»Kein Fluss« - dabei bestimmt in diesem neuenRoman von Selva Almada doch der Fluss alles, wasgeschieht. Drei Männer, die zum Angeln fahrenund mit den Bewohnern im benachbarten Ort beimabendlichen Tanzfest fast tödlich aneinander geraten.Warum? Männersachen? Frauengeschichten?Dahinter verbirgt sich viel mehr, auch deshalb istdas dunkle Wasser viel mehr als ein Fluss, aus demriesige Rochen gefischt werden und in dem Männerverschwinden. Die Argentinierin Selva Almada hatihre lakonische Stilistik, die so vieles mitteilt, wasvielsagend verschwiegen wird, nochmals um virtuoseUmdrehungen gesteigert. Niemand beschwörtdie verhängnisvolle Männerwelt Lateinamerikasmit solch zarter Wucht wie diese unvergleichlicheAutorin.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Vom "rauschhaften Sog" des kurzen Romans der argentinischen Schriftstellerin Selva Almada lässt sich Rezensent Jobst Welge gerne mitreißen. In "poetischer Verdichtung", geprägt durch rasante, oft aggressive Dialoge und zwischen Zeitebenen hin- und herspringend erzählt Almada eine Geschichte von Menschen "aus dem Landesinneren Argentiniens", lesen wir. Deren Leben ist geprägt von Patriarchat und den Traditionen in einer archaisch anmutenden Gesellschaft, so Welge. Der Kritiker schätzt die Empathie, mit der die Autorin über die teilweise "verzweifelt-brutalen" Handlungen ihrer Figuren schreibt, sowie den Detailreichtum, mit dem sie Flora und Fauna vor den Augen der Leser entstehen lässt. Ihren Ruf als einer herausragenden "Stimme der argentinischen Gegenwartsliteratur" kann Almada hier erfolgreich verteidigen, schließt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.2023Männer vor Flusslandschaft
Wasser und Wald wissen alles schon bald: Selva Almadas argentinischer Wildnisroman
Der Rochen wiegt fast hundert Kilo. Die fischenden Männer, zwei Mittfünfziger, die für einen Wochenendausflug von auswärts auf die Insel mitten im riesigen Fluss kamen, kämpfen für einige Stunden mit dem Tier, bis einer von ihnen, Enero Rey, eine Pistole zieht und den Fisch mit drei Schüssen tötet. Als er wie eine Trophäe an einem Haken aufgehängt wird, zieht er die Bewunderung und den Neid der männlichen Bewohner des Ortes auf sich - irgendwo im Landesinneren von Argentinien, im Nordwesten, einer Landschaft mit großen Flüssen und vielen Inseln. Am folgenden Tag werden die Fischer verfolgt von zwei befreundeten Männern, Aguirre und César, die nicht nur an den unnötigen Schüssen auf den Rochen Anstoß nehmen, sondern auch daran, dass die Fischer, Enero Rey, Negro und Tilo, der Sohn ihres verstorbenen Freundes Eusebio, den langsam vor sich hinfaulenden Fisch schließlich einfach wieder zurück in den Fluss zurückwerfen. Die beiden Freunde finden, dieses respektlose Verhalten verdiene Rache. Tilo, der Jugendliche, hat derweil in einer Bar Gefallen an den beiden schönen Schwestern Mariela und Lucy gefunden, die ihn zum Tanz bitten. Auch dies wird von den feindlich gesinnten Aguirre und César nicht gern gesehen und hat tödliche Folgen. Am Schluss wird ein Feuer gelegt.
In Selva Almadas kurzem Roman, den man eigentlich auch als längere Novelle bezeichnen könnte, wird diese Geschichte allerdings nicht so geordnet erzählt - sondern in elliptischen, kurzen Sätzen und Abschnitten, mit umgangssprachlichen, schnellen, oft aggressiv getönten Wortwechseln, verteilt auf verschiedene zeitliche Ebenen, in der sich schon Geschehenes und das noch Geschehende wie in einem Kreis bewegen, in poetischer Verdichtung, ohne Kapiteleinteilung. Dabei gehen direkte Figurenrede und allgemeine Erzählerrede ohne Unterscheidung ineinander über, sodass man oft nicht weiß, wo wir uns zeitlich befinden, wer genau redet und wer im nächsten Moment die Rede übernimmt. Dieses Stilmittel zwingt einerseits zu einer verlangsamten Lektüre, es nähert die erzählende Prosa der modernen Poesie an; anderseits entwickelt es aber auch einen rauschhaften Sog, ein Fließen des Textes - ganz im Sinne der zentralen Motivik des Flusses.
Es ist ein Stil der lakonischen Verknappung, der die reale Lebenswirklichkeit der Bewohner dieser Region und die oft bedrohliche Naturlandschaft durch eine modernistische Sensibilität filtert. Die argentinische Autorin, die eine Meisterin der kurzen Form ist, hat selbst bekundet, dass sie einerseits an die klassische regionalistische Tradition der lateinamerikanischen Literatur, etwa des Uruguayers Horacio Quiroga, anknüpft, andererseits aber auch durch das stilistische Vorbild nordamerikanischer Autoren und Autorinnen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt ist; auch von der argentinischen Kritik wurden immer wieder Erskine Caldwell, Carson McCullers, Flannery O'Connor als Vergleich genannt.
Die nicht immer einfache Übertragung des für die Atmosphäre dieses Buches charakteristischen mündlichen Tons und der umgangssprachlichen Ausdrücke und Redeweisen ("Hallöchen", "aus dem Effeff") ins Deutsche wird vom erfahrenen Übersetzer Christian Hansen mit gewohnter Bravour geleistet. Das Bild, das die seit Langem in Buenos Aires lebende Autorin von ihrer ländlichen Herkunftsregion, der Provinz Entre Ríos (wörtlich: zwischen den Flüssen) und ihrer Umgebung zeichnet, ist das Bild einer Welt, in der die Menschen Teil einer Kultur des allgegenwärtigen Machismo und einer patriarchalen Ordnung sind. Aber auch die regionalen Besonderheiten der Flora und Fauna, die Ess- und Trinkgewohnheiten und lokalen Gebräuche werden mit prägnanten Details vor das Auge des Lesers gebracht. In dieser Welt sind die Figuren von tragisch-banalen Ereignissen gezeichnet: eine heimliche Abtreibung, ein im Fluss Ertrunkener, ein tödlicher Unfall, die verzweifelten Handlungen von Siomara, der einsamen Mutter von Mariela und Lucy. So ist denn "Kein Fluss" auch konzipiert als abschließender Teil einer "Trilogie der Männer" (Trilogía de varones); der erste Teil und zugleich Almadas erster, international viel beachteter Roman war ursprünglich 2012 erschienen und liegt mit dem Titel "Sengender Wind" (2016), ebenfalls in der Übersetzung von Christian Hansen, vor. Selva Almada verurteilt nicht, sie generiert ein Verständnis für die Verletzungen und Kränkungen der verschiedenen Figuren, ihre verzweifelt-brutalen Handlungen und Rebellionen.
Wir werden in ihre individuellen, aber kaum artikulierten Gefühlswelten und Kindheitserinnerungen hineinversetzt. Auch deshalb öffnet sich die Gegenwart der Erzählung immer wieder auf die Ebene einer noch nicht vergangenen Vergangenheit, auf ein "Echo der Zukunft", wie es einmal im Roman heißt, des Traums, auch des Symbolischen. Und nicht zuletzt wird der Natur selbst hier eine zentrale, ja sogar eine anthropomorphe Rolle zugesprochen: "Dieser Mann ist nicht aus diesem Wald, und der Wald weiß das." Und es ist der Fluss, "dieser" Fluss, der die Schicksale der Menschen in sich vereinigt und miteinander verwebt - und damit zum leitenden Bild, zur großen Metapher dieses hoch konzentrierten Romans wird. Mit "Kein Fluss" untermauert Selva Almada ihren Ruf als eine der wichtigsten weiblichen Stimmen der argentinischen Gegenwartsliteratur, neben Samanta Schweblin und Mariana Enríquez. JOBST WELGE
Selva Almada:
"Kein Fluss". Roman.
Aus dem Spanischen
von Christian Hansen. Berenberg Verlag,
Berlin 2023. 112 S.,
geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wasser und Wald wissen alles schon bald: Selva Almadas argentinischer Wildnisroman
Der Rochen wiegt fast hundert Kilo. Die fischenden Männer, zwei Mittfünfziger, die für einen Wochenendausflug von auswärts auf die Insel mitten im riesigen Fluss kamen, kämpfen für einige Stunden mit dem Tier, bis einer von ihnen, Enero Rey, eine Pistole zieht und den Fisch mit drei Schüssen tötet. Als er wie eine Trophäe an einem Haken aufgehängt wird, zieht er die Bewunderung und den Neid der männlichen Bewohner des Ortes auf sich - irgendwo im Landesinneren von Argentinien, im Nordwesten, einer Landschaft mit großen Flüssen und vielen Inseln. Am folgenden Tag werden die Fischer verfolgt von zwei befreundeten Männern, Aguirre und César, die nicht nur an den unnötigen Schüssen auf den Rochen Anstoß nehmen, sondern auch daran, dass die Fischer, Enero Rey, Negro und Tilo, der Sohn ihres verstorbenen Freundes Eusebio, den langsam vor sich hinfaulenden Fisch schließlich einfach wieder zurück in den Fluss zurückwerfen. Die beiden Freunde finden, dieses respektlose Verhalten verdiene Rache. Tilo, der Jugendliche, hat derweil in einer Bar Gefallen an den beiden schönen Schwestern Mariela und Lucy gefunden, die ihn zum Tanz bitten. Auch dies wird von den feindlich gesinnten Aguirre und César nicht gern gesehen und hat tödliche Folgen. Am Schluss wird ein Feuer gelegt.
In Selva Almadas kurzem Roman, den man eigentlich auch als längere Novelle bezeichnen könnte, wird diese Geschichte allerdings nicht so geordnet erzählt - sondern in elliptischen, kurzen Sätzen und Abschnitten, mit umgangssprachlichen, schnellen, oft aggressiv getönten Wortwechseln, verteilt auf verschiedene zeitliche Ebenen, in der sich schon Geschehenes und das noch Geschehende wie in einem Kreis bewegen, in poetischer Verdichtung, ohne Kapiteleinteilung. Dabei gehen direkte Figurenrede und allgemeine Erzählerrede ohne Unterscheidung ineinander über, sodass man oft nicht weiß, wo wir uns zeitlich befinden, wer genau redet und wer im nächsten Moment die Rede übernimmt. Dieses Stilmittel zwingt einerseits zu einer verlangsamten Lektüre, es nähert die erzählende Prosa der modernen Poesie an; anderseits entwickelt es aber auch einen rauschhaften Sog, ein Fließen des Textes - ganz im Sinne der zentralen Motivik des Flusses.
Es ist ein Stil der lakonischen Verknappung, der die reale Lebenswirklichkeit der Bewohner dieser Region und die oft bedrohliche Naturlandschaft durch eine modernistische Sensibilität filtert. Die argentinische Autorin, die eine Meisterin der kurzen Form ist, hat selbst bekundet, dass sie einerseits an die klassische regionalistische Tradition der lateinamerikanischen Literatur, etwa des Uruguayers Horacio Quiroga, anknüpft, andererseits aber auch durch das stilistische Vorbild nordamerikanischer Autoren und Autorinnen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt ist; auch von der argentinischen Kritik wurden immer wieder Erskine Caldwell, Carson McCullers, Flannery O'Connor als Vergleich genannt.
Die nicht immer einfache Übertragung des für die Atmosphäre dieses Buches charakteristischen mündlichen Tons und der umgangssprachlichen Ausdrücke und Redeweisen ("Hallöchen", "aus dem Effeff") ins Deutsche wird vom erfahrenen Übersetzer Christian Hansen mit gewohnter Bravour geleistet. Das Bild, das die seit Langem in Buenos Aires lebende Autorin von ihrer ländlichen Herkunftsregion, der Provinz Entre Ríos (wörtlich: zwischen den Flüssen) und ihrer Umgebung zeichnet, ist das Bild einer Welt, in der die Menschen Teil einer Kultur des allgegenwärtigen Machismo und einer patriarchalen Ordnung sind. Aber auch die regionalen Besonderheiten der Flora und Fauna, die Ess- und Trinkgewohnheiten und lokalen Gebräuche werden mit prägnanten Details vor das Auge des Lesers gebracht. In dieser Welt sind die Figuren von tragisch-banalen Ereignissen gezeichnet: eine heimliche Abtreibung, ein im Fluss Ertrunkener, ein tödlicher Unfall, die verzweifelten Handlungen von Siomara, der einsamen Mutter von Mariela und Lucy. So ist denn "Kein Fluss" auch konzipiert als abschließender Teil einer "Trilogie der Männer" (Trilogía de varones); der erste Teil und zugleich Almadas erster, international viel beachteter Roman war ursprünglich 2012 erschienen und liegt mit dem Titel "Sengender Wind" (2016), ebenfalls in der Übersetzung von Christian Hansen, vor. Selva Almada verurteilt nicht, sie generiert ein Verständnis für die Verletzungen und Kränkungen der verschiedenen Figuren, ihre verzweifelt-brutalen Handlungen und Rebellionen.
Wir werden in ihre individuellen, aber kaum artikulierten Gefühlswelten und Kindheitserinnerungen hineinversetzt. Auch deshalb öffnet sich die Gegenwart der Erzählung immer wieder auf die Ebene einer noch nicht vergangenen Vergangenheit, auf ein "Echo der Zukunft", wie es einmal im Roman heißt, des Traums, auch des Symbolischen. Und nicht zuletzt wird der Natur selbst hier eine zentrale, ja sogar eine anthropomorphe Rolle zugesprochen: "Dieser Mann ist nicht aus diesem Wald, und der Wald weiß das." Und es ist der Fluss, "dieser" Fluss, der die Schicksale der Menschen in sich vereinigt und miteinander verwebt - und damit zum leitenden Bild, zur großen Metapher dieses hoch konzentrierten Romans wird. Mit "Kein Fluss" untermauert Selva Almada ihren Ruf als eine der wichtigsten weiblichen Stimmen der argentinischen Gegenwartsliteratur, neben Samanta Schweblin und Mariana Enríquez. JOBST WELGE
Selva Almada:
"Kein Fluss". Roman.
Aus dem Spanischen
von Christian Hansen. Berenberg Verlag,
Berlin 2023. 112 S.,
geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main