Die literarische Wiederentdeckung eines legendären Lebens
Baku um 1900: Als Tochter eines Ölbarons wächst Banine in einer Welt voller Widersprüche auf. Die Großmutter: eine muslimische Matriarchin. Das Kindermädchen: eine engelsgleiche Deutsche. Heimlich liest sich Banine durch die Bibliothek ihrer Tante, während der Rest der Verwandtschaft kettenrauchend Poker spielt oder mit dem Mercedes über die einzige Allee Bakus rollt. Mit der Oktoberrevolution bricht diese Welt zusammen und Banine verliebt sich zum ersten Mal - ausgerechnet in den Bolschewiken, der ihre Familie enteignen soll. Doch um ihrem Vater die Flucht zu ermöglichen, heiratet Banine mit 15 Jahren einen Mann, den sie inbrünstig hasst. Am Ende flüchtet sie selbst in ein neues Leben: mit dem Orientexpress nach Paris.
Baku um 1900: Als Tochter eines Ölbarons wächst Banine in einer Welt voller Widersprüche auf. Die Großmutter: eine muslimische Matriarchin. Das Kindermädchen: eine engelsgleiche Deutsche. Heimlich liest sich Banine durch die Bibliothek ihrer Tante, während der Rest der Verwandtschaft kettenrauchend Poker spielt oder mit dem Mercedes über die einzige Allee Bakus rollt. Mit der Oktoberrevolution bricht diese Welt zusammen und Banine verliebt sich zum ersten Mal - ausgerechnet in den Bolschewiken, der ihre Familie enteignen soll. Doch um ihrem Vater die Flucht zu ermöglichen, heiratet Banine mit 15 Jahren einen Mann, den sie inbrünstig hasst. Am Ende flüchtet sie selbst in ein neues Leben: mit dem Orientexpress nach Paris.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Sophie Wennerscheid weiß, dass dieser Roman bei seinem Erschienen 1949 in Deutschland ein Renner war, mit einem Vorwort von Ernst Jünger. Ob sie ihm jetzt einen ebenso großen Erfolg wünscht, ist nicht ausgemacht: Banine, eigentlich Umm-El-Banine Assadoulaeff, Tochter eines aserbaidschanischen Ölbarons, die offenbar auch zu sowjetischen Zeiten recht umstandslos zwischen Baku, Moskau und Paris reisen konnte, erzählt darin von ihren zahlreichen amourösen Abenteuern, wie Wennerscheid berichtet, die das mitunter herrlich ungezwungen findet. Das "Drauf-Pfeifen" beherrsche Banine wie die ausschweifende Fabulierlust. Weniger begeistert ist sie von der herablassenden Art, mit der Banine über die Sitten und Gebräuche ihrer aserbaidschanischen Familie erzählt. Wie sich hier eine Aufsteigerin über ihre Familie erhebt, ist ihr unangenehm.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.01.2022Blick zurück als Fremde
Jahrzehnte vor der Kritik am Orientalismus sah die Schriftstellerin Banine sich und ihre Herkunftswelt
mit den Augen des Westens und der Männer. Und suchte dann doch ihre Freiheit
VON SOPHIE WENNERSCHEID
Vor hundert Jahren, 1921, beugt sich die zu der Zeit 15-jährige Umm-El-Banine Assadoulaeff dem Druck ihres Vaters und heiratet einen 20 Jahre älteren Mann. Die Ehe wird in Baku geschlossen, der Hauptstadt Aserbaidschans. Mehr als zwei Jahrzehnte später, 1945, erscheint in Paris der literarisch verdichtete Bericht dieser Ereignisse unter dem Titel „Jours caucasiens“, geschrieben von der sich jetzt schlicht Banine nennenden Autorin. Die deutsche Erstausgabe kam 1949 mit einem Vorwort von Ernst Jünger auf den Markt und wurde begeistert aufgenommen.
Ob sich der Erfolg der „Kaukasischen Tage“ mit der jetzt vorliegenden Neuausgabe in schwungvoller Übersetzung von Bettina Bach wiederholen wird, bleibt abzuwarten. Die in leuchtenden Farben ausgemalte Geschichte der Autorin ist keine literarische Sensation, aber ein rasantes Lesevergnügen mit Reflexionsschleife.
Als jüngster Spross einer mit Ölgeschäften reich gewordenen Familie, verbringt Banine ihr Leben zwischen einer streng muslimischen Großmutter, dem westlich orientierten Vater, machistisch verzogenen Cousins, drei älteren Schwestern und dem christlichen Fräulein Anna. Der Klan der Assadoulaeffs wird von Banine als dunkel, laut, geschwätzig und vulgär beschrieben, dem Kindermädchen hingegen dichtet sie einen Heiligenschein an. Anna hat zauberhaft helle Haut, blaue Augen und blondes Haar. Außerdem bringt sie einen Weihnachtsbaum ins Haus und backt Torten, „die überquollen vor Sahne und Sentimentalität“. Die Begeisterung des Kindes für das Nordisch-Helle, die später übergeht in eine ebenso unkritische Liebe zu allem, was mit Paris zu tun hat, steht in einem scharfen Kontrast zur Welt des Orients.
Dass es der Blick der Fremden ist, der diese Sicht bestimmt, wird in dem Buch nicht reflektiert. Edward Saids bahnbrechende Studie „Orientalismus“, in der er aufzeigt, wie „der Orient“ als „das Andere des Okzidents“ konstruiert wird, erscheint erst gut 30 Jahre später. Postkoloniale Studien gibt es noch lange nicht. Aber sichtbar macht der Roman Verfahren der Projektion und Konstruktion allemal.
Es ist die westlich gebildete Amina aus Moskau, die zweite Frau des Vaters, die das Kind mit den Augen des Westens sehen lehrt. Amina „sah auf Baku herab, verabscheute die Familie und rebellierte gegen unser Dasein. Ich musste meine Werte auf den Prüfstand stellen und betrachtete Baku schließlich trotz seiner Millionäre als kleines Drecksloch, unsere Familie als ungemein barbarisch und unser Leben als durchweg jämmerlich.“
Banine schreibt aus der Position einer Frau, die es geschafft hat, der als rückständig empfundenen islamischen Welt zu entkommen. Ihre Haltung ist dezidiert antinostalgisch. Sie ergeht sich in bewussten Vereinfachungen, stellt die vom ständigen auf dem Boden Sitzen deformierten Körper der Frauen in grotesker Übertreibung aus und beschreibt die Völlerei am Ende des Ramadans als eine vor Fett triefende Kuttelorgie. Der Blick auf die Vergangenheit changiert zwischen spöttisch-warmherzig und kalt-liebevoll. Er stellt die Andersartigkeit der Anderen heraus, bleibt in seinem anekdotischen Erzählton der als orientalisch gebrandmarkten Geschwätzigkeit aber doch verhaftet.
Die Geschichte ist chronologisch aufgebaut, aber nicht stringent strukturiert. Der Autorin ist das egal. Nonchalant erklärt sie auf mögliche Vorwürfe, dass man nicht so einfach „auf gut Glück drauflosschreiben“ könne, dass sie von solchen Erwartungen nichts hält. „Na und“, erwidert sie trotzig, „soll doch komponieren, wer will, ich pfeife darauf.“
Das Drauf-Pfeifen beherrscht Banine wunderbar. Nicht nur was die Meinung der anderen zu ihrer literarischen Kunstfertigkeit angeht, sondern auch in Bezug auf sonstige Widrigkeiten des Lebens. Ob es um das problematische Verhältnis der Aserbaidschaner zu den Armeniern geht, das die Kinder im nachgestellten „armenischen Blutbad“ spielerisch auskosten, oder um den plötzlichen Verlust des enormen Familienbesitzes nach der Invasion Bakus durch die Russen im Jahr 1920, wirklich unter die Haut gehen die Ereignisse der Erzählerin nicht.
Als vorteilhaft erweist sich diese Dickhäutigkeit insbesondere da, wo es um das Verhältnis der Frauen zu ihren Männern geht. Obwohl sie ihnen juristisch und sozial unterworfen sind, geben sie nicht klein bei. Polygamie hat schließlich auch ihre Vorteile. Warum sich allein um einen Pascha kümmern müssen? Und was heißt schon kümmern? Banines älteste Schwester Leyla setzt die Scheidung durch. Sie will ihr Leben leben, und dabei gibt es nun einmal „nichts Hinderlicheres als einen Ehemann. Das wird jede Frau bestätigen können.“ Auch Cousine Gülnar, von jeher mit einer beneidenswerten Kaltschnäuzigkeit begabt, schert sich nicht um den familiären Ehrenkodex. Wie Leyla hält sie die Ehe für „eine grässliche Institution, die nur durch Ehebruch erträglich wird“.
Die Erzählung davon, wie diese frech schulterzuckende Haltung sich auf das Leben Banines auswirkt, gehört zu den köstlichsten des Romans. Banine ist 13 Jahre alt. Fast schon erwachsen. Nachdem die Russen an die Macht gekommen sind, und der Vater als Kapitalist und Klassenfeind im Gefängnis sitzt, lassen sich die beiden Schwestern mehr oder weniger bereitwillig zu Marxistinnen umschulen und geben dem Affen des Sowjet-Helden Zucker. „Für unsere Besucher waren wir ‚Gazellen mit schmachtendem Blick‘, ,Haremstöchter‘, eben erst aus der Knechtschaft befreit: die ‚kleinen Wilden‘ aus exotischen Romanen.“
Und wie es in Romanen zugeht, weiß Banine nur allzu gut. Nicht umsonst hat sie sich heimlich durch die Bibliothek ihrer Tante gelesen. Noch ehe sie ihren späteren Geliebten, Andrei Masarin, Mitglied des Revolutionären Komitees, zum ersten Mal gesehen hat, weiß sie, dass sie es mit Fürst Bolkonski, dem Held aus Tolstois „Krieg und Frieden“ zu tun hat. „Da war er, wiederauferstanden für mich, mit seiner hochmütigen Haltung, seiner nachdenklichen Miene, seinem durchdringenden, ernsten Blick – mit einem Wort, so, wie ich ihn seit jeher kannte.“
Der Wirklichkeit hält diese romanhafte Liebe natürlich nicht stand. Als Nicht-Muslim, Russe und Marxist kommt Andrei als Ehemann unter keinen Umständen in Frage. Außerdem hat Banines Vater schon längst andere Pläne. Damit er an einen Reisepass kommt, soll Banine den ihr widerwärtigen Jamil heiraten – was sie dann auch tut. Zu tief sitzen bei dem Mädchen dann doch die von Generation zu Generation weitergegebenen Werte. „Man sucht sich seinen Mann nicht aus.“
Statt mit Andrei aus der Stadt zu flüchten, schickt Banine deshalb Gülnar zu dem verabredeten Stelldichein mit Andrei, um ihm zu erklären, warum sie nicht kommen kann. Als treue Freundin nimmt Gülnar sich der Sache an. Und nutzt die Gunst der Stunde für sich selbst. Anstelle Banines flüchtet sie mit Andrei aus Baku.
Der zweite Teil des Romans, in der sich diese Episode abspielt, schwingt deutlich besser als der erste. Er nimmt seinen Witz nicht aus der zotigen Darstellung der Sippe, sondern spielt auf der Klaviatur der jungen, sexpositiven Frauen, die es hinaus in die Welt zieht.
Die verhasste Heirat mit Jamil ist für Banine nur ein bedauernswerter Umweg. Nach der Hochzeit zieht das Paar nach Tiflis und lässt es sich gut gehen. Banine gelingt es, sich Jamil vom Leibe zu halten, macht ihm klar, dass sie als Tochter aus reichem Hause zum Führen des Haushalts ohnehin nicht geeignet ist und gibt sich ihrem „Hang zum Faulenzen und Tagträumen hin“. Doch als der lange erwartete Reisepass endlich auch für Banine eintrifft – der Vater hat es dank der vorteilhaften Heirat der Tochter schon längst nach Paris geschafft – wird nicht lange gefackelt. Sie verspricht dem jammernden Ehemann, dass sie ihn nicht vergessen und ihm natürlich sofort schreiben wird, und setzt sich voller Lust auf Leben in den Orient-Express Richtung Paris. Mit im Gepäck die klugen Worte der Cousine Gülnar, die einfach immer weiß, worauf es ankommt. Von Banine ermuntert, ihre Abenteuer festzuhalten, hatte sie einst erklärt „Es ist bestimmt nicht besonders witzig, Romane zu schreiben, weißt du. Aber Romane zu erleben!“
Von Generation zu Generation
heißt es: „Man sucht sich seinen
Mann nicht aus.“
Eine Stadt, reich geworden im Ölboom, von der Autorin Banine als junger Frau dennoch abschätzig betrachtet: Baku um 1920.
Foto: mauritius images / FL Historical
Banine: Kaukasische Tage. Aus dem
Französischen von
Bettina Bach. dtv,
München 2021.
320 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jahrzehnte vor der Kritik am Orientalismus sah die Schriftstellerin Banine sich und ihre Herkunftswelt
mit den Augen des Westens und der Männer. Und suchte dann doch ihre Freiheit
VON SOPHIE WENNERSCHEID
Vor hundert Jahren, 1921, beugt sich die zu der Zeit 15-jährige Umm-El-Banine Assadoulaeff dem Druck ihres Vaters und heiratet einen 20 Jahre älteren Mann. Die Ehe wird in Baku geschlossen, der Hauptstadt Aserbaidschans. Mehr als zwei Jahrzehnte später, 1945, erscheint in Paris der literarisch verdichtete Bericht dieser Ereignisse unter dem Titel „Jours caucasiens“, geschrieben von der sich jetzt schlicht Banine nennenden Autorin. Die deutsche Erstausgabe kam 1949 mit einem Vorwort von Ernst Jünger auf den Markt und wurde begeistert aufgenommen.
Ob sich der Erfolg der „Kaukasischen Tage“ mit der jetzt vorliegenden Neuausgabe in schwungvoller Übersetzung von Bettina Bach wiederholen wird, bleibt abzuwarten. Die in leuchtenden Farben ausgemalte Geschichte der Autorin ist keine literarische Sensation, aber ein rasantes Lesevergnügen mit Reflexionsschleife.
Als jüngster Spross einer mit Ölgeschäften reich gewordenen Familie, verbringt Banine ihr Leben zwischen einer streng muslimischen Großmutter, dem westlich orientierten Vater, machistisch verzogenen Cousins, drei älteren Schwestern und dem christlichen Fräulein Anna. Der Klan der Assadoulaeffs wird von Banine als dunkel, laut, geschwätzig und vulgär beschrieben, dem Kindermädchen hingegen dichtet sie einen Heiligenschein an. Anna hat zauberhaft helle Haut, blaue Augen und blondes Haar. Außerdem bringt sie einen Weihnachtsbaum ins Haus und backt Torten, „die überquollen vor Sahne und Sentimentalität“. Die Begeisterung des Kindes für das Nordisch-Helle, die später übergeht in eine ebenso unkritische Liebe zu allem, was mit Paris zu tun hat, steht in einem scharfen Kontrast zur Welt des Orients.
Dass es der Blick der Fremden ist, der diese Sicht bestimmt, wird in dem Buch nicht reflektiert. Edward Saids bahnbrechende Studie „Orientalismus“, in der er aufzeigt, wie „der Orient“ als „das Andere des Okzidents“ konstruiert wird, erscheint erst gut 30 Jahre später. Postkoloniale Studien gibt es noch lange nicht. Aber sichtbar macht der Roman Verfahren der Projektion und Konstruktion allemal.
Es ist die westlich gebildete Amina aus Moskau, die zweite Frau des Vaters, die das Kind mit den Augen des Westens sehen lehrt. Amina „sah auf Baku herab, verabscheute die Familie und rebellierte gegen unser Dasein. Ich musste meine Werte auf den Prüfstand stellen und betrachtete Baku schließlich trotz seiner Millionäre als kleines Drecksloch, unsere Familie als ungemein barbarisch und unser Leben als durchweg jämmerlich.“
Banine schreibt aus der Position einer Frau, die es geschafft hat, der als rückständig empfundenen islamischen Welt zu entkommen. Ihre Haltung ist dezidiert antinostalgisch. Sie ergeht sich in bewussten Vereinfachungen, stellt die vom ständigen auf dem Boden Sitzen deformierten Körper der Frauen in grotesker Übertreibung aus und beschreibt die Völlerei am Ende des Ramadans als eine vor Fett triefende Kuttelorgie. Der Blick auf die Vergangenheit changiert zwischen spöttisch-warmherzig und kalt-liebevoll. Er stellt die Andersartigkeit der Anderen heraus, bleibt in seinem anekdotischen Erzählton der als orientalisch gebrandmarkten Geschwätzigkeit aber doch verhaftet.
Die Geschichte ist chronologisch aufgebaut, aber nicht stringent strukturiert. Der Autorin ist das egal. Nonchalant erklärt sie auf mögliche Vorwürfe, dass man nicht so einfach „auf gut Glück drauflosschreiben“ könne, dass sie von solchen Erwartungen nichts hält. „Na und“, erwidert sie trotzig, „soll doch komponieren, wer will, ich pfeife darauf.“
Das Drauf-Pfeifen beherrscht Banine wunderbar. Nicht nur was die Meinung der anderen zu ihrer literarischen Kunstfertigkeit angeht, sondern auch in Bezug auf sonstige Widrigkeiten des Lebens. Ob es um das problematische Verhältnis der Aserbaidschaner zu den Armeniern geht, das die Kinder im nachgestellten „armenischen Blutbad“ spielerisch auskosten, oder um den plötzlichen Verlust des enormen Familienbesitzes nach der Invasion Bakus durch die Russen im Jahr 1920, wirklich unter die Haut gehen die Ereignisse der Erzählerin nicht.
Als vorteilhaft erweist sich diese Dickhäutigkeit insbesondere da, wo es um das Verhältnis der Frauen zu ihren Männern geht. Obwohl sie ihnen juristisch und sozial unterworfen sind, geben sie nicht klein bei. Polygamie hat schließlich auch ihre Vorteile. Warum sich allein um einen Pascha kümmern müssen? Und was heißt schon kümmern? Banines älteste Schwester Leyla setzt die Scheidung durch. Sie will ihr Leben leben, und dabei gibt es nun einmal „nichts Hinderlicheres als einen Ehemann. Das wird jede Frau bestätigen können.“ Auch Cousine Gülnar, von jeher mit einer beneidenswerten Kaltschnäuzigkeit begabt, schert sich nicht um den familiären Ehrenkodex. Wie Leyla hält sie die Ehe für „eine grässliche Institution, die nur durch Ehebruch erträglich wird“.
Die Erzählung davon, wie diese frech schulterzuckende Haltung sich auf das Leben Banines auswirkt, gehört zu den köstlichsten des Romans. Banine ist 13 Jahre alt. Fast schon erwachsen. Nachdem die Russen an die Macht gekommen sind, und der Vater als Kapitalist und Klassenfeind im Gefängnis sitzt, lassen sich die beiden Schwestern mehr oder weniger bereitwillig zu Marxistinnen umschulen und geben dem Affen des Sowjet-Helden Zucker. „Für unsere Besucher waren wir ‚Gazellen mit schmachtendem Blick‘, ,Haremstöchter‘, eben erst aus der Knechtschaft befreit: die ‚kleinen Wilden‘ aus exotischen Romanen.“
Und wie es in Romanen zugeht, weiß Banine nur allzu gut. Nicht umsonst hat sie sich heimlich durch die Bibliothek ihrer Tante gelesen. Noch ehe sie ihren späteren Geliebten, Andrei Masarin, Mitglied des Revolutionären Komitees, zum ersten Mal gesehen hat, weiß sie, dass sie es mit Fürst Bolkonski, dem Held aus Tolstois „Krieg und Frieden“ zu tun hat. „Da war er, wiederauferstanden für mich, mit seiner hochmütigen Haltung, seiner nachdenklichen Miene, seinem durchdringenden, ernsten Blick – mit einem Wort, so, wie ich ihn seit jeher kannte.“
Der Wirklichkeit hält diese romanhafte Liebe natürlich nicht stand. Als Nicht-Muslim, Russe und Marxist kommt Andrei als Ehemann unter keinen Umständen in Frage. Außerdem hat Banines Vater schon längst andere Pläne. Damit er an einen Reisepass kommt, soll Banine den ihr widerwärtigen Jamil heiraten – was sie dann auch tut. Zu tief sitzen bei dem Mädchen dann doch die von Generation zu Generation weitergegebenen Werte. „Man sucht sich seinen Mann nicht aus.“
Statt mit Andrei aus der Stadt zu flüchten, schickt Banine deshalb Gülnar zu dem verabredeten Stelldichein mit Andrei, um ihm zu erklären, warum sie nicht kommen kann. Als treue Freundin nimmt Gülnar sich der Sache an. Und nutzt die Gunst der Stunde für sich selbst. Anstelle Banines flüchtet sie mit Andrei aus Baku.
Der zweite Teil des Romans, in der sich diese Episode abspielt, schwingt deutlich besser als der erste. Er nimmt seinen Witz nicht aus der zotigen Darstellung der Sippe, sondern spielt auf der Klaviatur der jungen, sexpositiven Frauen, die es hinaus in die Welt zieht.
Die verhasste Heirat mit Jamil ist für Banine nur ein bedauernswerter Umweg. Nach der Hochzeit zieht das Paar nach Tiflis und lässt es sich gut gehen. Banine gelingt es, sich Jamil vom Leibe zu halten, macht ihm klar, dass sie als Tochter aus reichem Hause zum Führen des Haushalts ohnehin nicht geeignet ist und gibt sich ihrem „Hang zum Faulenzen und Tagträumen hin“. Doch als der lange erwartete Reisepass endlich auch für Banine eintrifft – der Vater hat es dank der vorteilhaften Heirat der Tochter schon längst nach Paris geschafft – wird nicht lange gefackelt. Sie verspricht dem jammernden Ehemann, dass sie ihn nicht vergessen und ihm natürlich sofort schreiben wird, und setzt sich voller Lust auf Leben in den Orient-Express Richtung Paris. Mit im Gepäck die klugen Worte der Cousine Gülnar, die einfach immer weiß, worauf es ankommt. Von Banine ermuntert, ihre Abenteuer festzuhalten, hatte sie einst erklärt „Es ist bestimmt nicht besonders witzig, Romane zu schreiben, weißt du. Aber Romane zu erleben!“
Von Generation zu Generation
heißt es: „Man sucht sich seinen
Mann nicht aus.“
Eine Stadt, reich geworden im Ölboom, von der Autorin Banine als junger Frau dennoch abschätzig betrachtet: Baku um 1920.
Foto: mauritius images / FL Historical
Banine: Kaukasische Tage. Aus dem
Französischen von
Bettina Bach. dtv,
München 2021.
320 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
'Kaukasische Tage', die Kindheitserinnerungen von Banine, beschwören ein märchenhaftes Bild der Stadt Baku herauf und erzählen von der Suche nach einem selbstbestimmten Leben. Albert Eibl Die Presse 20220604