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«... Denn ich bin kein Theologe, sondern Soziologe, aber einer, der schon früh ins Gespräch mit der Theologie geriet. Soziologische Kirchenkritik bedeutet mir zu differenzieren, Unterschiede aufzuzeigen, die Perspektiven zu wechseln, um Kirche in ihrer historischen oder sozialen Dimension, in ihrer Vielschichtigkeit oder auch Widersprüchlichkeit zu beleuchten und dem Verstehen der Beteiligten nahe zu bringen. Oder mit Karl Marx gesprochen: Was Marx in erstaunlicher Klarsicht mit Bezug auf die kapitalistische Gesellschaft gelungen ist, habe ich mit bescheidenen Mitteln und als wissenschaftliche…mehr

Produktbeschreibung
«... Denn ich bin kein Theologe, sondern Soziologe, aber einer, der schon früh ins Gespräch mit der Theologie geriet. Soziologische Kirchenkritik bedeutet mir zu differenzieren, Unterschiede aufzuzeigen, die Perspektiven zu wechseln, um Kirche in ihrer historischen oder sozialen Dimension, in ihrer Vielschichtigkeit oder auch Widersprüchlichkeit zu beleuchten und dem Verstehen der Beteiligten nahe zu bringen. Oder mit Karl Marx gesprochen: <... man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!> Was Marx in erstaunlicher Klarsicht mit Bezug auf die kapitalistische Gesellschaft gelungen ist, habe ich mit bescheidenen Mitteln und als wissenschaftliche Nebentätigkeit während meines langen akademischen Lebens mit Bezug auf die römisch-katholische Kirche versucht - meine Kirche, deren benediktinischer Tradition ich viel verdanke. Aber wie die weit verbreitete Rede von einer Kirchenkrise zeigt, muss hier etwas im Argen liegen. Tiefere Schichten der sich heute vor allem im Kontext der Missbrauchsdiskussion und der Frauenfrage manifestierenden Krise ans Licht zu bringen, das scheint mir eine wichtige Aufgabe katholischer Kirchenkritik.» (Franz-Xaver Kaufmann, Zur Einführung)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2022

Ist das Christentum zukunftsfähig?
Das Vermächtnis des Soziologen Franz-Xaver Kaufmann / Von Daniel Deckers

Wie es um die einst weltweit angesehene Religionssoziologie in Deutschland steht, lässt sich an einem einzigen Datum ablesen: In den frühen 1970er-Jahren wurde die gleichnamige Sektion der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sang- und klanglos aufgelöst. Und obwohl sie 1995 wiedergegründet wurde, spielen die wenigen Vertreter dieses Fachs hierzulande in der Fachwelt wie in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle, anders als etwa in Frankreich oder den in (wissenschaftlich) anglophonen Ländern des globalen Nordens.

Die beiden Ausnahmen sind indes unüberseh- und unüberhörbar, wenn beide der bis auf Weiteres letzten Generation angehören: Der eine, der mittlerweile 74 Jahre alte, nach wie vor in Berlin und Chicago lehrende Hans Joas, aktiviert, etwa mit wegweisenden Arbeiten über soziologische Klassiker wie Max Weber, immer wieder neu das immense Erkenntnispotential einer Beschäftigung mit dem Gestaltwandel von Religion unter den Bedingungen der Moderne. Auch der andere Soziologe steht wie wenige für das, was unter dem Begriff katholische Intellektualität lange Zeit als Widerspruch in sich galt: Franz-Xaver Kaufmann.

Dabei war dem mittlerweile 90 Jahre alten Nestor der Soziologie der historisch informierte und sozialwissenschaftlich geschärfte Blick auf das In- und Miteinander individueller Religiosität und ihren Kirche genannten Sozialformen nur insofern in die Wiege gelegt, als er in Zürich in einer katholischen Großfamilie aufwuchs.

Wie groß die wissenschaftliche Reputation des 1968 in Münster habilitierten Schelsky-Mitarbeiters war, zeigte sich schon ein Jahr später. Kaufmann, wiewohl er aus seinem Engagement in der katholischen Kirche nie ein Hehl machte, gehörte zu den Mitbegründern der Fakultät für Soziologie an der neuen Universität Bielefeld. Tatsächlich beschritt er dort - wie schon 1960 mit einer nationalökonomischen Promotion über das Phänomen der Überalterung von Gesellschaften - mit Arbeiten zur Soziologie der Familienpolitik sowie mit bis heute wegweisenden Analysen über Sozialstaat, Sozialpolitik und die Wirkungen von Sozialleistungen immer wieder wissenschaftliches Neuland - nachzulesen zuletzt in einer 2019 erschienen Aufsatzsammlung unter dem Titel "Bevölkerung - Familie - Sozialstaat".

Immer wieder aber auch ließ sich Kaufmann gewinnen, über das Verhältnis von Christentum, Moderne und Politik nachzudenken, vor allem am Beispiel "seiner" katholischen Kirche. Der jüngste, womöglich aber auch letzte Niederschlag seines jahrzehntelangen Wirkens auf diesem Feld ist eine Sammlung von Aufsätzen, die in den zurückliegenden zwanzig Jahren erschienen sind. Mehrere von ihnen sind den Lesern dieser Zeitung wohlvertraut, angefangen mit dem in seiner analytischen Schärfe unerreichten Essay "Moralische Lethargie in der Kirche", der im April 2010 unter dem Eindruck der Enthüllungen über sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche in Deutschland erschien, über einen Essay über das von Papst Benedikt XVI. aufgebrachte Paradigma "Entweltlichte Kirche" (2012) bis hin zu einer "Kritik des Klerikalismus", in der Kaufmann 2019 eine voraussetzungsreiche Lieblingsvokabel von Papst Franziskus auf ihren heuristischen Wert für eine Debatte über notwendige Reformen in der Kirche hin analysierte.

Wer indes auf wohlfeile Handlungsanweisungen aus ist, der wird von Kaufmann regelmäßig enttäuscht - und zum Ausgleich mit Perspektiven belohnt, die weit über Reformdebatten wie die des aus soziologischer Perspektive eher im Blindflug operierenden "Synodalen Wegs" hinausweisen. Denn gleich, ob es um den "europäischen Sonderweg der Religion" geht, unter dem Titel "Zur Soziologie der Sünde" über den Umgang mit Schuld in der Kirche oder um die Frage "Ist das Christentum zukunftsfähig?" - als teilnehmendem Beobachter gelingen Kaufmann dank eines genuin soziologischen Blicks "dichte Erzählungen" (Clifford Geertz), die alles andere sind als ein Abgesang auf die Möglichkeit, die Potentiale des Christentums unter den Bedingungen der Moderne immer wieder neu zu aktivieren.

Jede einzelne von ihnen lässt die Kirchen als ein lebendiges kulturelles System erscheinen, deren Geschichte auch nach weltlichen Maßstäben als prinzipiell unabgeschlossen gelten muss. Für Kirchen in Deutschland ist dies jedoch nur ein schwacher Trost. Ihnen stellt Kaufmann die paradoxe Diagnose, "dass deren institutionelle Integrität staatskirchenrechtlich hochgradig abgesichert ist, dass aber gerade die massive, vor allem durch Recht und Geld gesteuerte Institutionalität den religiösen Bedürfnissen ihrer Angehörigen zunehmend zuwiderläuft". Doch der Katholik Kaufmann wäre kein Soziologe (oder der Soziologe Kaufmann kein Katholik?) wenn er nicht mit einem wegweisenden Hinweis dienen könnte. Es ist der auf die Entscheidungstheorie des britischen Ökonomen George L.S. Shackle. Demnach sei "das einzige, was ein Akteur mit hohen Ungewissheitspotenzialen sicher wissen kann, sich auf seine eigenen Ressourcen und auf seine Handlungsstrategien bezieht". Wohlan.

Franz-Xaver Kaufmann, Katholische Kirchenkritik Edition Exodus, Luzern 2022, 198 S., 20,- Euro.

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