledon. Alles scheint möglich. Kleebergs Roman durchleuchtet Familie und Freunde, das Lieben und Arbeiten seines Helden mit so unerbittlicher Präzision, dass die Banalität des Alltäglichen seine verborgene Faszinationskraft enthüllt. Ein Roman über die Zeit und was sie mit dem Menschen macht.
Juli 1985. Ein junger Mann hat am Vormittag geheiratet und sitzt am Nachmittag vor dem Fernseher. Dort erlebt er mit, wie ein deutscher Tennisspieler auf dem berühmtesten Center Court der Welt beweist, dass man das Unmögliche schaffen kann, wenn man nur will. Und sein Glaube und seine Zuversicht übertragen sich auf Karlmann "Charly" Renn. Auch der ist heute ein Sieger. Er hat seine Traumfrau geheiratet, und der Ausgang des Wimbledon-Finales ist ein gutes Omen für die Zukunft. Dies ist Charlys Tag. Oder hätte es sein können, wäre da nicht das unerwartete Geschenk seines Vaters, das seine hochfliegenden Träume korrigieren wird.
Michael Kleeberg betreibt mit literarischen Mitteln nicht weniger als eine Anthropologie des Männlichen. Charly Renn nämlich ist ein Jedermann, ein Mann, den man zu kennen glaubt. Einer, der begehrt, sucht, funktioniert, sich fügt und vom Ausbruch träumt. Aber so, wie Michael Kleeberg ihn beobachtet und durchleuchtet, hat man ihn noch nicht gesehen.
An seinem Hochzeitstag fühlt sich Karlmann "Charly" Renn als Sieger. Er hat seine Traumfrau geheiratet, und Boris Becker gewinnt Wimbledon. Alles scheint möglich. Kleebergs Roman durchleuchtet Familie und Freunde, das Lieben und Arbeiten seines Helden mit so unerbittlicher Präzision, dass die Banalität des Alltäglichen seine verborgene Faszinationskraft enthüllt. Ein Roman über die Zeit und was sie mit dem Menschen macht.
Juli 1985. Ein junger Mann hat am Vormittag geheiratet und sitzt am Nachmittag vor dem Fernseher. Dort erlebt er mit, wie ein deutscher Tennisspieler auf dem berühmtesten Center Court der Welt beweist, dass man das Unmögliche schaffen kann, wenn man nur will. Und sein Glaube und seine Zuversicht übertragen sich auf Karlmann "Charly" Renn. Auch der ist heute ein Sieger. Er hat seine Traumfrau geheiratet, und der Ausgang des Wimbledon-Finales ist ein gutes Omen für die Zukunft. Dies ist Charlys Tag. Oder hätte es sein können, wäre da nicht das unerwartete Geschenk seines Vaters, das seine hochfliegenden Träume korrigieren wird.
Michael Kleeberg betreibt mit literarischen Mitteln nicht weniger als eine Anthropologie des Männlichen. Charly Renn nämlich ist ein Jedermann, ein Mann, den man zu kennen glaubt. Einer, der begehrt, sucht, funktioniert, sich fügt und vom Ausbruch träumt. Aber so, wie Michael Kleeberg ihn beobachtet und durchleuchtet, hat man ihn noch nicht gesehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2007Am Tag, als nichts schiefgehen konnte
Michael Kleebergs grandioser Roman "Karlmann" verrät alle Betriebsgeheimnisse der Männer
Der Mann, der da in einem Garten im Berliner Norden sitzt, ist definitiv nicht Charly. Er ist im selben Jahr geboren, er hat in derselben Hamburger Wohnung gelebt, er hat dieselbe Musik gehört, in denselben Kneipen getrunken, er hat Boris Becker an einem Julitag im Jahr 1985 beim Siegen zugesehen. Aber Charly ist seine Erfindung, weil er Schriftsteller ist und weil er Leute wie Charly kennt, wie wir alle einen Charly kennen. Und Michael Kleeberg hat diesen Charly, sein Männerinnenleben, seine Freunde, seine Frauen, seinen Autohändleralltag mit einer mikroskopischen Präzision beschrieben, dass sich die Frage gar nicht erst stellt, ob man diesen Charly denn nun sympathisch finden soll oder nicht.
Charly Renn, der heute 48 Jahre alt wäre, so alt wie Michael Kleeberg, ist der Titelheld in "Karlmann", und dass er diesen Vornamen erfolgreich entsorgt hat, weil man nicht heißen möchte wie der Sohn des fränkischen Hausmeiers Karl Martell oder der kleine Bruder Karls des Großen, ist verständlich. Wir lernen Charly kennen an seinem großen Tag: Zwischen Standesamt und Hochzeitsparty liegt der Viersatzsieg von Boris Becker in Wimbledon, und es ist dieser Triumph, der sich "überträgt und fortpflanzt: Es kann nichts passieren. Es kann nichts schiefgehen." Alles scheint möglich, es ist das reine Glück, das bald schon schal wird, weil das väterliche Hochzeitsgeschenk ihn zum Geschäftsführer einer Opel-Vertretung in Norderstedt macht; weil Charly mit Mitte zwanzig in den Alltagstrott verfällt, ein bisschen unglücklich ist und träge wird; weil er sucht und nicht findet, sich neben der Ehe mit Christine eine säuberlich geregelte Affäre leistet, um schließlich von seiner Frau verlassen zu werden - und er fühlt sich wie "jemand, der im Remake des eigenen Lebens seine Rolle spielen soll und kein Talent hat zur Schauspielerei".
Autos und Eros
Kleeberg erzählt das nun nicht als einen schlichten Generationsroman. Er versenkt sich nicht einfach in die achtziger Jahre; da ist kein nostalgisches Flirren, das die wilden Jahre zwischen 25 und 30 umgibt. Kleeberg, der Proust übersetzt hat; der in seinen Romanen zwischen dem 18. Jahrhundert ("Der König von Korsika") und der Gegenwart ("Proteus der Pilger") pendelt; der ebenso gern lustvoll draufloserzählt, wie er polemisch reflektiert, nimmt sich fünf Tage im Leben seines Helden, fünf Tage in den Jahren 1985 bis 1989, und da ist keinerlei Ehrgeiz, eine Entwicklung zu demonstrieren oder ein Leben angestrengt mit den Großereignissen der Zeitgeschichte zu synchronisieren. Es sind fünf kompakte Blöcke, die nicht nachträglich doch noch verfugt werden.
Jeder dieser fünf Tage ist allerdings aufgeladen, jeder ist wie ein "Muschelstock epiphanischer Augenblicke, die ihm Schlüsselreize liefern, bei deren Nennung die an ihm festgewachsenen Cluster von Erinnerungen sich öffnen und ihre Bilder freigeben". Was nicht enthalten ist darin, ist verloren - das ist Kleebergs Erzähl- und Erinnerungsmodell. Kleeberg hat die Karten auf den Tisch gelegt, ganz am Anfang schon, er macht kein Geheimnis daraus, dass er sich mit Biochemikern und Hirnforschern, mit Ethnologen und Medizinern ausgetauscht hat, um von ihnen etwas über Erinnerung und Gedächtnis, über Liebe und Sexualität zu erfahren. Er erzählt von einem ganz banalen Alltag, in dem es keine Plot Points gibt; er schildert, wie es ist, ein Autohaus zu leiten, ohne dieser Aufgabe wirklich gewachsen zu sein, wie es ist, die Schulfreundin für schärferen Sex einmal die Woche zu besuchen, sich derart in seinem Leben einzurichten, dass die äußeren Risse im Beziehungsgefüge verborgen bleiben, bis sie sich nach einem harmlosen Abendessen mit Freunden beim Portugiesen zur unüberbrückbaren Kluft weiten.
Und er hat dafür genau die richtige Perspektive gefunden, die es ihm auch erlaubt, zwischendurch einen essayistischen Blick auf die Welt zu richten. Er habe lange um diese Perspektive gerungen, sagt er, und er zieht es vor, statt vom Erzähler vom "Erzählplasma" zu reden - was nichts weiter bedeutet, als dass der Roman teilweise mitten im Satz die Perspektive wechselt: Er spricht seinen Helden an, er duzt ihn wie einen alten Freund - "Du weißt es nicht", steht schon auf der ersten Seite -, er lässt ihn in der dritten Person agieren, in der Außenwelt handeln und in seinen Gedanken umherirren, er gönnt ihm die erste Person Singular, wenngleich etwas seltener. So kann dieser multiple Erzähler mehr wissen und in größeren Bezugssystemen denken als das Charly-Ich, ohne es der Lächerlichkeit preiszugeben, ohne Charly zappeln zu lassen wie eine Handpuppe an den Fäden des Schicksals.
"Karlmann" ist allerdings auch ein kühler Roman, weil er es eben nicht bei Charlys Herzensergießungen belässt. Er kann ein Hochzeitspanorama entwerfen und ein Betriebsjubiläum inszenieren, wo die Stimmen durcheinanderschwirren wie in einem Film von Robert Altman, bei dem es halt auch hätte passieren können, dass Bräutigam und Brautjungfer sich vor dem Fest noch einen Quickie gönnen oder dass die Jubiläumsfeier unerbittlich auf den Eklat zusteuert. Kleeberg ist ein Ethnologe des Inlands, er schildert bis in die feinsten Verästelungen Sitten, Bräuche, soziale Codes und Kommunikationsweisen, und zwischendurch erkennt man beim Firmenfest auch mal eine kleine Dohnanyi- oder Walter-Jens-Karikatur.
Und weil Michael Kleeberg schreiben kann, weil er den Wechsel der Tonlagen und Jargons, die essayistische Pointierung wie das Kundengespräch im Autohaus beherrscht, ist da doch auch eine Nähe zu diesem Helden, seinen Selbsttäuschungen, seinen Hoffnungen; eine Empathie, die einen Charlys Wüten, seine Phantasien und Wünsche verstehen lässt. Und dann, nachdem Charly sich das Trennungsgespräch mit Christine in den zartesten Farben und vulgärsten Varianten ausgemalt hat, heißt es über den Verlauf dieses Gesprächs wieder ganz kühl: "Es läuft dann alles fast genauso ab wie vorausgesehen, vorausgelebt."
Golf und Kunst
"Karlmann" ist zugleich auch ein Liebesroman, der sich dieses Genre noch zutraut, obwohl er das, was man Liebe nennt, durch die Zentrifugen der Wissenschaft gejagt hat - das hat gar nichts geschadet, weil Kleeberg genau weiß, dass sich lebensweltliche Überzeugungen, Vorurteile und Verstocktheiten des Ichs nicht einfach im Lichte wissenschaftlicher Einsichten auflösen. Er muss deshalb auch keine Rücksichten nehmen, er spricht ganz selbstverständlich von den Dingen, die Männer sonst lieber nicht aussprechen. Und natürlich hat Kleeberg deswegen auch schon das irritierte Summen aus dem Literaturbetrieb gehört, weil prüdere Gemüter Anstoß nehmen an der Drastik, an der Detailliertheit, mit der sogenannte Männerphantasien und sexuelle Praktiken beschrieben werden.
Er habe ja bei manchen Passagen selbst gezögert, sagt Kleeberg, und seine Frau habe ihn gewarnt: "Die Männer werden dir nie verzeihen, dass du alle ihre sorgsam gehüteten Betriebsgeheimnisse ausgeplaudert hast." Aber weil Michael Kleeberg eine angenehme Art hat, nicht bescheiden zu sein, sagt er, einem Harold Brodkey habe man in "Unschuld" die anatomische Detailfreudigkeit auch nachgesehen. Und er hat ja recht, denn wie er von Charly und Meret im Schlafzimmer erzählt, das hat dieselbe Beschreibungsdichte wie die Schilderung mikrosoziologischer Prozesse im Autohaus oder wie die Kneipengespräche unter Freunden im "Peerstall" auf St. Pauli.
"Karlmann" ist auf Grund all dessen ein einzigartiges Buch, ein grandioser Roman - auch weil er ganz nebenbei zeigt, dass die Literatur sich die Erkenntnisse der Bio- und Neurowissenschaften zu eigen machen kann, ohne dass ihr unverwechselbarer Blick auf die Welt dabei erblindete. Und bevor man über einen entfernten literarischen Verwandten dieses Charly nachdenkt, sagt Kleeberg selbst, dass er, bevor er zu schreiben begann, zum ersten Mal John Updikes Rabbit-Tetralogie gelesen habe - sein Charly hat tatsächlich das Zeug zu einem "German Rabbit".
"Wenn es weitergeht", sagt Kleeberg, und was nach diesem Wenn kommt, schwebt irgendwo zwischen Temporal- und Konditionalsatz, wenn er also diesen normalen Mann über die Jahrzehnte begleiten werde, dann werde es auch weiterhin keine Schicksalsschläge geben, die der Geschichte auf die Sprünge helfen, und die Schlagzeilen, die Zeitgeschichte werden ein fernes Rauschen in Charlys Leben bleiben. Für Kleeberg ist Charlys alltägliches Leben "die Geschichte eines intelligenten Mannes, der die Tröstungen der Kunst nicht hat", der dann mit vierzig eben Golf spiele oder sonst etwas mit seiner Wohlstandsfreizeit anfange. Und solche Männer müssen, wenn ihnen dann doch mal ein Buch in die Hand fällt, unbedingt Kleeberg lesen, weil wir ja alle ein bisschen Charly sind und es deshalb guttut, wenn einer die Fähigkeit besitzt, dem Charly in uns eine literarische Stimme zu verleihen.
PETER KÖRTE
Michael Kleeberg: "Karlmann". Roman. Deutsche Verlagsanstalt, München 2007. 472 Seiten, 22,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Kleebergs grandioser Roman "Karlmann" verrät alle Betriebsgeheimnisse der Männer
Der Mann, der da in einem Garten im Berliner Norden sitzt, ist definitiv nicht Charly. Er ist im selben Jahr geboren, er hat in derselben Hamburger Wohnung gelebt, er hat dieselbe Musik gehört, in denselben Kneipen getrunken, er hat Boris Becker an einem Julitag im Jahr 1985 beim Siegen zugesehen. Aber Charly ist seine Erfindung, weil er Schriftsteller ist und weil er Leute wie Charly kennt, wie wir alle einen Charly kennen. Und Michael Kleeberg hat diesen Charly, sein Männerinnenleben, seine Freunde, seine Frauen, seinen Autohändleralltag mit einer mikroskopischen Präzision beschrieben, dass sich die Frage gar nicht erst stellt, ob man diesen Charly denn nun sympathisch finden soll oder nicht.
Charly Renn, der heute 48 Jahre alt wäre, so alt wie Michael Kleeberg, ist der Titelheld in "Karlmann", und dass er diesen Vornamen erfolgreich entsorgt hat, weil man nicht heißen möchte wie der Sohn des fränkischen Hausmeiers Karl Martell oder der kleine Bruder Karls des Großen, ist verständlich. Wir lernen Charly kennen an seinem großen Tag: Zwischen Standesamt und Hochzeitsparty liegt der Viersatzsieg von Boris Becker in Wimbledon, und es ist dieser Triumph, der sich "überträgt und fortpflanzt: Es kann nichts passieren. Es kann nichts schiefgehen." Alles scheint möglich, es ist das reine Glück, das bald schon schal wird, weil das väterliche Hochzeitsgeschenk ihn zum Geschäftsführer einer Opel-Vertretung in Norderstedt macht; weil Charly mit Mitte zwanzig in den Alltagstrott verfällt, ein bisschen unglücklich ist und träge wird; weil er sucht und nicht findet, sich neben der Ehe mit Christine eine säuberlich geregelte Affäre leistet, um schließlich von seiner Frau verlassen zu werden - und er fühlt sich wie "jemand, der im Remake des eigenen Lebens seine Rolle spielen soll und kein Talent hat zur Schauspielerei".
Autos und Eros
Kleeberg erzählt das nun nicht als einen schlichten Generationsroman. Er versenkt sich nicht einfach in die achtziger Jahre; da ist kein nostalgisches Flirren, das die wilden Jahre zwischen 25 und 30 umgibt. Kleeberg, der Proust übersetzt hat; der in seinen Romanen zwischen dem 18. Jahrhundert ("Der König von Korsika") und der Gegenwart ("Proteus der Pilger") pendelt; der ebenso gern lustvoll draufloserzählt, wie er polemisch reflektiert, nimmt sich fünf Tage im Leben seines Helden, fünf Tage in den Jahren 1985 bis 1989, und da ist keinerlei Ehrgeiz, eine Entwicklung zu demonstrieren oder ein Leben angestrengt mit den Großereignissen der Zeitgeschichte zu synchronisieren. Es sind fünf kompakte Blöcke, die nicht nachträglich doch noch verfugt werden.
Jeder dieser fünf Tage ist allerdings aufgeladen, jeder ist wie ein "Muschelstock epiphanischer Augenblicke, die ihm Schlüsselreize liefern, bei deren Nennung die an ihm festgewachsenen Cluster von Erinnerungen sich öffnen und ihre Bilder freigeben". Was nicht enthalten ist darin, ist verloren - das ist Kleebergs Erzähl- und Erinnerungsmodell. Kleeberg hat die Karten auf den Tisch gelegt, ganz am Anfang schon, er macht kein Geheimnis daraus, dass er sich mit Biochemikern und Hirnforschern, mit Ethnologen und Medizinern ausgetauscht hat, um von ihnen etwas über Erinnerung und Gedächtnis, über Liebe und Sexualität zu erfahren. Er erzählt von einem ganz banalen Alltag, in dem es keine Plot Points gibt; er schildert, wie es ist, ein Autohaus zu leiten, ohne dieser Aufgabe wirklich gewachsen zu sein, wie es ist, die Schulfreundin für schärferen Sex einmal die Woche zu besuchen, sich derart in seinem Leben einzurichten, dass die äußeren Risse im Beziehungsgefüge verborgen bleiben, bis sie sich nach einem harmlosen Abendessen mit Freunden beim Portugiesen zur unüberbrückbaren Kluft weiten.
Und er hat dafür genau die richtige Perspektive gefunden, die es ihm auch erlaubt, zwischendurch einen essayistischen Blick auf die Welt zu richten. Er habe lange um diese Perspektive gerungen, sagt er, und er zieht es vor, statt vom Erzähler vom "Erzählplasma" zu reden - was nichts weiter bedeutet, als dass der Roman teilweise mitten im Satz die Perspektive wechselt: Er spricht seinen Helden an, er duzt ihn wie einen alten Freund - "Du weißt es nicht", steht schon auf der ersten Seite -, er lässt ihn in der dritten Person agieren, in der Außenwelt handeln und in seinen Gedanken umherirren, er gönnt ihm die erste Person Singular, wenngleich etwas seltener. So kann dieser multiple Erzähler mehr wissen und in größeren Bezugssystemen denken als das Charly-Ich, ohne es der Lächerlichkeit preiszugeben, ohne Charly zappeln zu lassen wie eine Handpuppe an den Fäden des Schicksals.
"Karlmann" ist allerdings auch ein kühler Roman, weil er es eben nicht bei Charlys Herzensergießungen belässt. Er kann ein Hochzeitspanorama entwerfen und ein Betriebsjubiläum inszenieren, wo die Stimmen durcheinanderschwirren wie in einem Film von Robert Altman, bei dem es halt auch hätte passieren können, dass Bräutigam und Brautjungfer sich vor dem Fest noch einen Quickie gönnen oder dass die Jubiläumsfeier unerbittlich auf den Eklat zusteuert. Kleeberg ist ein Ethnologe des Inlands, er schildert bis in die feinsten Verästelungen Sitten, Bräuche, soziale Codes und Kommunikationsweisen, und zwischendurch erkennt man beim Firmenfest auch mal eine kleine Dohnanyi- oder Walter-Jens-Karikatur.
Und weil Michael Kleeberg schreiben kann, weil er den Wechsel der Tonlagen und Jargons, die essayistische Pointierung wie das Kundengespräch im Autohaus beherrscht, ist da doch auch eine Nähe zu diesem Helden, seinen Selbsttäuschungen, seinen Hoffnungen; eine Empathie, die einen Charlys Wüten, seine Phantasien und Wünsche verstehen lässt. Und dann, nachdem Charly sich das Trennungsgespräch mit Christine in den zartesten Farben und vulgärsten Varianten ausgemalt hat, heißt es über den Verlauf dieses Gesprächs wieder ganz kühl: "Es läuft dann alles fast genauso ab wie vorausgesehen, vorausgelebt."
Golf und Kunst
"Karlmann" ist zugleich auch ein Liebesroman, der sich dieses Genre noch zutraut, obwohl er das, was man Liebe nennt, durch die Zentrifugen der Wissenschaft gejagt hat - das hat gar nichts geschadet, weil Kleeberg genau weiß, dass sich lebensweltliche Überzeugungen, Vorurteile und Verstocktheiten des Ichs nicht einfach im Lichte wissenschaftlicher Einsichten auflösen. Er muss deshalb auch keine Rücksichten nehmen, er spricht ganz selbstverständlich von den Dingen, die Männer sonst lieber nicht aussprechen. Und natürlich hat Kleeberg deswegen auch schon das irritierte Summen aus dem Literaturbetrieb gehört, weil prüdere Gemüter Anstoß nehmen an der Drastik, an der Detailliertheit, mit der sogenannte Männerphantasien und sexuelle Praktiken beschrieben werden.
Er habe ja bei manchen Passagen selbst gezögert, sagt Kleeberg, und seine Frau habe ihn gewarnt: "Die Männer werden dir nie verzeihen, dass du alle ihre sorgsam gehüteten Betriebsgeheimnisse ausgeplaudert hast." Aber weil Michael Kleeberg eine angenehme Art hat, nicht bescheiden zu sein, sagt er, einem Harold Brodkey habe man in "Unschuld" die anatomische Detailfreudigkeit auch nachgesehen. Und er hat ja recht, denn wie er von Charly und Meret im Schlafzimmer erzählt, das hat dieselbe Beschreibungsdichte wie die Schilderung mikrosoziologischer Prozesse im Autohaus oder wie die Kneipengespräche unter Freunden im "Peerstall" auf St. Pauli.
"Karlmann" ist auf Grund all dessen ein einzigartiges Buch, ein grandioser Roman - auch weil er ganz nebenbei zeigt, dass die Literatur sich die Erkenntnisse der Bio- und Neurowissenschaften zu eigen machen kann, ohne dass ihr unverwechselbarer Blick auf die Welt dabei erblindete. Und bevor man über einen entfernten literarischen Verwandten dieses Charly nachdenkt, sagt Kleeberg selbst, dass er, bevor er zu schreiben begann, zum ersten Mal John Updikes Rabbit-Tetralogie gelesen habe - sein Charly hat tatsächlich das Zeug zu einem "German Rabbit".
"Wenn es weitergeht", sagt Kleeberg, und was nach diesem Wenn kommt, schwebt irgendwo zwischen Temporal- und Konditionalsatz, wenn er also diesen normalen Mann über die Jahrzehnte begleiten werde, dann werde es auch weiterhin keine Schicksalsschläge geben, die der Geschichte auf die Sprünge helfen, und die Schlagzeilen, die Zeitgeschichte werden ein fernes Rauschen in Charlys Leben bleiben. Für Kleeberg ist Charlys alltägliches Leben "die Geschichte eines intelligenten Mannes, der die Tröstungen der Kunst nicht hat", der dann mit vierzig eben Golf spiele oder sonst etwas mit seiner Wohlstandsfreizeit anfange. Und solche Männer müssen, wenn ihnen dann doch mal ein Buch in die Hand fällt, unbedingt Kleeberg lesen, weil wir ja alle ein bisschen Charly sind und es deshalb guttut, wenn einer die Fähigkeit besitzt, dem Charly in uns eine literarische Stimme zu verleihen.
PETER KÖRTE
Michael Kleeberg: "Karlmann". Roman. Deutsche Verlagsanstalt, München 2007. 472 Seiten, 22,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.08.2007Eine Brille aus Worten
Michael Kleebergs ambitionierter Roman „Karlmann”
Ja, er kann’s, dieser Michael Kleeberg. Es gibt in diesem Roman Szenen, da steckt die ganze Intelligenz in der Beschreibung, als hätte sie der Autor gewissermaßen im kleinen Finger. Spannung und Esprit wirken bei aller Kunstfertigkeit unaufdringlich, obwohl völlig klar ist, dass da einer genau beobachtet und viel nachgedacht hat. Dann aber will er unbedingt hoch hinaus, will zeigen, dass er es war, der das alles erfunden hat, will mithalten mit den großen Vorbildern, mit Musil, Proust, Kafka, Thomas Mann, und vorführen, dass man das heute alles auch noch kann, vielleicht sogar besser. Denn die Wissenschaft hat ja Fortschritte gemacht seither, in der Psychologie, der Biologie, der Neurologie, in den scheinbar immer faktenreicher werdenden Wissensgebieten menschlicher Determiniertheit.
Natürlich kann man keinem Autor zum Vorwurf machen, dass er über den eigenen Tellerrand hinaus blickt. Im Gegenteil. Der Einwand gilt nur im speziellen Fall: Weil dieser Roman in seinen Beschreibungen weit intelligenter ist als in den reflektierenden Passagen. Geschwätzigkeit hält man allzu gern für eine Domäne des Weiblichen. Aber es gibt sie auch in männlicher Form: als intellektuelle Hochstapelei. Dass dieser Roman das sogar darzustellen vermag, obwohl sein Autor nicht vor ihr gefeit ist, macht seine Größe aus. Wunderbar die Szene, als sich die Hamburger High-Society zur Jubiläumsfeier des alteingesessenen Juweliergeschäfts Renn trifft – die Hauptfigur Karlmann Renn, genannt Charly, ist der Enkel des Gründers. Kaum zur Tür des noblen Altbaus herein, werden die Ehepaare wie von Geisterhand getrennt. Die Männer gockeln voreinander herum, demonstrieren Macht und Ansehen, wetteifern im Politisieren und im Wissen um geheime Hintergründe und bilden so einen Kordon der Eitelkeit, der die Frauen abweist, ohne dass sie auch nur ein einziges Wort an sie richten müssten. „Die Herren der Kontingenz” nennt Erika, Charlys Schwester und klügste Figur des Romans, jene Männer, die es mit diesen Eigenschaften ganz nach oben bringen und sich um die Banalitäten des Lebens nicht mehr zu kümmern brauchen.
Charly ist ein Durchschnittsmensch, der mit dem 1959 geborenen Autor zwar das Alter teilt, nicht aber dessen intellektuelle Statur. Zwölf Semester VWL hat er studiert, dazu Psychologie. Es drängt ihn nicht nach Höherem, aber er will schon was machen aus seinem Leben. Wir werden zu Zeugen, wie das schief geht. Fünf beispielhafte Episoden dieses ganz alltäglichen Scheiterns nimmt der Roman genauer unter die Lupe, jeweils einen Tag der Jahre 1985-89. Am Ende entlässt er seinen Helden in einen offenen Schluss. Wahrscheinlich handelt es sich um ein Fortsetzungsprojekt.
Was wir da sehen, ist ebenso banal wie erschreckend. Nur die Offenheit des Schlusses, die hoffen lässt, dieser Charly werde irgendwann einmal durchschauen, was er treibt, tröstet über die Erkenntnis hinweg, die der Roman uns nahelegt, ohne sie auszusprechen: Es gibt keine glücklichen Paare, weil Liebe und Sexualität zwei verschiedene Dinge sind, die gar nicht oder nur höchst selten zusammenpassen. Und auch zwischen dem, wofür sich Männer und Frauen interessieren, scheint es nur verdammt wenige Schnittmengen zu geben.
Dabei fängt alles so gut an: nämlich mit der Hochzeit von Charly und seiner Traumfrau Christine, ausgerechnet am 7. Juli 1985, also an dem Tag, an dem Boris Becker als erster Deutscher in Wimbledon siegt, was wir durchaus symbolträchtig verstehen sollen. Zwischen standesamtlicher Trauung und abendlicher Feier teilen sich die Geschlechter auf. Die Frauen sind mit ihrer Garderobe beschäftigt, die Männer treffen sich vor dem Fernseher. Charly genießt das „gemütliche, etwas suhlige Gefühl männlicher Kameraderie”, und als der Sieg perfekt ist, scheint die geballte Zuversicht des Siegers, zusammen mit der „Kraftstrahlung” all der Anfeuernden auf ihn übergegangen zu sein: „Charly spürt sich leuchten. Spürt den Magnetismus, der von ihm abstrahlt. Er weiß, heute abend wird er unwiderstehlich sein. (Schade, dass ich’s nicht mehr ausnutzen kann.) Ein Gefühl der Allmacht ergreift von ihm Besitz. Ganz ruhig jetzt.”
Ein Autor, der seinen Helden derart aufgebläht bei seiner eigenen Hochzeitsfeier einlaufen lässt, der hat noch etwas vor mit ihm. Auf die Idee, er könnte die frisch Angetraute mit seinem Magnetismus beglücken, lässt er ihn zwar kommen, aber die ist „zu perfekt verpackt, gestylt” in ihrem Hochzeitskleid, dass es „kein Rankommen” gibt an sie. Dafür entdeckt er, dass Ines, die Trauzeugin, vor wenigen Stunden im Kreis der Kumpels noch als „Wanderpokal” apostrophiert, kein Höschen unterm Kleid trägt. Und was soll das anderes sein als eine Aufforderung? Kaum ist die Braut aus der Tür, fallen die beiden übereinander her. Nun gut, nicht gerade die feine Art, aber kann passieren, denkt man sich. Bis man merkt, dass die Sache System hat.
Charly stilisiert seine Christine zur heilig-blonden Lichtgestalt, die zu lieben er immer wieder beteuert. Und trotzdem werden wir das Paar niemals ernsthaft im Gespräch sehen und beim Sex schon gar nicht. Beide Partner sind eingeschlossen in eine „egozentrische und egoistische Phantasie” und interessieren sich nicht dafür, ihre inneren Wunschbilder für einander zugänglich zu machen. Als Charlys selbstgefälliger und dominanter Vater am Ende seiner Hochzeitsrede bekannt gibt, dass er dem Sohn ohne dessen Wissen ein Autohaus gekauft hat, ist der Weg schon vorgezeichnet, der in den Untergang führt: „Sag mir, dass du dich nicht wegschenken wirst an eine Autowerkstatt!”, kann Christine noch zischen, dann ist sie für den Rest des Romans auserzählt. Denn der Gatte erkennt den Ernst der Lage nicht und erfreut sich stattdessen an der ungewohnten Poesie ihrer Wortwahl: „dich wegschenken” – das streift Christine eine „neue, unbekannte Goldhaut von Poesie” über und enthält „eine ganze Welt feinfühliger, tiefer, hoher Wertschätzung für ihn.” Bis zum Schluss des Romans lässt sich nicht entscheiden, ob der Autor seine weibliche Hauptfigur absichtsvoll in ein Kondom der Unberührbarkeit hüllt, oder ob es ihm einfach nur passiert. Aus Angst vor dem Weiblichen? Aus allzu großer Metaphernseligkeit?
Strizzihafte Begeisterung
So endet das erste der fünf Kapitel schon weniger hoffnungsvoll, als es begonnen hat. Die nächste Episode spielt im Oktober 86 und schildert einen ganz gewöhnlichen Arbeitstag Charlys. Vom morgendlichen Ärger über den klingelnden Wecker, der sich durch den Anblick der selig schlummernden Ehefrau zur Verbitterung steigert – „weil sie dir nicht wie oder als deine Mutter hilft, in den bedrohlichen Tag zu finden” –, über die Fahrt zum Autohaus, bis hin zum Ärger mit säumigen Kunden und betrügenden Angestellten. Auch hier sind die Szenen erheblich besser als die weit hergeholten Erklärungen. Wie treffend die Beschreibung der „strizzihaften Begeisterung”, mit der ein bestimmter Männertypus den Ellbogen aus dem Fenster hängen lässt, dieser „Guck-ich-kann-freihändig-fahren-Stolz”, der so ganz anders ist als die „Straßenkapitäns-Souveränität” der Mercedes-Fahrer. Wie ungenau dagegen der „Begriff der Hamletisierung” als „Brille aus Worten”, die den Gebildeten die Umgebung schärfer sehen lassen soll als den einfachen Mann in seiner „Kurzsichtigkeit”.
Im dritten Kapitel lässt es der Autor so richtig krachen. Zuerst bekommt Charly von seiner alten Freundin Meret einen duftenden Apfelkuchen nebst vertrautem Gespräch serviert, offenbar ein Ritual, um hinterher im schummrigen Schlafzimmer mit ziemlich deftigem Sado-Maso-Sex verwöhnt zu werden. Als er ungeduscht nach Hause kommt, erwartet ihn Christine in eindeutig erotischer Stimmung. „Hier jetzt hättest du und könntest du ganz legal und in Liebe und ohne schlechten Beigeschmack”, muss er sich sagen, bevor er sie zum Chinesen lockt, wo der Abend in bedrückter Stimmung ausklingt.
Ist es da ein Wunder, dass ihn Christine am Ende des Romans verlässt? „Was für eine Verschwendung”, sagt der alte Renn, als er erfährt, dass sich seine schöne Schwiegertochter in eine Frau verliebt hat, ihre Chefin, bei der sie als Fotografin assistiert. Traurig masturbiert der Held noch einmal in den ausgelatschten Turnschuh der Getürmten.
Natürlich ist man gespannt, ob und wie der Autor die Lebensgeschichte seines Charlys fortsetzt. Und vor allem, ob es ihm gelingen wird, Liebe und Sexualität zu verbinden, worauf seine Ambition zu zielen scheint. Vielleicht noch mehr als ein Gesellschaftsporträt der späten 80er Jahre ist „Karlmann” eine literarische Antwort auf den gegenwärtigen Ernüchterungsdiskurs in Sachen Liebe. Dass sie nicht wirklich zu überzeugen vermag, weil sie am Ideal zwar festhält, an der Realisierung aber scheitert, könnte daran liegen, dass der Autor von den häufig zitierten Forschungsergebnissen der Neurobiologie allzu sehr fasziniert ist. Sie sollen uns bekanntlich beweisen, dass Liebe und erotische Leidenschaft aus Hormongründen nicht zusammengehen. Dann muss man eben andere Gründe finden. MEIKE FESSMANN
MICHAEL KLEEBERG: Karlmann. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007. 471 Seiten, 22,95 Euro.
Der Tag des deutschen Sieges: Boris Becker 1985 in Wimbledon Foto: dpa
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Michael Kleebergs ambitionierter Roman „Karlmann”
Ja, er kann’s, dieser Michael Kleeberg. Es gibt in diesem Roman Szenen, da steckt die ganze Intelligenz in der Beschreibung, als hätte sie der Autor gewissermaßen im kleinen Finger. Spannung und Esprit wirken bei aller Kunstfertigkeit unaufdringlich, obwohl völlig klar ist, dass da einer genau beobachtet und viel nachgedacht hat. Dann aber will er unbedingt hoch hinaus, will zeigen, dass er es war, der das alles erfunden hat, will mithalten mit den großen Vorbildern, mit Musil, Proust, Kafka, Thomas Mann, und vorführen, dass man das heute alles auch noch kann, vielleicht sogar besser. Denn die Wissenschaft hat ja Fortschritte gemacht seither, in der Psychologie, der Biologie, der Neurologie, in den scheinbar immer faktenreicher werdenden Wissensgebieten menschlicher Determiniertheit.
Natürlich kann man keinem Autor zum Vorwurf machen, dass er über den eigenen Tellerrand hinaus blickt. Im Gegenteil. Der Einwand gilt nur im speziellen Fall: Weil dieser Roman in seinen Beschreibungen weit intelligenter ist als in den reflektierenden Passagen. Geschwätzigkeit hält man allzu gern für eine Domäne des Weiblichen. Aber es gibt sie auch in männlicher Form: als intellektuelle Hochstapelei. Dass dieser Roman das sogar darzustellen vermag, obwohl sein Autor nicht vor ihr gefeit ist, macht seine Größe aus. Wunderbar die Szene, als sich die Hamburger High-Society zur Jubiläumsfeier des alteingesessenen Juweliergeschäfts Renn trifft – die Hauptfigur Karlmann Renn, genannt Charly, ist der Enkel des Gründers. Kaum zur Tür des noblen Altbaus herein, werden die Ehepaare wie von Geisterhand getrennt. Die Männer gockeln voreinander herum, demonstrieren Macht und Ansehen, wetteifern im Politisieren und im Wissen um geheime Hintergründe und bilden so einen Kordon der Eitelkeit, der die Frauen abweist, ohne dass sie auch nur ein einziges Wort an sie richten müssten. „Die Herren der Kontingenz” nennt Erika, Charlys Schwester und klügste Figur des Romans, jene Männer, die es mit diesen Eigenschaften ganz nach oben bringen und sich um die Banalitäten des Lebens nicht mehr zu kümmern brauchen.
Charly ist ein Durchschnittsmensch, der mit dem 1959 geborenen Autor zwar das Alter teilt, nicht aber dessen intellektuelle Statur. Zwölf Semester VWL hat er studiert, dazu Psychologie. Es drängt ihn nicht nach Höherem, aber er will schon was machen aus seinem Leben. Wir werden zu Zeugen, wie das schief geht. Fünf beispielhafte Episoden dieses ganz alltäglichen Scheiterns nimmt der Roman genauer unter die Lupe, jeweils einen Tag der Jahre 1985-89. Am Ende entlässt er seinen Helden in einen offenen Schluss. Wahrscheinlich handelt es sich um ein Fortsetzungsprojekt.
Was wir da sehen, ist ebenso banal wie erschreckend. Nur die Offenheit des Schlusses, die hoffen lässt, dieser Charly werde irgendwann einmal durchschauen, was er treibt, tröstet über die Erkenntnis hinweg, die der Roman uns nahelegt, ohne sie auszusprechen: Es gibt keine glücklichen Paare, weil Liebe und Sexualität zwei verschiedene Dinge sind, die gar nicht oder nur höchst selten zusammenpassen. Und auch zwischen dem, wofür sich Männer und Frauen interessieren, scheint es nur verdammt wenige Schnittmengen zu geben.
Dabei fängt alles so gut an: nämlich mit der Hochzeit von Charly und seiner Traumfrau Christine, ausgerechnet am 7. Juli 1985, also an dem Tag, an dem Boris Becker als erster Deutscher in Wimbledon siegt, was wir durchaus symbolträchtig verstehen sollen. Zwischen standesamtlicher Trauung und abendlicher Feier teilen sich die Geschlechter auf. Die Frauen sind mit ihrer Garderobe beschäftigt, die Männer treffen sich vor dem Fernseher. Charly genießt das „gemütliche, etwas suhlige Gefühl männlicher Kameraderie”, und als der Sieg perfekt ist, scheint die geballte Zuversicht des Siegers, zusammen mit der „Kraftstrahlung” all der Anfeuernden auf ihn übergegangen zu sein: „Charly spürt sich leuchten. Spürt den Magnetismus, der von ihm abstrahlt. Er weiß, heute abend wird er unwiderstehlich sein. (Schade, dass ich’s nicht mehr ausnutzen kann.) Ein Gefühl der Allmacht ergreift von ihm Besitz. Ganz ruhig jetzt.”
Ein Autor, der seinen Helden derart aufgebläht bei seiner eigenen Hochzeitsfeier einlaufen lässt, der hat noch etwas vor mit ihm. Auf die Idee, er könnte die frisch Angetraute mit seinem Magnetismus beglücken, lässt er ihn zwar kommen, aber die ist „zu perfekt verpackt, gestylt” in ihrem Hochzeitskleid, dass es „kein Rankommen” gibt an sie. Dafür entdeckt er, dass Ines, die Trauzeugin, vor wenigen Stunden im Kreis der Kumpels noch als „Wanderpokal” apostrophiert, kein Höschen unterm Kleid trägt. Und was soll das anderes sein als eine Aufforderung? Kaum ist die Braut aus der Tür, fallen die beiden übereinander her. Nun gut, nicht gerade die feine Art, aber kann passieren, denkt man sich. Bis man merkt, dass die Sache System hat.
Charly stilisiert seine Christine zur heilig-blonden Lichtgestalt, die zu lieben er immer wieder beteuert. Und trotzdem werden wir das Paar niemals ernsthaft im Gespräch sehen und beim Sex schon gar nicht. Beide Partner sind eingeschlossen in eine „egozentrische und egoistische Phantasie” und interessieren sich nicht dafür, ihre inneren Wunschbilder für einander zugänglich zu machen. Als Charlys selbstgefälliger und dominanter Vater am Ende seiner Hochzeitsrede bekannt gibt, dass er dem Sohn ohne dessen Wissen ein Autohaus gekauft hat, ist der Weg schon vorgezeichnet, der in den Untergang führt: „Sag mir, dass du dich nicht wegschenken wirst an eine Autowerkstatt!”, kann Christine noch zischen, dann ist sie für den Rest des Romans auserzählt. Denn der Gatte erkennt den Ernst der Lage nicht und erfreut sich stattdessen an der ungewohnten Poesie ihrer Wortwahl: „dich wegschenken” – das streift Christine eine „neue, unbekannte Goldhaut von Poesie” über und enthält „eine ganze Welt feinfühliger, tiefer, hoher Wertschätzung für ihn.” Bis zum Schluss des Romans lässt sich nicht entscheiden, ob der Autor seine weibliche Hauptfigur absichtsvoll in ein Kondom der Unberührbarkeit hüllt, oder ob es ihm einfach nur passiert. Aus Angst vor dem Weiblichen? Aus allzu großer Metaphernseligkeit?
Strizzihafte Begeisterung
So endet das erste der fünf Kapitel schon weniger hoffnungsvoll, als es begonnen hat. Die nächste Episode spielt im Oktober 86 und schildert einen ganz gewöhnlichen Arbeitstag Charlys. Vom morgendlichen Ärger über den klingelnden Wecker, der sich durch den Anblick der selig schlummernden Ehefrau zur Verbitterung steigert – „weil sie dir nicht wie oder als deine Mutter hilft, in den bedrohlichen Tag zu finden” –, über die Fahrt zum Autohaus, bis hin zum Ärger mit säumigen Kunden und betrügenden Angestellten. Auch hier sind die Szenen erheblich besser als die weit hergeholten Erklärungen. Wie treffend die Beschreibung der „strizzihaften Begeisterung”, mit der ein bestimmter Männertypus den Ellbogen aus dem Fenster hängen lässt, dieser „Guck-ich-kann-freihändig-fahren-Stolz”, der so ganz anders ist als die „Straßenkapitäns-Souveränität” der Mercedes-Fahrer. Wie ungenau dagegen der „Begriff der Hamletisierung” als „Brille aus Worten”, die den Gebildeten die Umgebung schärfer sehen lassen soll als den einfachen Mann in seiner „Kurzsichtigkeit”.
Im dritten Kapitel lässt es der Autor so richtig krachen. Zuerst bekommt Charly von seiner alten Freundin Meret einen duftenden Apfelkuchen nebst vertrautem Gespräch serviert, offenbar ein Ritual, um hinterher im schummrigen Schlafzimmer mit ziemlich deftigem Sado-Maso-Sex verwöhnt zu werden. Als er ungeduscht nach Hause kommt, erwartet ihn Christine in eindeutig erotischer Stimmung. „Hier jetzt hättest du und könntest du ganz legal und in Liebe und ohne schlechten Beigeschmack”, muss er sich sagen, bevor er sie zum Chinesen lockt, wo der Abend in bedrückter Stimmung ausklingt.
Ist es da ein Wunder, dass ihn Christine am Ende des Romans verlässt? „Was für eine Verschwendung”, sagt der alte Renn, als er erfährt, dass sich seine schöne Schwiegertochter in eine Frau verliebt hat, ihre Chefin, bei der sie als Fotografin assistiert. Traurig masturbiert der Held noch einmal in den ausgelatschten Turnschuh der Getürmten.
Natürlich ist man gespannt, ob und wie der Autor die Lebensgeschichte seines Charlys fortsetzt. Und vor allem, ob es ihm gelingen wird, Liebe und Sexualität zu verbinden, worauf seine Ambition zu zielen scheint. Vielleicht noch mehr als ein Gesellschaftsporträt der späten 80er Jahre ist „Karlmann” eine literarische Antwort auf den gegenwärtigen Ernüchterungsdiskurs in Sachen Liebe. Dass sie nicht wirklich zu überzeugen vermag, weil sie am Ideal zwar festhält, an der Realisierung aber scheitert, könnte daran liegen, dass der Autor von den häufig zitierten Forschungsergebnissen der Neurobiologie allzu sehr fasziniert ist. Sie sollen uns bekanntlich beweisen, dass Liebe und erotische Leidenschaft aus Hormongründen nicht zusammengehen. Dann muss man eben andere Gründe finden. MEIKE FESSMANN
MICHAEL KLEEBERG: Karlmann. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007. 471 Seiten, 22,95 Euro.
Der Tag des deutschen Sieges: Boris Becker 1985 in Wimbledon Foto: dpa
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Meike Fessmann ist angesichts Michael Kleebergs "Karlmann" hin und her gerissen zwischen rückhaltloser Bewunderung und Enttäuschung. Der Autor beschreibt darin fünf exemplarische Tage zwischen 1985 und 1989 im Leben des Autohausbesitzers Charly, die sein Scheitern am Leben und an der Liebe demonstrieren, erklärt die Rezensentin. Während sie von den beschreibenden Passagen vollkommen begeistert ist und hier die Klugheit, die genaue Beobachtungsgabe und gekonnte Machart lobt, stört sie an den reflektierenden Textstellen der allzu große Ehrgeiz Kleebergs, seine intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten zur Schau zur stellen. Nicht nur die männlichen Protagonisten, auch der Autor neige zur "intellektuellen Hochstapelei", moniert die Rezensentin. Trotzdem ist sie gespannt, wie das Leben von Charly weitergehen könnte und vor allem, was Kleeberg der laufenden Debatte um das Geschlechterverhältnis und zu den Erfolgschancen, Liebe und Sexualität zu verbinden, noch vorzubringen hat. Denn sie hofft auf und rechnet mit einer Fortsetzung von Charlys Lebensbeschreibung.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Eine sprachlich meisterhafte Innenbetrachtung des männlichen Ichs. Genial gut!" Bild am Sonntag