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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.1995

Engel sind kein Federvieh
Gut katholisch, gut modern: Gerhard Ludwig Müllers Dogmatik auf millimetergenauem Mittelkurs

Nie zuvor habe ich eine theologische "Dogmatik" besessen oder gar durchgelesen, da mich stets dunkle Ahnungen erfüllten über zweitausend Jahre Ballast, mißbräuchliche Vereinnahmung der Bibel und Alleswisserei dort, wo man nichts wissen kann. Nach der Lektüre der "Katholischen Dogmatik" des Münchner Kollegen Gerhard Ludwig Müller, Jahrgang 1947, sind diese Zweifel zwar nicht gänzlich ausgeräumt, doch habe ich eingesehen, daß Dogmatiker arme Menschen sind wie wir alle, mit denen man unbedingt reden muß und von denen man vieles lernen kann. Schon dies allein ist lobens- und wirklich bewundernswert: Dogmatik in einem Band und auf 814 Seiten zu treiben. Denn die Geschwister und Cousinen dieses Buches sind alle mehrbändig: bei den Katholiken die menschenfreundliche Dogmatik von Michael Schmaus (seit 1937), die konzilsnahe namens "Mysterium Salutis" (seit 1965), die modern gestylte von Peter Eicher (seit 1988); bei den Protestanten die grundstürzend erschlagende von Karl Barth (seit 1932), die repräsentative von Gerhard Ebeling (1982) oder die spekulativ ingeniöse von Wolfhart Pannenberg (seit 1988).

Wodurch unterscheidet sich dieses Buch von ihnen? Man kann es wirklich durchlesen und verstehen, ohne sich überfressen zu müssen. Der Untertitel sagt es: "Für Studium und Praxis der Theologie". Einerseits bietet es wissenschaftliche Theologie, dies etwa im Unterschied zum katholischen Weltkatechismus, der eben "Lehre" sein mußte und wollte. Und dabei kommen auch Protestanten gehörig zu Wort; sie haben hier einen festen Platz in der Dogmengeschichte erhalten, man denke nur an die verständnisvolle Darstellung von Luthers Rechtfertigungslehre.

Andererseits ist der Autor von einer bemerkenswerten Bescheidenheit. Er betreibt nicht "seine" Dogmatik, sondern liefert ein getreues Spiegelbild der gegenwärtigen Diskussion, vorsichtig, ausgleichend, wie der Konstrukteur eines Mobiles, er ist weder ein kantiges Original noch ein blitzschneller Anpasser. Das ist der bestimmende Eindruck des Buches: Dogmatik wird hier wie ein Hirtenamt ausgeübt, eben wie ein Bischof eine große moderne Diözese leiten müßte. Bis hin zur Selbstverleugnung tritt der Autor keinem auf die Füße, hält millimetergenau den Mittelkurs zwischen Bibel, Thomas von Aquin und Karl Rahner, und öfter, als man denken möchte, gelingt das Manöver auch. Denn der Verfasser weiß offensichtlich, wie kostbar das Gut der Einheit in einer vom Auseinanderfallen bedrohten Kirche ist. Man kann also, wenn man will, mit diesem Buch einigermaßen gelehrt, gut katholisch und modern sein. Natürlich ist der Grat schmal zwischen gelungenem diplomatischem Mittelkurs und Eiertanz. Aber wer wüßte es besser zu machen, besonders angesichts der drohenden, allzu rechtgläubigen Beutegeier? Und angesichts des total verunsicherten Publikums, dem man etwa in den kirchlichen Akademien begegnet, an denen niemand mehr weiß, wo der Hase hinläuft, wird hier wenigstens noch ein lebender Hase präsentiert.

Lieblingswörter dieser Dogmatik sind "personal-dialogisch", "trinitarisch", "kommunikativ", "ekklesialer Kontext" und Substantiva mit "Selbst-" (Selbstgabe, -hingabe, -weggabe, -offenbarung, -zusage, -negation, -vollzug, -identifikation, -unterscheidung, -verschlossenheit, -mitteilung). Sie sind wie ein Bad aus Essenzen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, in das all die alten harten Substanzbegriffe und Rechtskategorien getaucht worden sind und das mehr oder weniger tief in sie eingedrungen ist, sie jedenfalls zumindest an der Oberfläche wie ein Film überzieht.

Leicht erweicht

Was der Personalismus als genereller Knochenerweicher des harten katholischen Kernskeletts hier bewirkt, wird besonders bei der Abendmahlslehre deutlich: Es geht um das "Erkennen" des Herrn und daß er im "Glauben personal kommunizierbar" wird. Wenn die gesamte Zukunftserwartung in allen räumlichen und zeitlichen Aussagen "von der personalen Relation zwischen Gott und Mensch" her zu deuten sein soll, so wird das der großen Anzahl nicht umdeutbarer qualitativ-dinglicher Aussagen der Bibel zu diesen Punkten wohl kaum gerecht. Warum ist dann zum Beispiel eine qualitative Verwandlung des Leibes nach dem Apostel Paulus notwendig? Und warum wird sogar Jesus selbst dinglich und substanzhaft die "Kraft Gottes", der vorchristliche Mensch gar einfachhin "Fleisch" genannt?

Das heißt: Die modern philosophische Heimholung der gesamten Tradition in einen gutgemeinten spät-idealistischen Personalismus scheitert an der grundsätzlichen Materiehaftigkeit und am kosmischen Bezug der jüdisch-christlichen Grundaussagen. So ist zum Beispiel nach der Bibel Gottes Geist durchaus materiell zu denken und nicht personhaft-immateriell im modernen Sinne. Materie und Dinge sind auch nicht vom Personalen her zu deuten, sondern sind eigenen Rechts. Ist der Tod nur ein Zuendebringen der Personalrelation des Menschen zu Gott? Hat er nicht etwas mit der geheimnisvollen Undurchdringlichkeit unseres Leibes zu tun, in der uns der verborgene Gott begegnet?

Natürlich sieht man als interessierter Leser recht bald unter den Stichworten "geboren von der Jungfrau Maria" und "auferstanden von den Toten" nach. Über das erstere erfahren wir: Es gehe um die Erkenntnis, daß die "im Glauben erkannte Wirklichkeit Jesu" "Gott selbst zum Urheber habe", nichts Dingliches also, aber doch ein Zeichen. Auch bei der Auferstehung vermeidet der Verfasser die Aussage "Das Grab war leer", nur die (Christus-) Erscheinungen seien historisch ausweisbar. Warum nur sie? Sind Erscheinungen heute leichter zu glauben als ein leeres Grab? Wie so oft in moderner Forschung werden die Engel am leeren Grab unterschlagen, als wären es Putten oder Federvieh. Dabei sind sie es doch, die die Botschaft bringen, und die Frage ist, ob Engel irren können. Ostern sei die Grunderfahrung, daß Jesus beim Vater lebe, Auferstehung habe sich "in bezug auf die Geschichte und das Sein Jesu" ereignet. Das leere Grab sei ein Zeichen, das zur "Begegnung mit dem auferstandenen Herrn" hinführe; da ist es wieder, das "Personale".

Was mithin generell fehlt, was aber der Verfasser unmöglich leisten konnte: Regeln und verläßliche erkenntnistheoretische Klarstellungen zur Übersetzung der "übernatürlichen" Aussagen der Bibel. Denn hier liegen moderne Verständnisbarrieren, und hier müht sich unser ehrlicher Autor unsäglich ab. Am meisten Geduld erfordert die Lektüre der sehr ausführlichen Abschnitte über die Dreifaltigkeit, aber auch andere Dogmatiker sagen, daß das wichtig sei, nicht zuletzt für das Gespräch mit Judentum und Islam. Übrigens fehlt im Register die Größe "Gesetz". Ist das Zufall?

Der Bescheidenheit des Verfassers verdanken wir überaus hilfreiche Übersichten zu wichtigen Zentralaussagen der Kirche, zum Beispiel zur Schöpfungslehre oder einfach eine Übersicht über die Aussagen des Konzils von Trient zur Gnadenlehre. Nützlich sind auch die in Kästchen gerahmten Zitate mit profilierten Kernaussagen, darunter auch sehr originelle wie von Hans Urs von Balthasar. Ein didaktisch gelungenes Buch daher, mit gediegenen Informationen, die stets das Wesentliche bieten, in denen moderne Theologie wirklich vorkommt, behutsam, oft mühsam in der Mitte dahinsegelnd. KLAUS BERGER

Gerhard Ludwig Müller: "Katholische Dogmatik". Für Studium und Praxis der Theologie. Herder Verlag, Freiburg/Br. 1995. 879 S., geb., 98,- DM.

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