Als die Mutter des Jungen im Februar 1945 mit dem Säugling vor den russischen Truppen flieht, beginnt eine Odyssee über Bauernhöfe im Alten Land, die erst mit dem Einzug in eine verlassene Kaserne bei Stade, dem sogenannten "U-Block", eine gewisse Stabilität findet. Unter zahlreichen anderen
Flüchtlingsfamilien sucht sich das Kind seinen eigenen Weg und erlebt dabei Schönes und Trauriges,…mehrAls die Mutter des Jungen im Februar 1945 mit dem Säugling vor den russischen Truppen flieht, beginnt eine Odyssee über Bauernhöfe im Alten Land, die erst mit dem Einzug in eine verlassene Kaserne bei Stade, dem sogenannten "U-Block", eine gewisse Stabilität findet. Unter zahlreichen anderen Flüchtlingsfamilien sucht sich das Kind seinen eigenen Weg und erlebt dabei Schönes und Trauriges, Nebensächliches und Grundsätzliches. Doch all diese Erinnerungen sind für ihn "Momente, in denen das Herz des Jungen schneller und heftiger schlägt als sonst." So erfahren wir es im Vorwort des bewegenden Memoirs "Kasernen-Cowboy" von Rainer Kudziela.
Es ist ein Buch, das die Leser:innen von Beginn an für sich und seinen kleinen Protagonisten einnimmt, mit seinem unmittelbaren Stil und seinen kurzen prägnanten Sätzen. Kudziela wählt dabei das erzählerische Präsens, das zu dieser Unmittelbarkeit und Intensität entscheidend beiträgt. Um sich selbst den nötigen Abstand zu ermöglichen, erzählt er nicht in der Ich-Perspektive, sondern schreibt in der dritten Person von sich und seinen existenziellen Momenten. Ein kluger Schachzug, der es trotz dieser sehr persönlichen Begebenheiten den Leser:innen ermöglicht, sich zeitweise wie in einem Roman zu fühlen. Trotz der Knappheit der Sätze funkelt der "Kasernen-Cowboy" dabei auch sprachlich schön, insbesondere wenn der Junge durch unwirtliche Landschaften wie ein abgesperrtes Kasernen-Gebiet wandert, welches die Natur längst für sich zurückerobert hat.
Bemerkenswert ist dabei die Ehrlichkeit Kudzielas. Er beschönigt nichts, weder im Hinblick auf seine familiäre Herkunft, noch auf die Taten und Worte des Jungen. So berichtet er beispielsweise unverblümt über die SS-Vergangenheit des Vaters.
Die Leser:innen folgen dem Jungen auf dessen Erlebnissen im Alter von ca. drei Jahren bis zum Abitur mit 20 Jahren. Dabei haben mich vor allem die kleinen Momente sehr berührt. Etwa wenn der Junge zu Ostern in aller Frühe einen Fliederstrauch pflückt, um seiner Mutter eine Freude zu machen, diese dann aber völlig emotionslos reagiert und den Strauch überhaupt nicht kommentiert. Oder wenn er ein Foto seines früh verstorbenen großen Bruders betrachtet und darüber philosophiert, dass es seine eigene Geburt, seine Existenz vielleicht gar nicht gegeben hätte, wenn Wilfried nicht diesen schrecklichen Unfall gehabt hätte.
Ich bin diesem Jungen sehr gern gefolgt, habe mit ihm gelacht, mich mit ihm gefreut, mit ihm getrauert und mich über ihn geärgert. Zudem schaffte es Kudziela, dass ich mich nie gelangweilt habe, obwohl das Buch mit seinen gut 300 Seiten gar kein so dünnes ist.
Ein wenig gestört hat mich, dass die Gliederung des Buches eher thematisch als chronologisch angelegt ist. So gibt es diverse Zeitsprünge, bei denen der eben noch 14-Jährige im nächsten Moment wieder zehn ist. Außerdem ließen sich durch diese Gliederungen kleinere thematische Wiederholungen nicht vermeiden.
Überrascht hat mich, dass die Auseinandersetzung mit der SS-Vergangenheit des Vaters nur einen sehr kleinen Raum einnimmt. Eigentlich findet sie nur durch die jüngere Schwester kurz statt, der Junge selbst verdrängt sie mehr oder weniger erfolgreich. Hier hätte ich gern - eventuell im Nachwort - erfahren, ob es diese Aufarbeitung zumindest im Erwachsenenalter des Protagonisten gegeben hatte.
"Kasernen-Cowboy" ist dennoch ein sehr lesenswertes und berührendes Buch geworden, das gerade auch Freunde des Entwicklungsromans und der Coming-of-Age-Literatur ansprechen dürfte, denn an der Entwicklung des kleinen liebenswerten Burschen nehmen die Leser:innen wirklich von Beginn an mit hoher Intensität teil. Wer sich allerdings eine Auseinandersetzung mit der Vaterfigur wünscht, wie es zuletzt Felix Schmidt in seinem Memoir "Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte" sehr gut gelungen ist, dessen Erwartungen dürften hier nicht erfüllt werden.