Liebe und Ehe sind ein kompliziertes Geschäft. Die Bilanz ist oft nur mittelmäßig. Muss man es einfach nur häufiger versuchen? Oder gleichzeitig? Oder besser über die eigene Mutter nachdenken? Steckt in der "Ehefrau" nicht von Anfang an die "Ehemalige", das einzig authentische Überbleibsel jeder Ehe? Wilhelm Genazino erzählt von einem philosophischen Helden, der beim verschärften Nachdenken jede Sicherheit verliert. Vielleicht muss der Mann die Probe aufs Exempel machen mit allen Frauen, die er im Leben kannte, und die Vergangenheit handfest bewältigen. Die Gelegenheit wird sich bieten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2018Da helfen auch keine Rauchmelder
Die Ungewaschenheit der Welt muss ausgehalten werden: Wilhelm Genazino blickt in seinem neuen Roman aufs Neue ins Herz der Schäbigkeit.
Einmal angenommen, das wäre das erste Buch von Wilhelm Genazino, das die Rezensentin zu Gesicht bekommen hätte. Sie wäre vermutlich entzückt, berückt von seiner zauberisch zerstreuten Sicht auf das Leben, die Menschen, die Welt. Sie wäre hingerissen von diesem Helden, der wahrhaftig keiner ist und den ein Original zu nennen der Komplexität seiner psychischen und sozialen Erscheinung nicht gerecht würde. Der hier, verblümt zwar, aber doch offenherzig, über sich Auskunft gibt, erweist sich als ein Virtuose des Scheiterns, einer, der sich weidet an seinen Unzulänglichkeiten und Verlusten, einer, der schwelgt in peinlichen und peinigenden Erinnerungen.
Beruflich ist er nach eigenem Befund dreimal gescheitert, als Bibliothekar, als Wertpapierhändler und als Redakteur eines Provinzblatts. Jetzt ist er sechzig, arbeitslos und hat gerade zufällig seine "ehemalige Ehefrau" Sibylle wiedergetroffen, die ihm signalisiert, dass sie einem "Sexualimbiss" nicht abgeneigt wäre. Sehr bald findet auch der Ich-Erzähler wieder Gefallen an der quasiehelichen Verpflichtung, obwohl er den Verdacht hegt, hier könnten schlicht eine "übriggebliebene Frau" und ein "übriggebliebener Mann" zusammengefunden haben. Deswegen unterhält er außerdem Beziehungen zu einer Christa, für die ihr Gatte kein sexuelles Interesse mehr aufbringt - "normale Eheverwehung" eben.
Unter anderem beschäftigt den Protagonisten die Frage, was passieren würde, käme Sibylle drauf, dass er "auch beim fünften und sechsten Treffen stets dieselbe Hose trug. Dabei war es mein Traum, mit einer einzigen Hose und einer einzigen Frau durchs Leben zu kommen." Die Wirklichkeit sieht anders aus: "Ich hatte mehrere Frauen, mehrere Wohnungen, mehrere Berufe, mehrere Hosen, aber immer noch keine Zukunft." Spätestens angesichts dieser Bilanz fragt sich der Leser, wie dieser Mann auch nur in die Lage kommen konnte, als Wertpapierhändler zu scheitern, was voraussetzt, dass zumindest er selbst sich in dieser Rolle ernst genommen hat. Mehr Zutrauen fasst man zu seiner Kompetenz als "Hosenberater", als der er sich möglicher Kundschaft sogar per Inserat empfiehlt.
Am erstaunlichsten freilich erscheint des Helden beträchtliche Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht, das sich offenbar weder durch seine Loser-Attitüde noch durch seine Schrullen, seine depressiven Anwandlungen und seine hygienische Fahrlässigkeit abschrecken lässt. Neben einer Reihe verflossener Geliebter in seinem Kopf spielt noch eine ebenfalls deutlich jüngere Frau namens Frederike eine Hauptrolle, die dem Erzähler als leibhaftiger Gruß aus der Vergangenheit über den Weg läuft und ihm verspricht, zwei lose Knöpfe anzunähen, woraus sich alles weitere ergibt. Schließlich hat er schon zuvor, bei allem Lamento über das Alter, bedauert, "keine neue feste Frau", jedoch "Kraft für drei Frauen" zu haben. Die lebensmüde, gleichwohl patente Sibylle erklärt ihrem Exmann, er würde bei den Frauen reizvolle "Dominanzgefühle" auslösen; ihm selbst ist klar, dass er die "Mannmutter" sucht und braucht, muss er doch häufig an seine unglückliche Mutter denken, aber auch an seinen früh zerrütteten Vater. Beide Eltern sind lange tot, mit ihnen wird für das erinnerungsgeplagte Ich die Ödnis der Nachkriegszeit wieder lebendig.
Doch auch an der Stadt, in der er gegenwärtig lebt (Frankfurt wird einmal genannt), nimmt der Erzähler vor allem die Spuren von Verfall und Verwüstung wahr. Seine langen Märsche haben nichts von der Gelassenheit des Flaneurs, sie sind Fluchten aus einer immer wieder drückenden Verknotung der Existenz. Auf den Straßen und in den Supermärkten berauscht der Erzähler sich an Symptomen des Dysfunktionalen. Inständig wünscht er sich mehr Tiere in der Stadt, nicht immer nur Hunde, "sondern dann und wann einen Pelikan, ein Gnu oder ein schlafendes Krokodil".
Mit seinem Autor teilt er das Gespür für die Safari des Alltags, die weltverwandelnde Scharfsicht, die große Gabe, "beiseite zu schauen, dorthin, wo die anderen nicht hinschauen". Und so gehören die Sexszenen in Genazinos Büchern zweifellos zu den merkwürdigsten der Gegenwartsliteratur. In "Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze" ist nicht nur die nachvollziehbare obsessive Begeisterung des Helden für die weibliche Brust ausgestellt, sein Interesse gilt auch auf diesem Gebiet dem Abwegigen, Versteckten, Degoutanten - der Unwiderstehlichkeit von Frauenschweiß oder den Sedimenten "aus der Tiefe des Nabels". Die kindliche Unschuld des Genießers taucht das Beobachtete in ein sanft komisches Licht, wie überhaupt die Schwelle zwischen Komik und Tragik in diesem Buch in beide Richtungen stets aufs Neue mühelos überschritten wird.
Denn der Tod verfolgt unseren Helden hartnäckig, spielt sein Ziel gewissermaßen über die Bande an, über die Frauen. Wie mit der Verstümmelung von Christas Brüsten nach einer Krebs-Diagnose nicht allein dem scheinbar unendlichen Spaß der Intimität ein Ende gesetzt wird, beschreibt der Autor mit zartester Zärtlichkeit. Dennoch hat man den Eindruck, Genazinos Alter Ego werde durch den Einbau eines Rauchmelders in seiner Wohnung nicht weniger in seinem Da-Sein erschüttert als durch den Schicksalseinschlag in seiner unmittelbaren Nähe.
Wäre dies Wilhelm Genazinos erstes und einziges Werk, riefe es also die uneingeschränkte Bewunderung der Rezensentin hervor. Da es das aber nicht ist, verspürt sie eine gewisse Gereiztheit bei der Wiederbegegnung mit bekannten Konstellationen und Elementen, die, um einiges schwärzer und trostloser zwar, auf bekannte Weise arrangiert sind. Sie fühlt sich versucht, der Selbstcharakteristik des Erzählers zuzustimmen, angesichts der "Routine, mit der ich meine Mängel beschrieb", und der "unglaublichen Bescheidenheit, mit der ich mir die eigenen Defizite verzieh".
Ohne Zweifel täte sie dem Buch damit aber unrecht. Denn wie kann man einem Autor vorwerfen, dass die Grenzen seiner Welt auch die Grenzen seiner literarischen Sprache sind? Es bleibt allemal das Staunen über Genazinos ins Herz der Schäbigkeit treffenden Blick, über sein Vermögen, sich durch menschliche Dürftigkeit und Bedürftigkeit einen Weg zu bahnen, an dessen Ende ein tröstliches Einverständnis winkt. Es bleibt das Vergnügen an wundersamen Wortkreationen und Sätzen wie "In dieser Lage trat der Alkohol an mich heran und hatte mit mir keine Schwierigkeiten". Oder: "Ich rieb . . ., bis ich das Gefühl hatte: wenn ich ein Fleck wäre, würde ich jetzt aufgeben." In seiner dreifachen Verneinung ist "Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze" ein einziger großer Protest gegen das Phantasma der Makellosigkeit, gegen die Trostlüge des Konsums, all die falschen Versprechen von Halt und Geborgenheit. Die Ungewaschenheit der Welt muss ausgehalten werden, ein Buch wie dieses mag einem dabei immerhin helfen.
DANIELA STRIGL
Wilhelm Genazino: "Kein Geld, keine Uhr, keine
Mütze". Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2018. 176 S. geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Ungewaschenheit der Welt muss ausgehalten werden: Wilhelm Genazino blickt in seinem neuen Roman aufs Neue ins Herz der Schäbigkeit.
Einmal angenommen, das wäre das erste Buch von Wilhelm Genazino, das die Rezensentin zu Gesicht bekommen hätte. Sie wäre vermutlich entzückt, berückt von seiner zauberisch zerstreuten Sicht auf das Leben, die Menschen, die Welt. Sie wäre hingerissen von diesem Helden, der wahrhaftig keiner ist und den ein Original zu nennen der Komplexität seiner psychischen und sozialen Erscheinung nicht gerecht würde. Der hier, verblümt zwar, aber doch offenherzig, über sich Auskunft gibt, erweist sich als ein Virtuose des Scheiterns, einer, der sich weidet an seinen Unzulänglichkeiten und Verlusten, einer, der schwelgt in peinlichen und peinigenden Erinnerungen.
Beruflich ist er nach eigenem Befund dreimal gescheitert, als Bibliothekar, als Wertpapierhändler und als Redakteur eines Provinzblatts. Jetzt ist er sechzig, arbeitslos und hat gerade zufällig seine "ehemalige Ehefrau" Sibylle wiedergetroffen, die ihm signalisiert, dass sie einem "Sexualimbiss" nicht abgeneigt wäre. Sehr bald findet auch der Ich-Erzähler wieder Gefallen an der quasiehelichen Verpflichtung, obwohl er den Verdacht hegt, hier könnten schlicht eine "übriggebliebene Frau" und ein "übriggebliebener Mann" zusammengefunden haben. Deswegen unterhält er außerdem Beziehungen zu einer Christa, für die ihr Gatte kein sexuelles Interesse mehr aufbringt - "normale Eheverwehung" eben.
Unter anderem beschäftigt den Protagonisten die Frage, was passieren würde, käme Sibylle drauf, dass er "auch beim fünften und sechsten Treffen stets dieselbe Hose trug. Dabei war es mein Traum, mit einer einzigen Hose und einer einzigen Frau durchs Leben zu kommen." Die Wirklichkeit sieht anders aus: "Ich hatte mehrere Frauen, mehrere Wohnungen, mehrere Berufe, mehrere Hosen, aber immer noch keine Zukunft." Spätestens angesichts dieser Bilanz fragt sich der Leser, wie dieser Mann auch nur in die Lage kommen konnte, als Wertpapierhändler zu scheitern, was voraussetzt, dass zumindest er selbst sich in dieser Rolle ernst genommen hat. Mehr Zutrauen fasst man zu seiner Kompetenz als "Hosenberater", als der er sich möglicher Kundschaft sogar per Inserat empfiehlt.
Am erstaunlichsten freilich erscheint des Helden beträchtliche Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht, das sich offenbar weder durch seine Loser-Attitüde noch durch seine Schrullen, seine depressiven Anwandlungen und seine hygienische Fahrlässigkeit abschrecken lässt. Neben einer Reihe verflossener Geliebter in seinem Kopf spielt noch eine ebenfalls deutlich jüngere Frau namens Frederike eine Hauptrolle, die dem Erzähler als leibhaftiger Gruß aus der Vergangenheit über den Weg läuft und ihm verspricht, zwei lose Knöpfe anzunähen, woraus sich alles weitere ergibt. Schließlich hat er schon zuvor, bei allem Lamento über das Alter, bedauert, "keine neue feste Frau", jedoch "Kraft für drei Frauen" zu haben. Die lebensmüde, gleichwohl patente Sibylle erklärt ihrem Exmann, er würde bei den Frauen reizvolle "Dominanzgefühle" auslösen; ihm selbst ist klar, dass er die "Mannmutter" sucht und braucht, muss er doch häufig an seine unglückliche Mutter denken, aber auch an seinen früh zerrütteten Vater. Beide Eltern sind lange tot, mit ihnen wird für das erinnerungsgeplagte Ich die Ödnis der Nachkriegszeit wieder lebendig.
Doch auch an der Stadt, in der er gegenwärtig lebt (Frankfurt wird einmal genannt), nimmt der Erzähler vor allem die Spuren von Verfall und Verwüstung wahr. Seine langen Märsche haben nichts von der Gelassenheit des Flaneurs, sie sind Fluchten aus einer immer wieder drückenden Verknotung der Existenz. Auf den Straßen und in den Supermärkten berauscht der Erzähler sich an Symptomen des Dysfunktionalen. Inständig wünscht er sich mehr Tiere in der Stadt, nicht immer nur Hunde, "sondern dann und wann einen Pelikan, ein Gnu oder ein schlafendes Krokodil".
Mit seinem Autor teilt er das Gespür für die Safari des Alltags, die weltverwandelnde Scharfsicht, die große Gabe, "beiseite zu schauen, dorthin, wo die anderen nicht hinschauen". Und so gehören die Sexszenen in Genazinos Büchern zweifellos zu den merkwürdigsten der Gegenwartsliteratur. In "Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze" ist nicht nur die nachvollziehbare obsessive Begeisterung des Helden für die weibliche Brust ausgestellt, sein Interesse gilt auch auf diesem Gebiet dem Abwegigen, Versteckten, Degoutanten - der Unwiderstehlichkeit von Frauenschweiß oder den Sedimenten "aus der Tiefe des Nabels". Die kindliche Unschuld des Genießers taucht das Beobachtete in ein sanft komisches Licht, wie überhaupt die Schwelle zwischen Komik und Tragik in diesem Buch in beide Richtungen stets aufs Neue mühelos überschritten wird.
Denn der Tod verfolgt unseren Helden hartnäckig, spielt sein Ziel gewissermaßen über die Bande an, über die Frauen. Wie mit der Verstümmelung von Christas Brüsten nach einer Krebs-Diagnose nicht allein dem scheinbar unendlichen Spaß der Intimität ein Ende gesetzt wird, beschreibt der Autor mit zartester Zärtlichkeit. Dennoch hat man den Eindruck, Genazinos Alter Ego werde durch den Einbau eines Rauchmelders in seiner Wohnung nicht weniger in seinem Da-Sein erschüttert als durch den Schicksalseinschlag in seiner unmittelbaren Nähe.
Wäre dies Wilhelm Genazinos erstes und einziges Werk, riefe es also die uneingeschränkte Bewunderung der Rezensentin hervor. Da es das aber nicht ist, verspürt sie eine gewisse Gereiztheit bei der Wiederbegegnung mit bekannten Konstellationen und Elementen, die, um einiges schwärzer und trostloser zwar, auf bekannte Weise arrangiert sind. Sie fühlt sich versucht, der Selbstcharakteristik des Erzählers zuzustimmen, angesichts der "Routine, mit der ich meine Mängel beschrieb", und der "unglaublichen Bescheidenheit, mit der ich mir die eigenen Defizite verzieh".
Ohne Zweifel täte sie dem Buch damit aber unrecht. Denn wie kann man einem Autor vorwerfen, dass die Grenzen seiner Welt auch die Grenzen seiner literarischen Sprache sind? Es bleibt allemal das Staunen über Genazinos ins Herz der Schäbigkeit treffenden Blick, über sein Vermögen, sich durch menschliche Dürftigkeit und Bedürftigkeit einen Weg zu bahnen, an dessen Ende ein tröstliches Einverständnis winkt. Es bleibt das Vergnügen an wundersamen Wortkreationen und Sätzen wie "In dieser Lage trat der Alkohol an mich heran und hatte mit mir keine Schwierigkeiten". Oder: "Ich rieb . . ., bis ich das Gefühl hatte: wenn ich ein Fleck wäre, würde ich jetzt aufgeben." In seiner dreifachen Verneinung ist "Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze" ein einziger großer Protest gegen das Phantasma der Makellosigkeit, gegen die Trostlüge des Konsums, all die falschen Versprechen von Halt und Geborgenheit. Die Ungewaschenheit der Welt muss ausgehalten werden, ein Buch wie dieses mag einem dabei immerhin helfen.
DANIELA STRIGL
Wilhelm Genazino: "Kein Geld, keine Uhr, keine
Mütze". Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2018. 176 S. geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Keiner führt seine Figuren stilvoller in die Sackgassen der Existenz als der Schriftsteller Wilhelm Genanzino." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 21.02.18
"Wilhelm Genanzino gelingt es wie keinem anderen Autor, die Poesie des Hässlichen zu entdecken." Christian Schröder, Der Tagesspiegel, 18.02.18
"Ein gewitztes Buch mit einem abgeklärten, hochreflexiven, jedenfalls permanent denkenden Erzähler." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 12.02.18
"Wilhelm Genanzino gelingt es wie keinem anderen Autor, die Poesie des Hässlichen zu entdecken." Christian Schröder, Der Tagesspiegel, 18.02.18
"Ein gewitztes Buch mit einem abgeklärten, hochreflexiven, jedenfalls permanent denkenden Erzähler." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 12.02.18
Der Protagonist räsoniert über Frauen, beobachtet Vögel und verirrt sich in Kaufhäusern, immer im mäandernden Bewusstwein, dass Annäherung eine Zunahme von Unsicherheit bedeutet. Südhessen Wochenblatt 20200401