Bis heute ist Katyn der Inbegriff für eine offene Wunde des polnischen Volkes. Im Frühjahr 1940 wurden fast 25 000 polnische Offiziere in sowjetischer Gefangenschaft erschossen. 1942/43 entdeckte man in Katyn Massengräber. Der Name des Ortes ist Synonym für politischen Massenmord und dessen Instrumentalisierung durch Nazideutschland wie die Sowjetunion. Der Historiker Kaiser wertet unbekannte Dokumente aus: Befehle, Aufzeichnungen von Opfern, Gutachten von Experten. Hintermänner in Politik und Militär werden erstmals genannt.
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Detailliert beschreibt der Autor die Deportation von etwa 15000 polnischen Offizieren in drei sowjewtische Lager, die dortigen Lebensbedingungen und die Exekutionen in Katyn im Frühjahr 1940. Nicht nur die Opfer, sondern auch die Verantwortlichen für die Morde nimmt er in den Blick. (Berliner Zeitung, 10.06.02)
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dem vorliegenden Buch kommt den Informationen von Rezensent Helmut Altrichter das Verdienst zu, die Ergebnisse der russischen und polnischen Forschungen zu den Morden von Katyn zusammengefasst und den deutschen Lesern zugänglich gemacht zu haben. Lange war die Erschießung von mehr als 4000 polnischen Beamten, Offizieren und Gutsbesitzern im Jahr 1940 der deutschen Wehrmacht angelastet worden, bis sich die sowjetische Führung im Zuge der Perestrojka Ende der 80er Jahre dazu durchgerungen habe, Katyn als "eines der schwersten Verbrechen des Stalinismus" einzugestehen. Kaisers Buch fasst Altrichter zufolge Forschungsergebnisse zusammen, die in den 90er Jahre auch die schrecklichen Einzelheiten der Tat zutage gefördert hätten. Auch Schlüsseldokumente zum Fall seien für diesen Band in Deutsche übertragen worden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2003Im Wald von Katyn 1940
Aufbereitet für den deutschen Leser: Ergebnisse der polnischen und russischen Forschungen
Gerd Kaiser: Katyn. Das Staatsverbrechen - das Staatsgeheimnis. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2002. 476 Seiten, 12,- [Euro].
Mit der neuen "Offenheit" könne über alles gesprochen werden - nur nicht über die Geschichte. So hatte Gorbatschow im Juni 1986 im Gespräch mit einer Gruppe sowjetischer Schriftsteller gewarnt: Wenn man beginne, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, werde man alle Reformenergie einbüßen, das wäre, "wie wenn man den Leuten auf den Kopf schlägt". Dann ließ sich, wie Gorbatschow wußte oder ahnte, das retuschierte Bild, das die Partei von der Revolution und dem Bürgerkrieg, der Kollektivierung und forcierten Industrialisierung, ja selbst vom Großen Vaterländischen Krieg und vom Aufstieg zur Weltmacht gezeichnet hatte, nicht länger halten, weil die terroristischen Mittel, die katastrophalen Begleiterscheinungen und die schrecklichen Folgen der bolschewistischen Politik sichtbar würden. Dann bliebe nicht mehr viel vom Glauben daran, daß man auf den zurückgelegten Weg "stolz" sein könne, daß er "ohne Alternative" gewesen wäre, wie Gorbatschow selbst immer wieder versicherte. Mit diesem Glauben würde die Partei Stück für Stück ihre Legitimationsbasis verlieren und als Hauptverantwortliche für den eingeschlagenen Weg in den Terror, den Hunger und die Katastrophen dastehen.
Auf Dauer ließ sich diese Geschichtsdebatte nicht vermeiden, ohne die eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen - weder im Innern, mit den zu erwartenden Folgen, noch nach außen, im Verhältnis zu den westlichen Nachbarn. Das mußte auch Gorbatschow einsehen. Noch brisanter als die Fragen nach den Umständen des Einmarsches in die Tschechoslowakei 1968 und der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn 1956 waren dabei die Fragen nach der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, nach der Rolle der Sowjetunion im Pakt mit Hitler und dessen langfristigen Folgen. Immer weniger verfingen dabei die alten Formeln, mit denen die sowjetische Führung die Existenz der geheimen Absprachen, in denen Hitler und Stalin Osteuropa unter sich aufgeteilt hatten, jahrzehntelang geleugnet hatte (boten diese Lügen doch die Grundlage für die sowjetische Annexion Ostpolens, Bessarabiens, der nördlichen Bukowina und der baltischen Staaten). Und in Polen verlangte man die abschließende Klärung des Schicksals jener 15000 polnischen Offiziere, die beim sowjetischen Einmarsch in Ostpolen 1939 in sowjetische Gefangenschaft geraten waren und von denen viele 1943 in einem Massengrab bei Smolensk, im Wald von Katyn, entdeckt worden waren. Für dieses Verbrechen suchte die sowjetische Führung bis Ende der achtziger Jahre die deutsche Seite verantwortlich zu machen.
Kaum daß im Februar 1987 Gorbatschow dem Druck nachgegeben und selbst die Parole von der Beseitigung der "weißen Flecken" in der Geschichte ausgegeben hatte, war im April 1987 auch eine sowjetisch-polnische Historikerkommission eingesetzt worden, die die Umstände von Katyn aufklären sollte. Obwohl für die polnische Seite rasch einsichtig war, daß sich die bisherige sowjetische Version nicht länger halten ließ, dauerte es noch drei Jahre, bevor sich die sowjetische Führung dazu durchrang, Katyn als eines "der schwersten Verbrechen des Stalinismus" einzugestehen.
Schreckliche Einzelheiten
Die schrecklichen Einzelheiten brachten weitere Forschungen polnischer und russischer Historiker in den neunziger Jahren zutage. Sie fanden in mehreren Dokumentenbänden (in polnischer und russischer Sprache) ihren Niederschlag. Sie belegen, daß beim Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen etwa 250000 polnische Soldaten und Offiziere in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten. Berufs- und Reserveoffiziere - darunter viele Professoren, Lehrer, Ärzte, Juristen, Publizisten und Unternehmer -, Polizeiangehörige und höhere Staatsbeamte wurden von den Mannschaften getrennt und in drei Sonderlagern konzentriert: in einem ehemaligen Kloster bei Kosjelsk (250 Kilometer südöstlich von Smolensk), in Starobjelsk (einem ehemaligen Frauenkloster, südostlich von Charkow) und in einem Kloster bei Ostschkow (im Gebiet von Kalinin, dem früheren Twer).
Es war nicht eine wild gewordene Instanz des Militärs oder der Geheimpolizei, sondern das höchste Führungsgremium der Sowjetunion, das Politbüro der Kommunistischen Partei, das am 5. März 1940 auf Vorschlag des Volkskommissars des Inneren (Berija) beschloß, das Verfahren gegen die "14700 in Kriegsgefangenenlagern befindlichen ehemaligen polnischen Offiziere, Beamte, Gutsbesitzer, Polizisten, Gendarme, Ostsiedler und Gefängnisaufseher" sowie gegen "11000 in Gefängnissen der ukrainischen und weißrussischen Westgebiete einsitzende Mitglieder verschiedener konterrevolutionärer und Diversanten-Organisationen, ehemalige Gutbesitzer, Fabrikanten, ehemalige polnische Offiziere, Beamte und Fahnenflüchtige" unter Anwendung der Höchststrafe (Erschießung) zu entscheiden, und zwar in einem Sonderverfahren, ohne die Arretierten vorzuladen oder auch nur über die Anklageerhebung zu informieren. Unter der Vorgabe der Verlegung begannen die Transporte aus den Lagern. Doch nur wenige Lagerinsassen wurden wirklich in andere Lager verlegt. Die meisten wurden den regionalen NKWD-Behörden zur Liquidierung überstellt, den NKWD-Behörden von Smolensk, Charkow und Kalinin. Für über 4000 Insassen des Lagers Kosjelsk endete der Transport im Wald von Katyn; in den neunziger Jahren wurden auch die Gräberfelder in Mednoje (bei Kalinin) und Pjatichatki (bei Charkow) freigelegt.
Die Dokumentenbände belegen eindringlich und ausführlich, wie die Kommunistische Partei versuchte, die Verbrechen in ihren Antworten auf Anfragen der in London ansässigen polnischen Exilregierung und der Alliierten zu vertuschen. Ein "Vertuschungsmittel" war die Einsetzung einer eigenen gerichtsmedizinischen Sonderkommission bei der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses; die folgenden Versuche endeten erst Anfang der neunziger Jahre. Als die Dokumentenbände dann in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts erschienen, gab es "die führende Rolle" der Partei bereits nicht mehr und die Sowjetunion war zerfallen - nicht zuletzt, weil sich die baltischen Staaten und Moldawien (hervorgegangen aus dem ehemaligen Bessarabien) von ihr losgesagt hatten; da ihre Mitgliedschaft zur Sowjetunion auf den Absprachen zwischen Hitler und Stalin beruhe, sei sie unrechtmäßig und nicht länger bindend.
Dem vorliegenden Buch von Gerd Kaiser kommt das Verdienst zu, die Ergebnisse der russischen und polnischen Forschungen zusammengefaßt und dem deutschen Leser zugänglich gemacht zu haben, wozu auch die Übertragung von Schlüsseldokumenten ins Deutsche gehört.
HELMUT ALTRICHTER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aufbereitet für den deutschen Leser: Ergebnisse der polnischen und russischen Forschungen
Gerd Kaiser: Katyn. Das Staatsverbrechen - das Staatsgeheimnis. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2002. 476 Seiten, 12,- [Euro].
Mit der neuen "Offenheit" könne über alles gesprochen werden - nur nicht über die Geschichte. So hatte Gorbatschow im Juni 1986 im Gespräch mit einer Gruppe sowjetischer Schriftsteller gewarnt: Wenn man beginne, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, werde man alle Reformenergie einbüßen, das wäre, "wie wenn man den Leuten auf den Kopf schlägt". Dann ließ sich, wie Gorbatschow wußte oder ahnte, das retuschierte Bild, das die Partei von der Revolution und dem Bürgerkrieg, der Kollektivierung und forcierten Industrialisierung, ja selbst vom Großen Vaterländischen Krieg und vom Aufstieg zur Weltmacht gezeichnet hatte, nicht länger halten, weil die terroristischen Mittel, die katastrophalen Begleiterscheinungen und die schrecklichen Folgen der bolschewistischen Politik sichtbar würden. Dann bliebe nicht mehr viel vom Glauben daran, daß man auf den zurückgelegten Weg "stolz" sein könne, daß er "ohne Alternative" gewesen wäre, wie Gorbatschow selbst immer wieder versicherte. Mit diesem Glauben würde die Partei Stück für Stück ihre Legitimationsbasis verlieren und als Hauptverantwortliche für den eingeschlagenen Weg in den Terror, den Hunger und die Katastrophen dastehen.
Auf Dauer ließ sich diese Geschichtsdebatte nicht vermeiden, ohne die eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen - weder im Innern, mit den zu erwartenden Folgen, noch nach außen, im Verhältnis zu den westlichen Nachbarn. Das mußte auch Gorbatschow einsehen. Noch brisanter als die Fragen nach den Umständen des Einmarsches in die Tschechoslowakei 1968 und der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn 1956 waren dabei die Fragen nach der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, nach der Rolle der Sowjetunion im Pakt mit Hitler und dessen langfristigen Folgen. Immer weniger verfingen dabei die alten Formeln, mit denen die sowjetische Führung die Existenz der geheimen Absprachen, in denen Hitler und Stalin Osteuropa unter sich aufgeteilt hatten, jahrzehntelang geleugnet hatte (boten diese Lügen doch die Grundlage für die sowjetische Annexion Ostpolens, Bessarabiens, der nördlichen Bukowina und der baltischen Staaten). Und in Polen verlangte man die abschließende Klärung des Schicksals jener 15000 polnischen Offiziere, die beim sowjetischen Einmarsch in Ostpolen 1939 in sowjetische Gefangenschaft geraten waren und von denen viele 1943 in einem Massengrab bei Smolensk, im Wald von Katyn, entdeckt worden waren. Für dieses Verbrechen suchte die sowjetische Führung bis Ende der achtziger Jahre die deutsche Seite verantwortlich zu machen.
Kaum daß im Februar 1987 Gorbatschow dem Druck nachgegeben und selbst die Parole von der Beseitigung der "weißen Flecken" in der Geschichte ausgegeben hatte, war im April 1987 auch eine sowjetisch-polnische Historikerkommission eingesetzt worden, die die Umstände von Katyn aufklären sollte. Obwohl für die polnische Seite rasch einsichtig war, daß sich die bisherige sowjetische Version nicht länger halten ließ, dauerte es noch drei Jahre, bevor sich die sowjetische Führung dazu durchrang, Katyn als eines "der schwersten Verbrechen des Stalinismus" einzugestehen.
Schreckliche Einzelheiten
Die schrecklichen Einzelheiten brachten weitere Forschungen polnischer und russischer Historiker in den neunziger Jahren zutage. Sie fanden in mehreren Dokumentenbänden (in polnischer und russischer Sprache) ihren Niederschlag. Sie belegen, daß beim Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen etwa 250000 polnische Soldaten und Offiziere in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten. Berufs- und Reserveoffiziere - darunter viele Professoren, Lehrer, Ärzte, Juristen, Publizisten und Unternehmer -, Polizeiangehörige und höhere Staatsbeamte wurden von den Mannschaften getrennt und in drei Sonderlagern konzentriert: in einem ehemaligen Kloster bei Kosjelsk (250 Kilometer südöstlich von Smolensk), in Starobjelsk (einem ehemaligen Frauenkloster, südostlich von Charkow) und in einem Kloster bei Ostschkow (im Gebiet von Kalinin, dem früheren Twer).
Es war nicht eine wild gewordene Instanz des Militärs oder der Geheimpolizei, sondern das höchste Führungsgremium der Sowjetunion, das Politbüro der Kommunistischen Partei, das am 5. März 1940 auf Vorschlag des Volkskommissars des Inneren (Berija) beschloß, das Verfahren gegen die "14700 in Kriegsgefangenenlagern befindlichen ehemaligen polnischen Offiziere, Beamte, Gutsbesitzer, Polizisten, Gendarme, Ostsiedler und Gefängnisaufseher" sowie gegen "11000 in Gefängnissen der ukrainischen und weißrussischen Westgebiete einsitzende Mitglieder verschiedener konterrevolutionärer und Diversanten-Organisationen, ehemalige Gutbesitzer, Fabrikanten, ehemalige polnische Offiziere, Beamte und Fahnenflüchtige" unter Anwendung der Höchststrafe (Erschießung) zu entscheiden, und zwar in einem Sonderverfahren, ohne die Arretierten vorzuladen oder auch nur über die Anklageerhebung zu informieren. Unter der Vorgabe der Verlegung begannen die Transporte aus den Lagern. Doch nur wenige Lagerinsassen wurden wirklich in andere Lager verlegt. Die meisten wurden den regionalen NKWD-Behörden zur Liquidierung überstellt, den NKWD-Behörden von Smolensk, Charkow und Kalinin. Für über 4000 Insassen des Lagers Kosjelsk endete der Transport im Wald von Katyn; in den neunziger Jahren wurden auch die Gräberfelder in Mednoje (bei Kalinin) und Pjatichatki (bei Charkow) freigelegt.
Die Dokumentenbände belegen eindringlich und ausführlich, wie die Kommunistische Partei versuchte, die Verbrechen in ihren Antworten auf Anfragen der in London ansässigen polnischen Exilregierung und der Alliierten zu vertuschen. Ein "Vertuschungsmittel" war die Einsetzung einer eigenen gerichtsmedizinischen Sonderkommission bei der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses; die folgenden Versuche endeten erst Anfang der neunziger Jahre. Als die Dokumentenbände dann in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts erschienen, gab es "die führende Rolle" der Partei bereits nicht mehr und die Sowjetunion war zerfallen - nicht zuletzt, weil sich die baltischen Staaten und Moldawien (hervorgegangen aus dem ehemaligen Bessarabien) von ihr losgesagt hatten; da ihre Mitgliedschaft zur Sowjetunion auf den Absprachen zwischen Hitler und Stalin beruhe, sei sie unrechtmäßig und nicht länger bindend.
Dem vorliegenden Buch von Gerd Kaiser kommt das Verdienst zu, die Ergebnisse der russischen und polnischen Forschungen zusammengefaßt und dem deutschen Leser zugänglich gemacht zu haben, wozu auch die Übertragung von Schlüsseldokumenten ins Deutsche gehört.
HELMUT ALTRICHTER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Dem vorliegenden Buch kommt das Verdienst zu,, die Ergebnisse der russischen und polnischen Forschungen zusammengefasst und dem deutschen Leser zugänglich gemacht zu haben, wozu auch die Übertragung von Schlüsseldokumenten ins Deutsche gehört.« Frankfurter Allgemeine Zeitung 20030612