89,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Versandfertig in 2-4 Wochen
  • Broschiertes Buch

Die Reihe ist abgeschlossen.

Produktbeschreibung
Die Reihe ist abgeschlossen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Maurice Merleau-Ponty (1908-1961), einer der großen Phänomenologen des 20. Jahrhunderts, war Professor für Philosophie in Lyon, an der Sorbonne und zuletzt am Collège de France in Paris; zusammen mit J.-P. Sartre gab er die Zeitschrift Les temps modernes heraus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Liebe des Verlassenen
Merleau-Ponty und Piaget reden vom Kind / Von Edith Seifert

Was ist früher, der Haß oder die Liebe - oder haben beide Gefühlsregungen ein und denselben Ursprung? Kann man im Zusammenhang mit Gefühlen überhaupt von Ursprünglichkeit sprechen, stehen sie in einem ursächlichen Verhältnis zur Erkenntnis, haben sie einen nachweisbaren Einfluß auf die Entwicklung der Intelligenz? Die Antworten auf diese Fragen sind folgenreich, ganze Anthropologien und Gesellschaftsentwürfe hängen davon ab. Romantisch bzw. idealistisch werden die einen, kulturpessimistisch die anderen genannt. Maurice Merleau-Ponty und Jean Piaget, nacheinander Inhaber des Lehrstuhls für Kinderpsychologie und Pädagogik an der Sorbonne, versuchten sich beide an einer wissenschaftlich fundierten Beantwortung dieser ideologischen brisanten Fragen. Ihre Auffassungen, die sich zum Teil berühren, in wesentlichen Punkten jedoch erheblich voneinander unterscheiden, haben immerhin eines gemeinsam: monokausale Weltbilder finden an ihnen keine Stütze.

Der editorische Zufall will es, daß nun fast zeitgleich die Mitschriften der Vorlesungen Merleau-Pontys aus den Jahren 1949 bis 1952 und derjenigen Piagets aus den Jahren 1953/54 vorliegen und sich einer gemeinsamen Lektüre anbieten. Einen wirklichen Dialog freilich darf man nicht erwarten: Obwohl in Merleau-Pontys Vorlesungen fortwährend, quasi antizipierend, die Referenz auf den Nachfolger erfolgt, findet sich umgekehrt in Piagets Ausführungen nicht der geringste Hinweis auf den Vorgänger.

Dabei erscheint die Zielsetzung ihrer Untersuchungen zunächst durchaus vergleichbar. Wo es sich Merleau-Ponty zur Aufgabe macht, die Welt zu erfassen, damit der andere denkbar wird, ist es Piagets Ziel, die Entwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungen und der moralischen Kompetenz zu durchleuchten. Doch wo Merleau-Pontys Entwurf unter der Hand einen positiv utopischen Charakter annimmt, drängt sich bei dem Kognitionspsychologen Piaget sehr rasch der Eindruck auf, daß Affektivität nicht unbedingt sein Thema und Fremderfahrung nicht sein Hauptinteresse darstellen.

Der Vorwurf, seine Untersuchungen neigten zum Intellektualismus, gab Piaget den Anstoß, über die Rolle der Emotion nachzudenken. Er formuliert seine Erkenntnisse aus der Sicht der genetischen Psychologie, parallel zur Entwicklung der Intelligenz. Zunächst verwirft Piaget jede Form von Ursprünglichkeit bzw. Unmittelbarkeit. Sowenig wie im kognitiven Bereich kann es im Bereich der Affektivität so etwas wie Unmittelbarkeit geben. Gefühle wie Intelligenz entwickeln sich akkumulativ, sie sind einem langandauernden Prozeß der ständigen Neubildung unterworfen, dessen Ziel ein immer wieder neu zu findender Gleichgewichtszustand (Äquilibration) ist.

Verhalten erscheint als der Anpassungsversuch, verlorenes Gleichgewicht wiederherzustellen; wir handeln nur, wenn wir uns nicht im Gleichgewicht befinden. Für die Entwicklung der Gefühle kommt hinzu, daß diese nach Piaget von der kognitiven Entwicklung nicht zu trennen ist. Trotz seiner Anlehnung an die Gestalttheorie, der er die Begriffe der Struktur und der Energetik entlehnt (was einen inneren Bezug zur Phänomenologischen Methode erwarten lassen könnte), verwendet Piaget den Begriff der Struktur rein kognitiv. Zwar soll, wie seine Ausführungen zum Kinderspiel und zum symbolischen Denken demonstrieren, damit weder der Struktur (der Intelligenz) noch der Energie (dem Affekt) ein Vorrang zugesprochen werden. Und doch gilt nach allem, daß für Piaget Affekte selbst weder Strukturen hervorbringen noch modifizieren können.

Merleau-Ponty wird dies zu der Kritik provozieren, Piaget huldige einem Logizismus. Die von ihm vorgestellte Definition der Intelligenz entspreche der Bestimmung eines "dezentrierten, nicht-situierten, totalen Denkens, ja sie entspricht sogar der Position des Gottes der klassischen Philosophie". Piagets Replik (in "Weisheit und Illusion", Frankfurt/M. 1974) ist vernichtend. Merleau-Ponty wird jeder Einfluß auf die wissenschaftliche Psychologie abgesprochen, er sei nicht über das Niveau der introspektiven Analyse hinausgekommen, die phänomenologische Epistemologie sei parawissenschaftlich.

Wie dem auch sei, für Piaget bedürfen Strukturen der Energie, wie umgekehrt Energie ohne Strukturen nicht existiert. Und weil Intelligenz und Affektivität als zwar verwandte, aber nicht zu trennende Bereiche nicht zu unterscheiden sind - da jedes Verhalten unabdingbar den kognitiven und affektiven Aspekt umfaßt -, schlägt Piaget vor, die Unterscheidung zwischen Intelligenz und Affektivität durch die zwischen gegenstandsbezogenem und personenbezogenem Verhalten zu ersetzen. Angesichts der ihr eigenen Strukturlosigkeit kann von einer Logik der Gefühle bei alledem nicht mehr gesprochen werden. Ebendies ist mit Merleau-Ponty sehr wohl möglich.

Wie Piaget lehnt auch Merleau-Ponty zunächst jede Ursprünglichkeit bzw. Unmittelbarkeit von Gefühlen ab. Wie der Entwicklungspsychologe folgt der Phänomenologe der Gestalttheorie, übernimmt jedoch, anders als jener, zum einen die strikte Unterscheidung von intellektueller Organisation und Gestalt der Wahrnehmung, zum anderen das Postulat einer Wahrnehmung, die allein für sich gültiges Ausdrucksverhalten, und zwar affektiver Natur, ist. Vor allem die Kinderzeichnungen, die keineswegs Wirklichkeit nachahmen, zeigen den noch polymorphen Weltbezug des Kindes in seinem affektiven Gehalt und führen vor, daß Emotionen keine Zustände sind, sondern Weisen, den Gegenstand zu intendieren oder, wie Janet es formulierte, eine Auffassungsweise der Dinge.

So gesehen, von der Intentionsweise der Dinge und der vorstrukturierten Wahrnehmung her, haben nach Merleau-Ponty Gefühle eine Logik, eine Logik allerdings, die magische Momente einschließt. Schauspielkunst, bildnerische Kunst und wiederum die Kinderzeichnung legen dar, daß in der Wahrnehmung nicht das Objekt, wie es gesehen wird, vermittelt wird, sondern das Objekt als Fremdkörper, in den Zügen des Anderen und in unserer Perspektive Verformtes. Anamorphotische Bilder können diesen Sachverhalt verdeutlichen. Aber auch menschlichen Beziehungen wohnt ein magisches Element inne, da sie über Emotionen verlaufen und insofern von der "Allmacht des Denkens", der ein wesentlich magischer Bewußtseinsmodus entspricht, durchzogen sind. "Jede menschliche Beziehung strahlt aus", heißt es bei Merleau-Ponty - oder: "Es gibt keine Beziehungen zu zweit."

Lacan, mit dem Merleau-Ponty in persönlicher Beziehung und wechselseitigem Briefkontakt stand, kritisierte in seiner Hommage an den Frühverstorbenen dessen Annahme der vorgängigen Einheit des weltvermittelnden Leibes. Eingedenk der Mahnung des Herausgebers Bernhard Waldenfels, den Autor trotz gewisser Bezugnahmen auf die Linguistik Saussures, auf Jacobson, Lévi-Strauss und eben auch Lacan nicht vorschnell dem Lager der Strukturalisten zuzuschlagen, kann nur unterstrichen werden, daß hier weder eine strukturelle noch eine psychoanalytische Theorie dargelegt ist - eher schon, wie Merleau-Ponty selbst sagt, eine Theorie der emotionalen Bewußtseinsmodalitäten. Merleau-Pontys Verhältnis zur Psychoanalyse ist zu problematisch, um selbst als psychoanalytisch gelten zu können. Trotz seiner Wertschätzung Freuds und einer bemerkenswerten Kenntnis der psychoanalytischen Literatur hält er in diesen Vorlesungen die Idee des Unbewußten für ersetzbar und trifft sich hierin ganz unerwartet mit Piaget, der ebenfalls die Psychoanalyse sowohl benutzte als auch von sich wies.

Doch auch wenn sie vom Kind sprechen, beziehen die beiden Theoretiker divergierende, ja konträre Positionen. Während Piaget minutiös die fortwährende Neubildung des kindlichen kognitiven und affektiven Erwerbs analysiert (und dabei die Position des Kindes durchaus mitreflektiert), plädiert Merleau-Ponty in zum Teil bewegenden Passagen dafür, die Wahrnehmung des Kindes, seine Art der Sexualität, seine Mentalität nicht als defizitär anzusehen. Sein theoretischer Ausgangspunkt, die Annahme der vollgültigen kindlichen Wahrnehmung, verlangt das Kind, "das als Verlassener liebt", nicht in Begriffen des Erwachsenen zu beschreiben. Mag die kindliche Logik auch andere Züge tragen, mannigfaltig sein, Subjekt und Objekt miteinander verschmelzen, so ist sie doch nie unstrukturiert: "Die wahre Objektivität besteht darin, die kindliche Erfahrung nicht von oben zu behandeln und sie in ein System von Konzepten zu verwandeln, die für uns undurchdringlich sind, sondern die lebendigen Beziehungen zwischen Kind und Erwachsenen zu erforschen und dasjenige dabei freizulegen, was ihre Kommunikation erlaubt."

Maurice Merleau-Ponty: "Keime der Vernunft". Vorlesungen an der Sorbonne 1949- 1952. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Bernhard Waldenfels. Aus dem Französischen von Antje Kapust. Wilhelm Fink Verlag, München 1994. 450 S., geb., 88,- DM.

Jean Piaget: "Intelligenz und Affektivität in der Entwicklung des Kindes". Herausgegeben und aus dem Französischen von Aloys Leber. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 200 S., geb., 36,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr