Produktdetails
- SZ-Bibliothek Bd.59
- Verlag: Süddeutsche Zeitung / Bibliothek
- Seitenzahl: 155
- Erscheinungstermin: Mai 2007
- Deutsch
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 262g
- ISBN-13: 9783866155091
- ISBN-10: 3866155093
- Artikelnr.: 22727970
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.06.2007Schrecksekunde einer Frau
Christa Wolf: „Kassandra”
Was war das für ein Buch, was hat es nicht alles bedeutet! Damals, in den achtziger Jahren, den Zeiten des Nato-Doppelbeschlusses, des Kampfes gegen Pershings und Atomkraft, gegen Kapitalismus und Patriarchat. Kassandra, die trojanische Königstochter und Seherin, deren Warnungen keiner Gehör schenkte, war eine Figur ganz nach dem Geschmack der Zeit. Der Ernstfall in Person, wurde sie zu einer Identifikationsgestalt, kämpferisch und stolz, sanft und verletzlich. Auch wem Christa Wolfs Erzählung eigentlich zu pathetisch war, der schätzte sie als Steilvorlage für lautstarke Diskussionen: um Männer und Frauen, Ost und West und die Utopie einer friedlichen Gesellschaft.
In den Studentenzirkeln West-Berlins gehörte "Kassandra" zu den Büchern, die man haben musste, ganz egal, ob man sie auf legalem Weg erworben hatte oder als billigen Raubdruck. Eigentlich war letzteres sogar besser. Wer das schmale Bändchen spät nachts aus einem Stapel hochbrisanter Texte, der krachend auf dem Kneipentisch gelandet war, herausgezogen hatte, der steigerte sein Lebensgefühl. Wo es um den drohenden Untergang der Welt ging, konnte man unmöglich auch noch Urheberfragen bedenken. Das Unrechtsbewusstsein blieb unter der Wahrnehmungsschwelle, nicht aber das Gefühl, etwas Bedeutsames zu tun.
„Kassandra” erschien 1983 in der BRD, ein Jahr später auch in der DDR. Dort fand Christa Wolfs dichte Neuinterpretation des griechischen Mythos ein ebenso aufnahmebereites Publikum, das sich aus verständlichen Gründen nicht ganz so selbstgewiss artikulieren konnte. Der Mythos wurde als Maske verstanden, unter der sich die Angst vor einem drohenden Weltkrieg verbergen und doch auch artikulieren konnte. Der hohe Ton erschien manchen als Preis für das Aussprechen einer sonst unaussprechlichen Wahrheit, andere schätzten die Erzählung gerade seinetwegen. Der Stil, beileibe nicht der Inhalt, war der Grund für den großen Erfolg beim bildungsbürgerlichen Publikum. Nicht nur der DDR-Zensur, auch ihm hatte Christa Wolf einiges untergejubelt.
Als Kriegsbeute des Agamemnon sitzt Kassandra vor den Toren von Mykenae auf dem Wagen, der sie hergebracht hat. Ihre Zwillinge sind bei ihr, ebenso die Dienerin. Sie weiß, dass sie gleich von Klytaimnestra getötet werden wird. Es gibt keine Rettung. Aber sie will aufrechten Hauptes in den Tod gehen, klar, mit vollem Bewusstsein. Noch einmal zieht ihr Leben vorbei, ihre Rolle als Lieblingstochter von König Priamos, die Verleihung der Sehergabe und der darauf lastende Fluch, die Liebe zu Aineias, der Hass auf Achill, "das Vieh", die Erinnerung an Augenblicke des Glücks in der Gemeinschaft von Frauen. Christa Wolf formt aus der Dauer des homerischen Epos die gedehnte Schrecksekunde einer einzigen Frau: Kassandras Schmerzensschrei, spitz und scharf wie die Pfeile der Penthesilea. Sie will das Herz der Männer erreichen, doch tödlich treffen will sie es nicht. MEIKE FESSMANN
Christa Wolf Foto: Dott F./SV-Bilderdienst
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Christa Wolf: „Kassandra”
Was war das für ein Buch, was hat es nicht alles bedeutet! Damals, in den achtziger Jahren, den Zeiten des Nato-Doppelbeschlusses, des Kampfes gegen Pershings und Atomkraft, gegen Kapitalismus und Patriarchat. Kassandra, die trojanische Königstochter und Seherin, deren Warnungen keiner Gehör schenkte, war eine Figur ganz nach dem Geschmack der Zeit. Der Ernstfall in Person, wurde sie zu einer Identifikationsgestalt, kämpferisch und stolz, sanft und verletzlich. Auch wem Christa Wolfs Erzählung eigentlich zu pathetisch war, der schätzte sie als Steilvorlage für lautstarke Diskussionen: um Männer und Frauen, Ost und West und die Utopie einer friedlichen Gesellschaft.
In den Studentenzirkeln West-Berlins gehörte "Kassandra" zu den Büchern, die man haben musste, ganz egal, ob man sie auf legalem Weg erworben hatte oder als billigen Raubdruck. Eigentlich war letzteres sogar besser. Wer das schmale Bändchen spät nachts aus einem Stapel hochbrisanter Texte, der krachend auf dem Kneipentisch gelandet war, herausgezogen hatte, der steigerte sein Lebensgefühl. Wo es um den drohenden Untergang der Welt ging, konnte man unmöglich auch noch Urheberfragen bedenken. Das Unrechtsbewusstsein blieb unter der Wahrnehmungsschwelle, nicht aber das Gefühl, etwas Bedeutsames zu tun.
„Kassandra” erschien 1983 in der BRD, ein Jahr später auch in der DDR. Dort fand Christa Wolfs dichte Neuinterpretation des griechischen Mythos ein ebenso aufnahmebereites Publikum, das sich aus verständlichen Gründen nicht ganz so selbstgewiss artikulieren konnte. Der Mythos wurde als Maske verstanden, unter der sich die Angst vor einem drohenden Weltkrieg verbergen und doch auch artikulieren konnte. Der hohe Ton erschien manchen als Preis für das Aussprechen einer sonst unaussprechlichen Wahrheit, andere schätzten die Erzählung gerade seinetwegen. Der Stil, beileibe nicht der Inhalt, war der Grund für den großen Erfolg beim bildungsbürgerlichen Publikum. Nicht nur der DDR-Zensur, auch ihm hatte Christa Wolf einiges untergejubelt.
Als Kriegsbeute des Agamemnon sitzt Kassandra vor den Toren von Mykenae auf dem Wagen, der sie hergebracht hat. Ihre Zwillinge sind bei ihr, ebenso die Dienerin. Sie weiß, dass sie gleich von Klytaimnestra getötet werden wird. Es gibt keine Rettung. Aber sie will aufrechten Hauptes in den Tod gehen, klar, mit vollem Bewusstsein. Noch einmal zieht ihr Leben vorbei, ihre Rolle als Lieblingstochter von König Priamos, die Verleihung der Sehergabe und der darauf lastende Fluch, die Liebe zu Aineias, der Hass auf Achill, "das Vieh", die Erinnerung an Augenblicke des Glücks in der Gemeinschaft von Frauen. Christa Wolf formt aus der Dauer des homerischen Epos die gedehnte Schrecksekunde einer einzigen Frau: Kassandras Schmerzensschrei, spitz und scharf wie die Pfeile der Penthesilea. Sie will das Herz der Männer erreichen, doch tödlich treffen will sie es nicht. MEIKE FESSMANN
Christa Wolf Foto: Dott F./SV-Bilderdienst
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Christa Wolf hat die Figur Kassandra lebendig phantasiert und sie aus dem Mythos in ein utopisches Einst als ihren Ort eingeschrieben - ein Einst, das die Vergangenheit und zugleich die Zukunft meint. Es war einst und wird einst sein eine Frau namens Kassandra, eine exemplarische Dissidentin, eine Frau am Schnittpunkt zwischen Patriarchat und Matriarchat, eine Frau, die für sich und ihresgleichen eine lebbare Alternative zum (männlichen) Gewalt- und Herrschaftsdenken sucht, eine Frau, die auf dem rechten Weg scheitert, aber dadurch ihn beglaubigt. Eine Erzählung von klassischer Wucht und Schwere, fast einschüchternd vollkommen" (profil, Wien)
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Knapp dreißig Jahre nach der Veröffentlichung von Christa Wolfs Werk "Kassandra" ist nun auch diese ungekürzte Autorenlesung erschienen, berichtet Rezensent Martin Maurach und stellt fest: Auch heute ist diese Erzählung noch aktuell. Allerdings hört der Kritiker den Text heute weniger als Reaktion Wolfs auf die DDR, sondern versteht ihn angesichts der weltweiten Konflikte von Religionen und Kulturen vielmehr als "Echo" auf frühere totalitäre Systeme. Die Allgemeingültigkeit ihrer Innenanalyse eines autoritären Staates erreiche die Autorin dadurch, dass sie mehr auf Reflexion als auf Geschehen und mehr auf den Kampf gegen Männermacht und Heldenideologie als gegen politische Programme setze, informiert der Rezensent. Als so wahrgenommene "Literatur einer zweiten deutschen inneren Emigration" kann er Wolfs Parabel auch heute noch unbedingt empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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