Paulus Hochgatterer, Schriftsteller und Kinderpsychiater, über seine "Poetik der Kindheit" - und die Notwendigkeit zu schreiben. Seit vielen Jahren teilt Hochgatterer seine Zeit zwischen seiner Tätigkeit in einem Krankenhaus in Österreich und seiner Arbeit als Schriftsteller. Aus diesen zwei Seiten seines Lebens entstehen ganz besondere Texte. In den hier erstmals gesammelten Texten über Literatur erzählt er, was ihn zum Schreiben treibt: die Lust am Verbotenen, die Identifikation mit seinen Klienten, die Freude am Abschweifen, die Zwiesprache mit seinen Katzen ... und die Erkenntnis, dass wir immer von uns selbst sprechen, wenn wir von den Dingen sprechen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.07.2012Erzählst du mir etwas?
Vom Bedürfnis der Kinder nach Geschichten: Der Band "Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe" vereint die eindrucksvollen Poetikvorlesungen von Paulus Hochgatterer.
Zum Beispiel Katharina: Als das sieben Jahre alte Mädchen seinen ermordeten Großvater im Schnee findet, raubt ihr der Anblick der grausam zugerichteten Leiche die Sprache. Oder Hans: Der Junge ist vielleicht zwei Jahre älter als Katharina und so schlecht in der Schule, dass die genervte Lehrerin anfängt, ihn vor den anderen lächerlich zu machen. Nachdem sie seine mit roten Korrekturen übersäten Schulhefte in den Schaukasten stellt, ist auch von Hans fortan kein Wort mehr zu hören.
Katharina ist fiktiv, sie ist eine Figur aus Paulus Hochgatterers Roman "Die Süße des Lebens" (2006). Hans dagegen ist real, er war einst ein Mitschüler des Autors in der Volksschule; von ihm erzählt Hochgatterer in der zweiten seiner Zürcher Poetikvorlesungen. Es sind Kinder, die verstummt sind oder die sich nur noch durch Schreien zu helfen wissen, denen sich Paulus Hochgatterer, 1961 im niederösterreichischen Amstetten geboren, widmet - als renommierter Kinder- und Jugendpsychiater wie als Romanautor.
Er setzt in dieser Doppelrolle die ebenso traditions- wie spannungsreiche Allianz zwischen Medizin und Literatur fort, man denke nur an Namen wie Schnitzler, Tschechow oder Benn. Statt auf die Literaturgeschichte beruft sich Hochgatterer allerdings lieber auf seine Katze, die ihn gelehrt habe, dass man im Leben "bequem zwei sein kann". Vor allem aber sei es eine "narrative Notwendigkeit", der sein Werk folge: "Ein Kind verstummt, und es ist, genaugenommen, nicht so, dass die Sprache und die Erzählung aus ihm entfernt werden, paranoid abgesaugt, herausgeprügelt oder herausgefickt; sie werden vielmehr in Schachteln gepackt, verschnürt, versiegelt und in einem der hinteren cerebralen Archivräume abgelegt. Dort sind sie dann nur mittels spezieller Expertenmethoden zugänglich, therapeutisch oder literarisch."
Hochgatterers Zürcher Poetikvorlesungen aus dem Jahr 2010 sind jetzt zusammen mit einigen Gelegenheitsschriften erschienen, darunter eine Laudatio auf Per Olov Enquist sowie ein wunderbar humorvoller Vortrag über Sexualmetaphorik in der Kinderliteratur. Der Band ist ein Zeichen dafür, dass der Autor den Geheimtippstatus hinter sich gelassen hat - nach so beeindruckenden Werken wie zuletzt "Die Süße des Lebens" oder "Das Matratzenhaus" (2010), beides als Krimis getarnte Romane, die den Leser in ein Panoptikum verstörter Seelen in einer fiktiven österreichischen Kleinstadt stürzen. Zwar schöpft Hochgatterers Poetik, wie etliche Überschneidungen in den gesammelten Texten zeigen, aus einem schmalen Fundus an gedanklichen Bausteinen wie der körperlichen Fundierung von Metaphern und biographischen Beispielen, etwa jenes vom Mitschüler Hans. Doch diese Elemente haben es in sich.
Es sind vor allem die "poetologischen Grundfiguren", eine Abfolge von Urszenen entlang der normalen wie auch gestörten kindlichen Sprach- und Denkentwicklung, die beeindrucken: "Ein Kind erzählt" oder "Ein Kind liest" gehören ebenso darunter wie "Ein Kind verstummt" oder "Ein Kind schreit". Schreiende Kinder, so Hochgatterer, haben noch etwas zu verlieren, wehren sich - wie jenes namenlose siebenjährige Mädchen, von dem es im Dorf hieß, dass es Sand fresse, weshalb die Kinder, darunter auch der kleine Paulus, es eines Tages umzingelten und mit ihren Spielzeuggewehren bedrohten: Ihr darauf folgendes Schreien muss Hochgatterer heute noch in den Ohren gellen, so intensiv erzählt er diese Erinnerung. Wohl auch deshalb kommt der Autor immer wieder auf den Film "Krieg der Knöpfe" zu sprechen, in dem Kinder ihre Konflikte auf liebenswert symbolisch-metaphorische Weise lösen statt mit Gewalt.
Für Hochgatterer hängt eine "gesunde" Kindesentwicklung davon ab, ob das natürliche Bedürfnis zu erzählen geweckt und gefördert wird. Längst habe die Säuglingsforschung gezeigt, dass schon das Kleinkind durch Mimik und Gestik den Eltern die alles entscheidende Frage stellt: "Erzählst du mir etwas?" Der gesellschaftliche Trend geht freilich in eine andere Richtung: Heutige Erwachsene, so Hochgatterer, sind oft überfordert; der kindliche Körper werde da rasch zum "Projektionsfeld für Reaktionen auf Weltentfremdung" und in der Folge zum "Schlachtfeld": Die einen werden mit Medikamenten ruhiggestellt, die anderen schon im Kindergarten durch Fördermaßnahmen auf Höchstleistung getrimmt. Dabei hätten Eltern wie Pädagogen im Umgang mit Kindern nur eine, allerdings schwierige Aufgabe zu bewältigen: sich selbst überflüssig zu machen.
OLIVER PFOHLMANN
Paulus Hochgatterer: "Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe". Eine Poetik der Kindheit.
Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012. 208 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Bedürfnis der Kinder nach Geschichten: Der Band "Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe" vereint die eindrucksvollen Poetikvorlesungen von Paulus Hochgatterer.
Zum Beispiel Katharina: Als das sieben Jahre alte Mädchen seinen ermordeten Großvater im Schnee findet, raubt ihr der Anblick der grausam zugerichteten Leiche die Sprache. Oder Hans: Der Junge ist vielleicht zwei Jahre älter als Katharina und so schlecht in der Schule, dass die genervte Lehrerin anfängt, ihn vor den anderen lächerlich zu machen. Nachdem sie seine mit roten Korrekturen übersäten Schulhefte in den Schaukasten stellt, ist auch von Hans fortan kein Wort mehr zu hören.
Katharina ist fiktiv, sie ist eine Figur aus Paulus Hochgatterers Roman "Die Süße des Lebens" (2006). Hans dagegen ist real, er war einst ein Mitschüler des Autors in der Volksschule; von ihm erzählt Hochgatterer in der zweiten seiner Zürcher Poetikvorlesungen. Es sind Kinder, die verstummt sind oder die sich nur noch durch Schreien zu helfen wissen, denen sich Paulus Hochgatterer, 1961 im niederösterreichischen Amstetten geboren, widmet - als renommierter Kinder- und Jugendpsychiater wie als Romanautor.
Er setzt in dieser Doppelrolle die ebenso traditions- wie spannungsreiche Allianz zwischen Medizin und Literatur fort, man denke nur an Namen wie Schnitzler, Tschechow oder Benn. Statt auf die Literaturgeschichte beruft sich Hochgatterer allerdings lieber auf seine Katze, die ihn gelehrt habe, dass man im Leben "bequem zwei sein kann". Vor allem aber sei es eine "narrative Notwendigkeit", der sein Werk folge: "Ein Kind verstummt, und es ist, genaugenommen, nicht so, dass die Sprache und die Erzählung aus ihm entfernt werden, paranoid abgesaugt, herausgeprügelt oder herausgefickt; sie werden vielmehr in Schachteln gepackt, verschnürt, versiegelt und in einem der hinteren cerebralen Archivräume abgelegt. Dort sind sie dann nur mittels spezieller Expertenmethoden zugänglich, therapeutisch oder literarisch."
Hochgatterers Zürcher Poetikvorlesungen aus dem Jahr 2010 sind jetzt zusammen mit einigen Gelegenheitsschriften erschienen, darunter eine Laudatio auf Per Olov Enquist sowie ein wunderbar humorvoller Vortrag über Sexualmetaphorik in der Kinderliteratur. Der Band ist ein Zeichen dafür, dass der Autor den Geheimtippstatus hinter sich gelassen hat - nach so beeindruckenden Werken wie zuletzt "Die Süße des Lebens" oder "Das Matratzenhaus" (2010), beides als Krimis getarnte Romane, die den Leser in ein Panoptikum verstörter Seelen in einer fiktiven österreichischen Kleinstadt stürzen. Zwar schöpft Hochgatterers Poetik, wie etliche Überschneidungen in den gesammelten Texten zeigen, aus einem schmalen Fundus an gedanklichen Bausteinen wie der körperlichen Fundierung von Metaphern und biographischen Beispielen, etwa jenes vom Mitschüler Hans. Doch diese Elemente haben es in sich.
Es sind vor allem die "poetologischen Grundfiguren", eine Abfolge von Urszenen entlang der normalen wie auch gestörten kindlichen Sprach- und Denkentwicklung, die beeindrucken: "Ein Kind erzählt" oder "Ein Kind liest" gehören ebenso darunter wie "Ein Kind verstummt" oder "Ein Kind schreit". Schreiende Kinder, so Hochgatterer, haben noch etwas zu verlieren, wehren sich - wie jenes namenlose siebenjährige Mädchen, von dem es im Dorf hieß, dass es Sand fresse, weshalb die Kinder, darunter auch der kleine Paulus, es eines Tages umzingelten und mit ihren Spielzeuggewehren bedrohten: Ihr darauf folgendes Schreien muss Hochgatterer heute noch in den Ohren gellen, so intensiv erzählt er diese Erinnerung. Wohl auch deshalb kommt der Autor immer wieder auf den Film "Krieg der Knöpfe" zu sprechen, in dem Kinder ihre Konflikte auf liebenswert symbolisch-metaphorische Weise lösen statt mit Gewalt.
Für Hochgatterer hängt eine "gesunde" Kindesentwicklung davon ab, ob das natürliche Bedürfnis zu erzählen geweckt und gefördert wird. Längst habe die Säuglingsforschung gezeigt, dass schon das Kleinkind durch Mimik und Gestik den Eltern die alles entscheidende Frage stellt: "Erzählst du mir etwas?" Der gesellschaftliche Trend geht freilich in eine andere Richtung: Heutige Erwachsene, so Hochgatterer, sind oft überfordert; der kindliche Körper werde da rasch zum "Projektionsfeld für Reaktionen auf Weltentfremdung" und in der Folge zum "Schlachtfeld": Die einen werden mit Medikamenten ruhiggestellt, die anderen schon im Kindergarten durch Fördermaßnahmen auf Höchstleistung getrimmt. Dabei hätten Eltern wie Pädagogen im Umgang mit Kindern nur eine, allerdings schwierige Aufgabe zu bewältigen: sich selbst überflüssig zu machen.
OLIVER PFOHLMANN
Paulus Hochgatterer: "Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe". Eine Poetik der Kindheit.
Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012. 208 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die drei Poetikvorlesungen, die der Wiener Jugendpsychiater und Schriftsteller Paulus Hochgatterer 2010 im Zürcher Literaturhaus gehalten hat, sind nun unter dem Titel "Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe" als Buch erschienen. Oliver Pfohlmann freut sich, dass der Autor mit diesem Band den Geheimtippstatus hinter sich gelassen haben dürfte. Immerhin sieht der Rezensent in Hochgatterer die "spannungsreiche Allianz zwischen Medizin und Literatur" - er denkt an Schnitzler, Tschechow und Benn - fortgeführt. Die Vorlesungen handeln von der Notwendigkeit des Erzählens für die Kindesentwicklung, ein, wie der Rezensent findet, so wichtiges wie aktuelles Thema. Ergänzt werden sie durch verschiedene Gelegenheitsschriften Hochgatters, darunter ein "wundervoll humorvoller Vortrag über Sexualmetaphorik in der Kinderliteratur".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Paulus Hochgatterers Betrachtungen über die schöne Kunst des Schreibens sind kurzweilige Erzählungen, gespickt mit Anekdoten und Erinnerungen an die eigene Kindheit." Kristina Pfoser, Ö1, 01.02.2012
"Neidlos muss man anerkennen: Paulus Hochgatterer ist offenbar nicht nur ein toller Schriftsteller, sondern auch ein hervorragender Redner." Wolfgang Huber-Lang, APA, 08.02.2012
"Der Band ist weit mehr als eine Sammlung von Gelegenheitsschriften. Alle Texte balancieren an der Grenze von Essays und Erzählung - und sind damit selbst ein Stück Literatur." Cornelius Hell, Die Presse, 03.03.2012
"Der Österreicher kann erzählen, und wie er das kann! Er schwärmt, er liebt, er lamentiert, er greift an, ohne eine Spur von Langweilertum. ... Seine Essays über die Kindheit sind ein Riesenglück, denn sie sind verdammt lustig, verdammt ernst und verdammt schmerzhaft." Martin Becker, WDR2 Passagen, 27.03.2012
"Neidlos muss man anerkennen: Paulus Hochgatterer ist offenbar nicht nur ein toller Schriftsteller, sondern auch ein hervorragender Redner." Wolfgang Huber-Lang, APA, 08.02.2012
"Der Band ist weit mehr als eine Sammlung von Gelegenheitsschriften. Alle Texte balancieren an der Grenze von Essays und Erzählung - und sind damit selbst ein Stück Literatur." Cornelius Hell, Die Presse, 03.03.2012
"Der Österreicher kann erzählen, und wie er das kann! Er schwärmt, er liebt, er lamentiert, er greift an, ohne eine Spur von Langweilertum. ... Seine Essays über die Kindheit sind ein Riesenglück, denn sie sind verdammt lustig, verdammt ernst und verdammt schmerzhaft." Martin Becker, WDR2 Passagen, 27.03.2012