»10 Best Books of 2022.« The New York Times Book Review
»Brillant, einzigartig, feministisch. Claire-Louise Bennett ist eine großartige Autorin.« Sinéad Gleeson
Mit atemberaubender Intensität erzählt die preisgekrönte britische Schriftstellerin Claire-Louise Bennett die Geschichte einer jungen Frau - vom Entdecken des eigenen Körpers, vom Beharren auf Unabhängigkeit und von der grenzenlosen Liebe zur Literatur.
In einer Arbeiterstadt einer Grafschaft westlich von London kritzelt ein junges Mädchen Geschichten auf die letzten Seiten ihres Schulheftes, berauscht von den ersten Funken ihrer Fantasie. Als sie heranwächst, werden alles und jeder, dem sie begegnet, zum Brennstoff für ihr Talent: der russische Mann mit dem alten kastanienbraunen Auto, der in dem Supermarkt, in dem sie an Kasse 19 sitzt, einkauft und ihr ein Exemplar von Nietzsches »Jenseits von Gut und Böse« zusteckt. Der immer größer werdende Stapel an Büchern, in denen sie sich verliert - und wiederfindet.
»Brillant, einzigartig, feministisch. Claire-Louise Bennett ist eine großartige Autorin.« Sinéad Gleeson
Mit atemberaubender Intensität erzählt die preisgekrönte britische Schriftstellerin Claire-Louise Bennett die Geschichte einer jungen Frau - vom Entdecken des eigenen Körpers, vom Beharren auf Unabhängigkeit und von der grenzenlosen Liebe zur Literatur.
In einer Arbeiterstadt einer Grafschaft westlich von London kritzelt ein junges Mädchen Geschichten auf die letzten Seiten ihres Schulheftes, berauscht von den ersten Funken ihrer Fantasie. Als sie heranwächst, werden alles und jeder, dem sie begegnet, zum Brennstoff für ihr Talent: der russische Mann mit dem alten kastanienbraunen Auto, der in dem Supermarkt, in dem sie an Kasse 19 sitzt, einkauft und ihr ein Exemplar von Nietzsches »Jenseits von Gut und Böse« zusteckt. Der immer größer werdende Stapel an Büchern, in denen sie sich verliert - und wiederfindet.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Helena Schäfer hätte sich etwas mehr Identifikationspotenzial gewünscht in Claire-Louise Bennetts autobiografischer Coming-of-Age-Story. Die Geschichte einer Büchernärrin erzählt die Autorin laut Schäfer sprunghaft, oberflächlich, repetetiv und ohne sinnstiftende Figuren oder Konstellationen. Auch wenn Schäfer darin schließlich die Selbstbezogenheit der Erzählerin und die Abgetrenntheit von ihrer Umwelt gespiegelt sieht, macht ihr das die Lektüre nicht eben leicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Außerhalb
der
Welt
Porträt der Künstlerin
als junge Frau:
Claire-Louise Bennetts
Roman „Kasse 19“ ist
ein Meisterwerk der
autobiografischen Literatur
VON FELIX STEPHAN
n Mohamed Mbougar Sarrs Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“, der 2021 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, heißt es an einer Stelle, Literatur fange überhaupt erst dann an, wenn man nicht sagen könne, worum es in einem Buch geht. Und damit direkt zu „Kasse 19“, dem zweiten Roman der englischen Schriftstellerin Claire-Louise Bennett, der seine Autorin im vergangenen Jahr auf nahezu sämtliche Bestenlisten befördert hat, die die englischsprachige Welt zu bieten hat.
Trotzdem hier zumindest der Versuch eines inhaltlichen Umrisses: Ein Mädchen aus der südenglischen Arbeiterschicht geht zur Schule, fühlt sich in Gesellschaft ihrer Gedanken wohler als in Gesellschaft ihrer Mitschüler, hat Schwierigkeiten, sich auszudrücken, fängt an zu lesen. Sie verbringt viel Zeit damit, ihren Gedanken dabei zuzusehen, wie sie sich in ihrem Kopf von hier nach dort bewegen, ohne jede Ambition, sie mit jemandem zu teilen: „Ich hatte viele Ideen, aber die meisten blieben, wo sie waren, denn für mich gab es nichts Schöneres, als im Gras zu sitzen und sie wieder und wieder zu durchdenken. Sie in diese oder jene Richtung zu drehen und mit dem fransigen Zipfel meiner Vorstellungskraft zu polieren.“ Es soll ja Leute geben, die zu Schriftstellern werden, weil sie für das Sprechen keine Begabung haben, zu diesen Leuten gehört auch Claire-Louise Bennetts Erzählerin.
Im Zustand romantischer Weltabgewandtheit bringt sie also die Schule hinter sich, geht zur Universität, trifft dort auf Leute, die „auf andere Schulen in anderen Bezirken gegangen“ waren und liest immer weiter, arbeitet nebenher im Supermarkt an einer Kasse, die so heißt wie der Roman, und fängt eine Beziehung mit einem Bohemien an. Diese Beziehung birgt die große Verheißung auf ein Leben ohne Geld, verläuft letztlich aber enttäuschend, es kommt zu kleinlicher Eifersucht: „Mein Freund mochte die Vorstellung, dass ich eine Schriftstellerin war, aber schreiben sollte ich lieber nicht. Das Schreiben entfernte mich von ihm und brachte mich an einen fremden, für ihn unerreichbaren Ort (…)“.
Es passiert also für epische Verhältnisse tatsächlich sehr wenig, und wenn doch, spielt es sich vor allem im Inneren ab. Denken, Erinnern, gedankliche Abdriften als Genuss und Selbstzweck, die Memoiren einer Leserin. Von Annie Ernaux, Rachel Cusk, Tove Ditlevsen entleiht sich der Roman die poetologische Fragestellung, wie sich wahrhaftig über eine Person schreiben lässt, die man einst selbst gewesen ist, und gleichzeitig den daraus sich zwangsläufig ergebenden Blick auf die Person zu ertragen, die heute aus ihr geworden ist. Wie um den Ernst der Sache abzumildern und anzuzeigen, dass letztlich doch alles nur ein Spiel ist, variiert der Text immer wieder die Fokalisierung, die Erzählstimme tritt meistens als „ich“ auf, immer wieder aber auch als „sie“ oder „du“.
In der französischen Autofiktion gerinnt literarische Bildung, sobald sie einmal angehäuft ist, direkt zu kulturellem Kapital, das sich gewinnbringend in die Distinktionskreisläufe einspeisen lässt. So hat Balzac es eingeführt und so ist es bis heute geblieben. Bennetts Erzählinteresse hingegen ist ausdrücklich romantisch. Wenn es bei Bennett überhaupt einen Zusammenhang gibt zwischen Klassenzugehörigkeit und Literaturfähigkeit, dann höchstens antiproportional: Je kleiner das Zimmer, heißt es einmal, desto besser könne man darin denken. Die Literatur ist hier Gegenwelt und tatsächlich auch Heimat, aber nicht in dem Sinne, in dem Horst Seehofer das Wort verwendet, sondern so wie bei Ernst Bloch, als Vorschein aufgehobener Entfremdung.
Während das physische Dasein von den Einschränkungen geprägt ist, die einer Frau aus der südenglischen Arbeiterklasse eben so begegnen, stehen ihr in der Literatur alle Wege offen. Dort warten Souveränität und Wahlverwandtschaften, dort stehen Virginia Woolf und Elias Canetti zum Plausch bereit. Die Autoren, die ihr über das Schlimmste hinweggeholfen haben, lässt Bennett gelegentlich in langen Aufzählungen auftreten: „Diana Athill, Doris Lessing, Marlen Haushofer, Shirley Jackson, Tove Ditlevsen, Ágota Kristóf, Muriel Spark, Eudora Welty“ und noch eine ganze Weile so weiter.
Auf diese Weise ist sie nie allein. Als sie einmal in Innsbruck strandet, reist sie gedanklich in Begleitung der feministischen und, wie man heute sagen würde, sexpositiven Schriftstellerin Anaïs Nin, die auch einmal in Innsbruck gewesen war, was Bennetts Erzählerin sich schwer vorstellen kann, weil Stadt und Autorin so wenig zusammenpassen. An Nin habe sie immer geschätzt, sagt sie, dass sie in sexuellen Beziehungen eine Möglichkeit erkannt habe, „sich nicht festzulegen und die starren Grenzlinien der eigenen Persönlichkeit zu überwinden“.
Außerdem ist die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector anwesend, die als Diplomatengattin in alle möglichen Orte reisen musste und aus Paris, Algier und eben Innsbruck häufig Briefe an ihre Freundinnen zu Hause schickte, in denen sie Zeugnis ablegt von der Langeweile über das intelligente Gerede, das sie an der Seite ihres Mannes tagein, tagaus zu ertragen hatte: „Man kann nicht einmal ins Theater gehen, ohne dass man sagen müsste, ob es einem gefallen hat und warum oder warum nicht“, schreibt sie einmal. „Am Ende mag man nicht einmal mehr denken, wo man doch eigentlich nur nichts sagen wollte.“
Bennetts Erzählerin erlebt unentwegt Dinge, die sie in Romanen schon einmal besser, tragischer, filigraner erlebt hat, und zu den Fragestellungen dieses Textes gehört nicht zuletzt, wo sich genau unter all dem Vorformulierten das authentische, absolute, wahrhaftige Erleben verbergen könnte. An dieser Stelle kommt eine zweite Gegenwelt ins Spiel, die mit romantischer Literatur seit jeher unmittelbar verwandt ist: der Tod. Leitmotivisch grundiert er das ganze Buch.
Roland Barthes hat einmal angemerkt, dass der Tod das einzige Ereignis sei, alles andere sei nur Sprache. Zu diesem einzigen Ereignis fühlt sich Bennetts Erzählerin schon als Kind stark hingezogen, auf der Bettkante sitzend wiederholt sie leise das Mantra ihrer Großmutter: „Ich stehe mit einem Bein im Grab.“
Schon damals habe sie das Gefühl gehabt, „außerhalb der Welt zu leben und in sie hineinzuschauen, und die stärksten Empfindungen, die dieser Zustand in mir auslöste, waren Verlassenheit und seelischer Schmerz. Aber als ich auf dem Rosenknospenmuster des Bettüberwurfs saß und mir das Mantra meiner Großmutter aufsagte, kam ich mir vornehm, geheimnisvoll und unabhängig vor“.
Später versteckt ihr Freund vorsorglich die Bücher von Sylvia Plath, Anne Sexton, Ann Quin vor ihr, allesamt Autorinnen, die ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt haben. Bennetts Erzählerin notiert dazu, ohne Kommata: „Ich will keine Bücher von Frauen lesen die sich umgebracht haben. Sehr wahrscheinlich werde ich mich eines Tages umbringen und wenn es soweit ist möchte ich dass es ganz allein meine Idee war.“
Es ist tatsächlich verblüffend, wie lässig und anstrengungslos sich Bennett im Hallraum der Moderne bewegt, als handele es sich um ihr Wohnzimmer. Und verblüffend ist auch der Eindruck, dass der Roman gleich bei seinem Erscheinen unmittelbar die Maßstäbe verschiebt. Auf einmal wirkt die autofiktionale Literatur der vergangenen Jahrzehnte, die soeben noch die frischeste Antwort auf die Krise der Fiktion vor dem Hintergrund der Gesamtmedialisierung allen Daseins gewesen ist, seltsam eindimensional und vergangen. Wenn man einen Klassiker so begreift, als würde er eine literarische Form gewissermaßen vollenden, dann handelt es sich bei Claire-Louise Bennetts „Kasse 19“, so muss man es wohl sagen, um einen Klassiker der Gegenwart.
I
Die Bandbreite an
Mitteln, die Bennett
zur Verfügung steht,
ist atemberaubend
Claire-Louise Bennett:
Kasse 19.
Aus dem Englischen
von Eva Bonné.
Luchterhand Verlag,
München 2023.
304 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der
Welt
Porträt der Künstlerin
als junge Frau:
Claire-Louise Bennetts
Roman „Kasse 19“ ist
ein Meisterwerk der
autobiografischen Literatur
VON FELIX STEPHAN
n Mohamed Mbougar Sarrs Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“, der 2021 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, heißt es an einer Stelle, Literatur fange überhaupt erst dann an, wenn man nicht sagen könne, worum es in einem Buch geht. Und damit direkt zu „Kasse 19“, dem zweiten Roman der englischen Schriftstellerin Claire-Louise Bennett, der seine Autorin im vergangenen Jahr auf nahezu sämtliche Bestenlisten befördert hat, die die englischsprachige Welt zu bieten hat.
Trotzdem hier zumindest der Versuch eines inhaltlichen Umrisses: Ein Mädchen aus der südenglischen Arbeiterschicht geht zur Schule, fühlt sich in Gesellschaft ihrer Gedanken wohler als in Gesellschaft ihrer Mitschüler, hat Schwierigkeiten, sich auszudrücken, fängt an zu lesen. Sie verbringt viel Zeit damit, ihren Gedanken dabei zuzusehen, wie sie sich in ihrem Kopf von hier nach dort bewegen, ohne jede Ambition, sie mit jemandem zu teilen: „Ich hatte viele Ideen, aber die meisten blieben, wo sie waren, denn für mich gab es nichts Schöneres, als im Gras zu sitzen und sie wieder und wieder zu durchdenken. Sie in diese oder jene Richtung zu drehen und mit dem fransigen Zipfel meiner Vorstellungskraft zu polieren.“ Es soll ja Leute geben, die zu Schriftstellern werden, weil sie für das Sprechen keine Begabung haben, zu diesen Leuten gehört auch Claire-Louise Bennetts Erzählerin.
Im Zustand romantischer Weltabgewandtheit bringt sie also die Schule hinter sich, geht zur Universität, trifft dort auf Leute, die „auf andere Schulen in anderen Bezirken gegangen“ waren und liest immer weiter, arbeitet nebenher im Supermarkt an einer Kasse, die so heißt wie der Roman, und fängt eine Beziehung mit einem Bohemien an. Diese Beziehung birgt die große Verheißung auf ein Leben ohne Geld, verläuft letztlich aber enttäuschend, es kommt zu kleinlicher Eifersucht: „Mein Freund mochte die Vorstellung, dass ich eine Schriftstellerin war, aber schreiben sollte ich lieber nicht. Das Schreiben entfernte mich von ihm und brachte mich an einen fremden, für ihn unerreichbaren Ort (…)“.
Es passiert also für epische Verhältnisse tatsächlich sehr wenig, und wenn doch, spielt es sich vor allem im Inneren ab. Denken, Erinnern, gedankliche Abdriften als Genuss und Selbstzweck, die Memoiren einer Leserin. Von Annie Ernaux, Rachel Cusk, Tove Ditlevsen entleiht sich der Roman die poetologische Fragestellung, wie sich wahrhaftig über eine Person schreiben lässt, die man einst selbst gewesen ist, und gleichzeitig den daraus sich zwangsläufig ergebenden Blick auf die Person zu ertragen, die heute aus ihr geworden ist. Wie um den Ernst der Sache abzumildern und anzuzeigen, dass letztlich doch alles nur ein Spiel ist, variiert der Text immer wieder die Fokalisierung, die Erzählstimme tritt meistens als „ich“ auf, immer wieder aber auch als „sie“ oder „du“.
In der französischen Autofiktion gerinnt literarische Bildung, sobald sie einmal angehäuft ist, direkt zu kulturellem Kapital, das sich gewinnbringend in die Distinktionskreisläufe einspeisen lässt. So hat Balzac es eingeführt und so ist es bis heute geblieben. Bennetts Erzählinteresse hingegen ist ausdrücklich romantisch. Wenn es bei Bennett überhaupt einen Zusammenhang gibt zwischen Klassenzugehörigkeit und Literaturfähigkeit, dann höchstens antiproportional: Je kleiner das Zimmer, heißt es einmal, desto besser könne man darin denken. Die Literatur ist hier Gegenwelt und tatsächlich auch Heimat, aber nicht in dem Sinne, in dem Horst Seehofer das Wort verwendet, sondern so wie bei Ernst Bloch, als Vorschein aufgehobener Entfremdung.
Während das physische Dasein von den Einschränkungen geprägt ist, die einer Frau aus der südenglischen Arbeiterklasse eben so begegnen, stehen ihr in der Literatur alle Wege offen. Dort warten Souveränität und Wahlverwandtschaften, dort stehen Virginia Woolf und Elias Canetti zum Plausch bereit. Die Autoren, die ihr über das Schlimmste hinweggeholfen haben, lässt Bennett gelegentlich in langen Aufzählungen auftreten: „Diana Athill, Doris Lessing, Marlen Haushofer, Shirley Jackson, Tove Ditlevsen, Ágota Kristóf, Muriel Spark, Eudora Welty“ und noch eine ganze Weile so weiter.
Auf diese Weise ist sie nie allein. Als sie einmal in Innsbruck strandet, reist sie gedanklich in Begleitung der feministischen und, wie man heute sagen würde, sexpositiven Schriftstellerin Anaïs Nin, die auch einmal in Innsbruck gewesen war, was Bennetts Erzählerin sich schwer vorstellen kann, weil Stadt und Autorin so wenig zusammenpassen. An Nin habe sie immer geschätzt, sagt sie, dass sie in sexuellen Beziehungen eine Möglichkeit erkannt habe, „sich nicht festzulegen und die starren Grenzlinien der eigenen Persönlichkeit zu überwinden“.
Außerdem ist die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector anwesend, die als Diplomatengattin in alle möglichen Orte reisen musste und aus Paris, Algier und eben Innsbruck häufig Briefe an ihre Freundinnen zu Hause schickte, in denen sie Zeugnis ablegt von der Langeweile über das intelligente Gerede, das sie an der Seite ihres Mannes tagein, tagaus zu ertragen hatte: „Man kann nicht einmal ins Theater gehen, ohne dass man sagen müsste, ob es einem gefallen hat und warum oder warum nicht“, schreibt sie einmal. „Am Ende mag man nicht einmal mehr denken, wo man doch eigentlich nur nichts sagen wollte.“
Bennetts Erzählerin erlebt unentwegt Dinge, die sie in Romanen schon einmal besser, tragischer, filigraner erlebt hat, und zu den Fragestellungen dieses Textes gehört nicht zuletzt, wo sich genau unter all dem Vorformulierten das authentische, absolute, wahrhaftige Erleben verbergen könnte. An dieser Stelle kommt eine zweite Gegenwelt ins Spiel, die mit romantischer Literatur seit jeher unmittelbar verwandt ist: der Tod. Leitmotivisch grundiert er das ganze Buch.
Roland Barthes hat einmal angemerkt, dass der Tod das einzige Ereignis sei, alles andere sei nur Sprache. Zu diesem einzigen Ereignis fühlt sich Bennetts Erzählerin schon als Kind stark hingezogen, auf der Bettkante sitzend wiederholt sie leise das Mantra ihrer Großmutter: „Ich stehe mit einem Bein im Grab.“
Schon damals habe sie das Gefühl gehabt, „außerhalb der Welt zu leben und in sie hineinzuschauen, und die stärksten Empfindungen, die dieser Zustand in mir auslöste, waren Verlassenheit und seelischer Schmerz. Aber als ich auf dem Rosenknospenmuster des Bettüberwurfs saß und mir das Mantra meiner Großmutter aufsagte, kam ich mir vornehm, geheimnisvoll und unabhängig vor“.
Später versteckt ihr Freund vorsorglich die Bücher von Sylvia Plath, Anne Sexton, Ann Quin vor ihr, allesamt Autorinnen, die ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt haben. Bennetts Erzählerin notiert dazu, ohne Kommata: „Ich will keine Bücher von Frauen lesen die sich umgebracht haben. Sehr wahrscheinlich werde ich mich eines Tages umbringen und wenn es soweit ist möchte ich dass es ganz allein meine Idee war.“
Es ist tatsächlich verblüffend, wie lässig und anstrengungslos sich Bennett im Hallraum der Moderne bewegt, als handele es sich um ihr Wohnzimmer. Und verblüffend ist auch der Eindruck, dass der Roman gleich bei seinem Erscheinen unmittelbar die Maßstäbe verschiebt. Auf einmal wirkt die autofiktionale Literatur der vergangenen Jahrzehnte, die soeben noch die frischeste Antwort auf die Krise der Fiktion vor dem Hintergrund der Gesamtmedialisierung allen Daseins gewesen ist, seltsam eindimensional und vergangen. Wenn man einen Klassiker so begreift, als würde er eine literarische Form gewissermaßen vollenden, dann handelt es sich bei Claire-Louise Bennetts „Kasse 19“, so muss man es wohl sagen, um einen Klassiker der Gegenwart.
I
Die Bandbreite an
Mitteln, die Bennett
zur Verfügung steht,
ist atemberaubend
Claire-Louise Bennett:
Kasse 19.
Aus dem Englischen
von Eva Bonné.
Luchterhand Verlag,
München 2023.
304 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Wenn man einen Klassiker so begreift, als würde er eine literarische Form gewissermaßen vollenden, dann handelt es sich bei Claire-Louise Bennetts 'Kasse 19', so muss man es wohl sagen, um einen Klassiker der Gegenwart.« Felix Stephan / Süddeutsche Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2023Das Mädchen, das später ich sein würde
Beobachtungsgabe trennt von der Welt: Claire-Louise Bennetts romanhafter Erlebnisbericht "Kasse 19"
Wir leben, indem wir lesen. Für die namenlose Erzählerin in Claire-Louise Bennetts autobiographischem Roman gibt es kaum einen Unterschied zwischen beidem. Mit etwa vierzig blickt sie auf ihre Jugend und die Zeit als junge Erwachsene zurück. Dabei erinnert sie sich kaum an Freundschaften oder klassische Stationen des Erwachsenwerdens. Ihr Reifegrad bemisst sich stattdessen an den Büchern, die sie zu einer bestimmten Zeit gelesen hat, und an jenen, die sie noch nicht gelesen hat, aber später lesen will: "Bonjour Tristesse", "Anna Karenina", "Frankenstein", "Zimmer mit Aussicht". Manchmal liest sie nur Bücher von alten Männern, von einem bestimmten Zeitpunkt an nur noch Bücher von Frauen: Joan Didion, bell hooks, Annie Ernaux, Ingeborg Bachmann, Anaïs Nin, Anna Kavan, Ann Quin.
Der Leser erfährt einige biographische Eckpunkte der Erzählerin, die sich mit jenen der Autorin decken. Die Erzählerin wächst wie Bennett im Südwesten Englands auf. Der soziale Aufstieg der Eltern wird anhand von Dingen geschildert: sonntags Croissants, Shampoo mit Bananenduft, maßgefertigte Jalousien, Ballettschuhe. Die junge Frau studiert Literatur und Theaterwissenschaften in London. In den Sommermonaten jobbt sie im Supermarkt an der titelgebenden Kasse 19. Später wandert sie nach Irland aus. Sie schreibt und liest. Abgesehen von diesem groben Rahmen gibt es keine Handlung.
Andere Personen kommen nur am Rande vor: meistens ältere Männer oder übergriffige Partner, die nicht damit klarkommen, dass die Erzählerin eine Frau ist, die schreibt. Die brüchigen Beziehungen werden oft über Bücher vermittelt. In der Schule ist sie fasziniert von ihrem Lehrer. Sie schenkt ihm selbst geschriebene Geschichten. Im Supermarkt begegnet sie einem russischen Mann, der ihr Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" schenkt. Wechselnde Partner im Studium schreiben Gedichte, empfehlen ihr Bücher oder zerreißen das, was sie geschrieben hat.
In Gedankenschleifen erinnert sich die Erzählerin daran, wie sie mit dem Schreiben begonnen hat: in einer Schulstunde. Sie malt das Gesicht des angehimmelten Lehrers in ihr Schulheft und löscht es danach mit einem Gewirr aus Kugelschreiberkreisen aus. Dabei gerät der Stift in Fahrt und entwickelt ein Eigenleben. Aus der Linie werden Wörter, und aus den Wörtern werden Geschichten. In denen ist Raum für Morbides, für Weltekel. Hände werden aufgegessen, blassgelbe Klumpen formen sich, Fäden sprießen aus Fingern und verheddern sich. Meistens gehen am Ende Bücher oder Personen in Flammen auf. Die Geschichten stiften Unbehagen. Ihre Form ist wie der Inhalt experimentell und wirr.
Die Erzählerin ist stets auf der Suche nach einer Stimme, die zu ihr passt. Am Anfang und am Ende klingt sie nicht wie vierzig, sondern wie eine alte Frau, die schon ein bisschen schusselig ist. Sie wiederholt sich ständig, redet mit sich selbst: "Ja. Ja, so war das." Es klingt, als wären die Erfahrungen in ihrem Kopf schon durcheinandergeraten, aber als würde sich einiges dadurch auch klarer zeigen. Die Perspektive wechselt immer wieder: Mal erzählt ein Ich, mal ein Wir, mal wird in der dritten Person erzählt, "das Mädchen am Tisch, das später ich sein würde".
Die Erzählerin behauptet: "Die ganze Zeit las ich die Welt." Immer wieder taucht ein silberner Lamé-Rock in Brighton auf, der über den Gehweg schleift und die Pfützen aufsaugt. Akribisch beschreibt sie, wie ihre Periode auf den Hocker in der Schule sickert, der hübscheste aller Rottöne, perfekt für einen Lippenstift. Doch ihre Beobachtungsgabe trennt die Erzählerin von der Welt. Sie steht abseits ihrer eigenen Geschichte: "Schon zu der Zeit hatte ich das Gefühl, außerhalb der Welt zu leben und in sie hineinzuschauen, und die stärksten Empfindungen, die dieser Zustand in mir auslöste, waren Verlassenheit und seelischer Schmerz."
Das Erinnern ist sprunghaft, es dreht sich im Kreis und zuweilen um sich selbst. Die übertriebene Introspektion macht es dem Leser nicht leicht, einen Zugang zur Erzählerin und ihrer Lebensgeschichte zu finden. Handlungsstränge, Figuren und Beziehungen, die Sinn stiften und Empathie ermöglichen könnten, werden nur oberflächlich angedeutet. Das Leben wird in der Reflexion so lange zerlegt, bis nicht mehr viel davon übrig bleibt außer Erinnerungsfetzen, einzelnen Gegenständen und drückender Leere. Auch der Leser bleibt immer Beobachter. Die Autorin tut einem nicht den Gefallen, eine kohärente Coming-of-Age-Geschichte zu schreiben, in die man eintauchen, in der man Trost finden könnte. Man muss die Leere mit ihr aushalten können.
Kurz vor Ende wird das Schema einmal gebrochen. Erst fällt ein schwerwiegender Satz - eine Vorahnung auf das eigene Ende -, und dann werden zwei traumatische Erfahrungen in weniger experimenteller Prosa geschildert. Diese beiden Szenen helfen, das Chaos, die Selbstbezogenheit und die Leere einzuordnen. Erst da erfährt man, warum Leben und Lesen für die Erzählerin identisch sind. Lesen ist ihre Überlebensstrategie: "Die Seite umblättern, die Seite umblättern. Ja, auf diese Weise habe ich weitergelebt." HELENA SCHÄFER
Claire-Louise Bennett: "Kasse 19".
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Luchterhand Verlag, München 2023. 304 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Beobachtungsgabe trennt von der Welt: Claire-Louise Bennetts romanhafter Erlebnisbericht "Kasse 19"
Wir leben, indem wir lesen. Für die namenlose Erzählerin in Claire-Louise Bennetts autobiographischem Roman gibt es kaum einen Unterschied zwischen beidem. Mit etwa vierzig blickt sie auf ihre Jugend und die Zeit als junge Erwachsene zurück. Dabei erinnert sie sich kaum an Freundschaften oder klassische Stationen des Erwachsenwerdens. Ihr Reifegrad bemisst sich stattdessen an den Büchern, die sie zu einer bestimmten Zeit gelesen hat, und an jenen, die sie noch nicht gelesen hat, aber später lesen will: "Bonjour Tristesse", "Anna Karenina", "Frankenstein", "Zimmer mit Aussicht". Manchmal liest sie nur Bücher von alten Männern, von einem bestimmten Zeitpunkt an nur noch Bücher von Frauen: Joan Didion, bell hooks, Annie Ernaux, Ingeborg Bachmann, Anaïs Nin, Anna Kavan, Ann Quin.
Der Leser erfährt einige biographische Eckpunkte der Erzählerin, die sich mit jenen der Autorin decken. Die Erzählerin wächst wie Bennett im Südwesten Englands auf. Der soziale Aufstieg der Eltern wird anhand von Dingen geschildert: sonntags Croissants, Shampoo mit Bananenduft, maßgefertigte Jalousien, Ballettschuhe. Die junge Frau studiert Literatur und Theaterwissenschaften in London. In den Sommermonaten jobbt sie im Supermarkt an der titelgebenden Kasse 19. Später wandert sie nach Irland aus. Sie schreibt und liest. Abgesehen von diesem groben Rahmen gibt es keine Handlung.
Andere Personen kommen nur am Rande vor: meistens ältere Männer oder übergriffige Partner, die nicht damit klarkommen, dass die Erzählerin eine Frau ist, die schreibt. Die brüchigen Beziehungen werden oft über Bücher vermittelt. In der Schule ist sie fasziniert von ihrem Lehrer. Sie schenkt ihm selbst geschriebene Geschichten. Im Supermarkt begegnet sie einem russischen Mann, der ihr Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" schenkt. Wechselnde Partner im Studium schreiben Gedichte, empfehlen ihr Bücher oder zerreißen das, was sie geschrieben hat.
In Gedankenschleifen erinnert sich die Erzählerin daran, wie sie mit dem Schreiben begonnen hat: in einer Schulstunde. Sie malt das Gesicht des angehimmelten Lehrers in ihr Schulheft und löscht es danach mit einem Gewirr aus Kugelschreiberkreisen aus. Dabei gerät der Stift in Fahrt und entwickelt ein Eigenleben. Aus der Linie werden Wörter, und aus den Wörtern werden Geschichten. In denen ist Raum für Morbides, für Weltekel. Hände werden aufgegessen, blassgelbe Klumpen formen sich, Fäden sprießen aus Fingern und verheddern sich. Meistens gehen am Ende Bücher oder Personen in Flammen auf. Die Geschichten stiften Unbehagen. Ihre Form ist wie der Inhalt experimentell und wirr.
Die Erzählerin ist stets auf der Suche nach einer Stimme, die zu ihr passt. Am Anfang und am Ende klingt sie nicht wie vierzig, sondern wie eine alte Frau, die schon ein bisschen schusselig ist. Sie wiederholt sich ständig, redet mit sich selbst: "Ja. Ja, so war das." Es klingt, als wären die Erfahrungen in ihrem Kopf schon durcheinandergeraten, aber als würde sich einiges dadurch auch klarer zeigen. Die Perspektive wechselt immer wieder: Mal erzählt ein Ich, mal ein Wir, mal wird in der dritten Person erzählt, "das Mädchen am Tisch, das später ich sein würde".
Die Erzählerin behauptet: "Die ganze Zeit las ich die Welt." Immer wieder taucht ein silberner Lamé-Rock in Brighton auf, der über den Gehweg schleift und die Pfützen aufsaugt. Akribisch beschreibt sie, wie ihre Periode auf den Hocker in der Schule sickert, der hübscheste aller Rottöne, perfekt für einen Lippenstift. Doch ihre Beobachtungsgabe trennt die Erzählerin von der Welt. Sie steht abseits ihrer eigenen Geschichte: "Schon zu der Zeit hatte ich das Gefühl, außerhalb der Welt zu leben und in sie hineinzuschauen, und die stärksten Empfindungen, die dieser Zustand in mir auslöste, waren Verlassenheit und seelischer Schmerz."
Das Erinnern ist sprunghaft, es dreht sich im Kreis und zuweilen um sich selbst. Die übertriebene Introspektion macht es dem Leser nicht leicht, einen Zugang zur Erzählerin und ihrer Lebensgeschichte zu finden. Handlungsstränge, Figuren und Beziehungen, die Sinn stiften und Empathie ermöglichen könnten, werden nur oberflächlich angedeutet. Das Leben wird in der Reflexion so lange zerlegt, bis nicht mehr viel davon übrig bleibt außer Erinnerungsfetzen, einzelnen Gegenständen und drückender Leere. Auch der Leser bleibt immer Beobachter. Die Autorin tut einem nicht den Gefallen, eine kohärente Coming-of-Age-Geschichte zu schreiben, in die man eintauchen, in der man Trost finden könnte. Man muss die Leere mit ihr aushalten können.
Kurz vor Ende wird das Schema einmal gebrochen. Erst fällt ein schwerwiegender Satz - eine Vorahnung auf das eigene Ende -, und dann werden zwei traumatische Erfahrungen in weniger experimenteller Prosa geschildert. Diese beiden Szenen helfen, das Chaos, die Selbstbezogenheit und die Leere einzuordnen. Erst da erfährt man, warum Leben und Lesen für die Erzählerin identisch sind. Lesen ist ihre Überlebensstrategie: "Die Seite umblättern, die Seite umblättern. Ja, auf diese Weise habe ich weitergelebt." HELENA SCHÄFER
Claire-Louise Bennett: "Kasse 19".
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Luchterhand Verlag, München 2023. 304 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main