In einem kleinen haitianischen Dorf bewahrt Antoinette, genannt Gran'n, Großmutter, die althergebrachten Praktiken und Riten. Um sie herum andere, jüngere Frauen, vor allem Sophonie, die "auf dem Höhepunkt des Regenschauers in andere Umstände fiel." Antoinette hat in ihr die erkannt, die ihr nachfolgen soll, aber Sophonie zögert und begreift auch erst nach und nach, was es mit dem Kind auf sich hat, das sie erwartet. Antoinette fühlt ihr Ende nahen, will aber noch einen letzten Auftrag erfüllen: Das Haus der Mysterien, der Geister des Voodoo, das ein Unwetter zerstört hat, muss wieder aufgebaut werden. Das Projekt droht die Gemeinschaft zu entzweien, denn viele Bewohner haben sich von den Mysterien abgewendet ...Kettly Mars' erster Roman erzählt in der Tradition des magischen Realismus und durchdrungen von der Spiritualität des Voodoo von der Welt des ländlichen Haiti, von der tragenden Rolle der Frauen und von den Konflikten mit der vermeintlich modernen We
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Victoria Eglau hat ein poetisches Erlebnis mit diesem Roman von Kettly Mars aus dem Jahr 2003. Die deutsche Fassung führt Eglau in die haitianische Heimat der Autorin, in ein Dorf, wo Tradition und Moderne kollidieren und die Voodo-Praktikerin Antoinette angesichts ihres nahenden Todes die Spiritualität wiederbeleben möchte. Die Konflikte, die das provoziert, aber auch das einfache, von Machismus und Entbehrung geprägte Dorfleben schildert die Autorin laut Eglau im Stil des magischen Realismus. Aufschlussreich und sinnlich, findet die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2024Die Welt als Wunder und Vorstellung
In ihrem nun endlich ins Deutsche übersetzten Roman "Kasalé" huldigt Kettly Mars dem
Voodoo-Kult ihrer
Heimat Haiti. Dieser ist bis heute auch ein
Symbol des Widerstands gegen Bevormundung.
Als André Breton 1946 Haiti besuchte, war er davon überzeugt, dass man den Surrealismus dort gar nicht mehr erfinden müsse. Lebenswelt und Spiritualität der Haitianer basierten laut Breton nämlich auf einer engen Verbindung zu den "tiefsten Quellen des menschlichen Geistes", ganz so wie die surrealistische Welterfahrung, die er als Antipode der "Hegemonie des Bewusstseins" verstand. In einer Lesung vor haitianischen Studenten erklärte Breton damals die permanente Auseinandersetzung mit den eigenen "affektiven Ursprüngen" zur wichtigsten Bedingung für das Überleben eines Volkes und seiner Kultur und entfachte mit diesem Diktum eine Revolte, die wenige Tage später zum Sturz des Präsidenten Élie Lescot führte. Lescot hatte als überzeugter Katholik zuvor eine breit angelegte Kampagne gegen Voodoo-Praktiken ins Leben gerufen und sich damit allzu offensiv vom geistigen Fundament der ersten Sklavenrepublik der Weltgeschichte gelöst.
Was hat all das mit Kettly Mars zu tun? In ihrem 2003 auf Französisch und nun endlich auch in der kundigen Übersetzung von Ingeborg Schmutte erschienenen Debütroman erzählt die Autorin von den Spätfolgen der Verbotskampagne Lescots. "Kasalé", so heißt die ländliche Ansiedlung am Rande der Hauptstadt Port-au-Prince, die in ein paar Straßenzügen eine weitverzweigte Familienbande beheimatet. In Mars' Geschichte, die Ende der Sechzigerjahre einsetzt, ist die Unterdrückung des Voodoo-Kults, der der Kirche als böser Götzendienst und den Städtern als Zeichen von Rückständigkeit gilt, noch allenthalben zu spüren. Der Roman beginnt mit einer atmosphärisch verdichteten Szenerie während eines nächtlichen Unwetters, das wundersame Begebenheiten mit sich bringt. Während die junge Sophonie in einem "flüssigen Traum" von einem Flusslauf umschlungen und in biblischer Motivik "in andere Umstände" versetzt wird, entwurzelt sich am Flussufer ein alter Zimtapfelbaum. Laut einer Legende wurde der fast einhundert Jahre alte Baum zur Geburt der Dorfältesten Antoinette gepflanzt, die bis zu Lescots Verbotskampagne und der erzwungenen Abkehr der Dorfgemeinschaft vom traditionellen Glauben als spirituelle Anleiterin fungierte. Nicht nur der Baum, der in den Fluss zu stürzen droht, auch die Verheerung des "Hauses der Mysterien", dem Voodoo-Tempel auf einer Anhöhe über der Siedlung, kündigen Antoinettes baldigen Tod an. Wer wird ihre Nachfolge antreten und die geheime Verbindung zu den "Unsichtbaren", den Ahnen aus Westafrika aufrechterhalten?
Wie sich bei Kettly Mars metaphorische Sinnlichkeit und magischer Animismus zu einer poetisch aufgeladenen Romanwirklichkeit verdichten, zeigt sich etwa in der Beschreibung des Morgens nach dem kathartischen Unwetter. "Kasalé schlummerte in einem Nebelbett, erstaunt und erschöpft von der Heftigkeit des nächtlichen Gewitters. Die leeren Sträßchen warteten auf helles Kinderlachen, herumlaufende schnuppernde Hunde. Das Leben rieb sich die Augen. Aus den Hinterhöfen stieg Rauch auf. Klappernde Gegenstände eröffneten das frühmorgendliche Konzert." Die Nachricht vom nahenden Tod der Dorfältesten reißen in Kasalé derweil unterdrückte Konflikte auf. Denn der Voodoo-Kult war (und ist bis heute) nicht nur eine Glaubensfrage, sondern mindestens ebenso sehr kulturelles Distinktionsmerkmal und Symbol des Widerstands gegen (post-)koloniale Bevormundung.
Kettly Mars, selbst bekennende Voodoo-Initiierte, ist die bedeutendste haitianische Autorin der Gegenwart und hat sich zuletzt in sozialrealistisch grundierten Romanen mit den Abgründen der Lebenswirklichkeit zwischen Armut, Diktatur, Kleptokratie und Naturkatastrophen beschäftigt. In ihrem Erstling "Kasalé" bettet sie den Glauben an "Mysterien" geschickt in die Erfahrungswelt einer Gesellschaft ein, die im "ehrenhaften Elend" einer Wirklichkeit lebt, "die sich in der Bewusstlosigkeit des Schlafes zeigte, deren Wahrheit jedoch sehr eng mit dem wachen Bewusstsein verflochten war". Damit diese Wirklichkeit als Wunder und Vorstellung Bestand hat, muss die Dorfälteste Antoinette vor ihrem Tod nicht nur eine Nachfolgerin als spirituelle Wächterin finden, auch der zerstörte Tempel muss wieder aufgebaut werden. Fünftausend Haitianische Gourde (etwa 35 Euro) hatte Antoinette ihrer Nichte Nativita einst für ihre eigene Bestattung anvertraut. Nativita, die als Hausmädchen bei reichen Leuten in der Hauptstadt den Voodoo-Synkretismus als verstaubtes Erbe der Sklavenzeit verwarf, bleibt dieses Geld nun schuldig und versetzt damit nicht nur die Bewohner der Kasalé-Siedlung in Unruhe. Vor allem stürzt sie sich selbst in einen Konflikt mit "den Unsichtbaren", die ihr seelisch und körperlich bedrohlich zusetzen.
Kettly Mars erzählt behutsam und anschaulich von einer Dorfgemeinschaft, in der sich soziale und religiöse Dynamiken exemplarisch verdichten und vor allem die Frauen über das spirituelle Erbe und das gegenwärtige Zusammenleben wachen. Der vielfach als Horrorreligion banalisierte Voodoo-Kult entpuppt sich bei Mars als Instrument zur Lösung alltäglicher Streitigkeiten, als Kräuter- und Heillehre, Identitätsanker und wirksamer Katalysator zur Wirklichkeitsbewältigung. Bevor die Greisin Antoinette sich zum "letzten Schlaf" bettet und auf die unsichtbare Seite des Lebens wechselt, gibt sie ihrer spirituellen Nachfolgerin Sophonie eine bedenkenswerte Erkenntnis mit auf den Weg: "Erinnere dich, dass Angst eine Wahl ist. Du kannst beschließen, Angst zu haben, wie du dich auch dagegen entscheiden kannst." CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Kettly Mars: "Kasalé".
Roman.
Aus dem Französischen von Ingeborg Schmutte. Litradukt Literatureditionen, Trier 2024.
211 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In ihrem nun endlich ins Deutsche übersetzten Roman "Kasalé" huldigt Kettly Mars dem
Voodoo-Kult ihrer
Heimat Haiti. Dieser ist bis heute auch ein
Symbol des Widerstands gegen Bevormundung.
Als André Breton 1946 Haiti besuchte, war er davon überzeugt, dass man den Surrealismus dort gar nicht mehr erfinden müsse. Lebenswelt und Spiritualität der Haitianer basierten laut Breton nämlich auf einer engen Verbindung zu den "tiefsten Quellen des menschlichen Geistes", ganz so wie die surrealistische Welterfahrung, die er als Antipode der "Hegemonie des Bewusstseins" verstand. In einer Lesung vor haitianischen Studenten erklärte Breton damals die permanente Auseinandersetzung mit den eigenen "affektiven Ursprüngen" zur wichtigsten Bedingung für das Überleben eines Volkes und seiner Kultur und entfachte mit diesem Diktum eine Revolte, die wenige Tage später zum Sturz des Präsidenten Élie Lescot führte. Lescot hatte als überzeugter Katholik zuvor eine breit angelegte Kampagne gegen Voodoo-Praktiken ins Leben gerufen und sich damit allzu offensiv vom geistigen Fundament der ersten Sklavenrepublik der Weltgeschichte gelöst.
Was hat all das mit Kettly Mars zu tun? In ihrem 2003 auf Französisch und nun endlich auch in der kundigen Übersetzung von Ingeborg Schmutte erschienenen Debütroman erzählt die Autorin von den Spätfolgen der Verbotskampagne Lescots. "Kasalé", so heißt die ländliche Ansiedlung am Rande der Hauptstadt Port-au-Prince, die in ein paar Straßenzügen eine weitverzweigte Familienbande beheimatet. In Mars' Geschichte, die Ende der Sechzigerjahre einsetzt, ist die Unterdrückung des Voodoo-Kults, der der Kirche als böser Götzendienst und den Städtern als Zeichen von Rückständigkeit gilt, noch allenthalben zu spüren. Der Roman beginnt mit einer atmosphärisch verdichteten Szenerie während eines nächtlichen Unwetters, das wundersame Begebenheiten mit sich bringt. Während die junge Sophonie in einem "flüssigen Traum" von einem Flusslauf umschlungen und in biblischer Motivik "in andere Umstände" versetzt wird, entwurzelt sich am Flussufer ein alter Zimtapfelbaum. Laut einer Legende wurde der fast einhundert Jahre alte Baum zur Geburt der Dorfältesten Antoinette gepflanzt, die bis zu Lescots Verbotskampagne und der erzwungenen Abkehr der Dorfgemeinschaft vom traditionellen Glauben als spirituelle Anleiterin fungierte. Nicht nur der Baum, der in den Fluss zu stürzen droht, auch die Verheerung des "Hauses der Mysterien", dem Voodoo-Tempel auf einer Anhöhe über der Siedlung, kündigen Antoinettes baldigen Tod an. Wer wird ihre Nachfolge antreten und die geheime Verbindung zu den "Unsichtbaren", den Ahnen aus Westafrika aufrechterhalten?
Wie sich bei Kettly Mars metaphorische Sinnlichkeit und magischer Animismus zu einer poetisch aufgeladenen Romanwirklichkeit verdichten, zeigt sich etwa in der Beschreibung des Morgens nach dem kathartischen Unwetter. "Kasalé schlummerte in einem Nebelbett, erstaunt und erschöpft von der Heftigkeit des nächtlichen Gewitters. Die leeren Sträßchen warteten auf helles Kinderlachen, herumlaufende schnuppernde Hunde. Das Leben rieb sich die Augen. Aus den Hinterhöfen stieg Rauch auf. Klappernde Gegenstände eröffneten das frühmorgendliche Konzert." Die Nachricht vom nahenden Tod der Dorfältesten reißen in Kasalé derweil unterdrückte Konflikte auf. Denn der Voodoo-Kult war (und ist bis heute) nicht nur eine Glaubensfrage, sondern mindestens ebenso sehr kulturelles Distinktionsmerkmal und Symbol des Widerstands gegen (post-)koloniale Bevormundung.
Kettly Mars, selbst bekennende Voodoo-Initiierte, ist die bedeutendste haitianische Autorin der Gegenwart und hat sich zuletzt in sozialrealistisch grundierten Romanen mit den Abgründen der Lebenswirklichkeit zwischen Armut, Diktatur, Kleptokratie und Naturkatastrophen beschäftigt. In ihrem Erstling "Kasalé" bettet sie den Glauben an "Mysterien" geschickt in die Erfahrungswelt einer Gesellschaft ein, die im "ehrenhaften Elend" einer Wirklichkeit lebt, "die sich in der Bewusstlosigkeit des Schlafes zeigte, deren Wahrheit jedoch sehr eng mit dem wachen Bewusstsein verflochten war". Damit diese Wirklichkeit als Wunder und Vorstellung Bestand hat, muss die Dorfälteste Antoinette vor ihrem Tod nicht nur eine Nachfolgerin als spirituelle Wächterin finden, auch der zerstörte Tempel muss wieder aufgebaut werden. Fünftausend Haitianische Gourde (etwa 35 Euro) hatte Antoinette ihrer Nichte Nativita einst für ihre eigene Bestattung anvertraut. Nativita, die als Hausmädchen bei reichen Leuten in der Hauptstadt den Voodoo-Synkretismus als verstaubtes Erbe der Sklavenzeit verwarf, bleibt dieses Geld nun schuldig und versetzt damit nicht nur die Bewohner der Kasalé-Siedlung in Unruhe. Vor allem stürzt sie sich selbst in einen Konflikt mit "den Unsichtbaren", die ihr seelisch und körperlich bedrohlich zusetzen.
Kettly Mars erzählt behutsam und anschaulich von einer Dorfgemeinschaft, in der sich soziale und religiöse Dynamiken exemplarisch verdichten und vor allem die Frauen über das spirituelle Erbe und das gegenwärtige Zusammenleben wachen. Der vielfach als Horrorreligion banalisierte Voodoo-Kult entpuppt sich bei Mars als Instrument zur Lösung alltäglicher Streitigkeiten, als Kräuter- und Heillehre, Identitätsanker und wirksamer Katalysator zur Wirklichkeitsbewältigung. Bevor die Greisin Antoinette sich zum "letzten Schlaf" bettet und auf die unsichtbare Seite des Lebens wechselt, gibt sie ihrer spirituellen Nachfolgerin Sophonie eine bedenkenswerte Erkenntnis mit auf den Weg: "Erinnere dich, dass Angst eine Wahl ist. Du kannst beschließen, Angst zu haben, wie du dich auch dagegen entscheiden kannst." CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Kettly Mars: "Kasalé".
Roman.
Aus dem Französischen von Ingeborg Schmutte. Litradukt Literatureditionen, Trier 2024.
211 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main