"In einer Hölle wie dieser muß selbst Gott laut schreien, um sich bemerkbar zu machen", klagt ein Metzger auf einem überfüllten Marktplatz. Altaf Tyrewala macht die Stimmen der Stadt hörbar - und verwandelt sie in ein literarisches Wunderwerk. Was unmöglich klingt, ist ihm in seinem begeistert aufgenommenen Debüt mit Leichtigkeit gelungen: Bombay als Roman. Mütter und Söhne treten auf, Schuldige und Unschuldige, Hoffnungsvolle und Verzweifelte, und für sie alle ist die schillernde Stadt das Schicksal. Armut, Schuld, religiöse Rivalitäten, Gewalt - ein Gott ist nicht in Sicht, doch ihre Geschichten fügen sich zu einem packenden, aufwühlenden Erzählwerk, das den Pulsschlag Bombays fühlbar macht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.01.2007Der Tod einer Seele
Altaf Tyrewala erzählt in „Kein Gott in Sicht” von Bombay
„Was ist denn Kunst anderes als das Auffinden verlorener Dinge, als die Verewigung von Verlusten”, hat Marina Zwetajewa in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts geschrieben. Altaf Tyrewala, geboren 1977 in Bombay, hat sich in seinem ersten Roman „Kein Gott in Sicht” dieser Verluste angenommen und ins Unüberschaubare ausgeweitet. Auf dem Schutzumschlag: ein verwirrendes Foto, mitten in eine indische Menschenmenge hinein fotografiert. Tyrewala nähert sich an und lässt Einzelne aus der Masse heraustreten, und wir vernehmen ihre Stimmen. Jeder spricht für sich, aus seinem Leben und über sein „Mumbai” – wie an einer langen Kette aneinandergereiht. Jeder spricht seinen Monolog und tritt wieder ab, überlässt die Szene der nächsten Figur. Nur manchmal mischt sich eine fremde Erzählerstimme ein, übernimmt die Führung, leitet weiter, nimmt das Geschehen in die Hand, stiftet Zusammenhang und Überblick.
Das Buch besteht aus 46 Einzelteilen, short cuts aus der großen Stadt Bombay. Daraus entsteht ein Puzzle, das nicht zusammengefügt werden kann, nur manchmal greifen einzelne Teile ineinander und ergeben im Zusammenspiel ein Bild. Ein Bild von Gewalt und Terror zum Beispiel, wenn jemand sich erinnert an die Nacht, in der die Moschee zerstört wurde und in der die Menschen aufhörten, Nachbarn zu sein und jeder Hindu oder Muslim wurde – Hindu gegen Muslim. An die Nacht, in der einige Hindus und die meisten Muslime wünschten, sie wären keine Hindus und keine Muslime – „dieser Misthaufen von Subkontinent wird noch jeden einzelnen von uns umbringen.”
Und doch gibt es die Liebe der Flüchtlinge zu diesem Land und dieser Stadt. Wenn sie sich von ihren nostalgischen Gefühlen befreien möchten, dann erinnern sie sich an eine „kranke Nation”, an Krawalle und Schutzgeldforderungen, an religiöse Verunglimpfungen, an die umgeschriebenen Geschichtsbücher und die Schikanen auf dem Pass-Amt: „Vergiss es, werde ich mir sagen, lass los. Sie sollen es haben, sie sollen haben, wofür sie Geistliche getötet, Moscheen dem Erdboden gleichgemacht, Landsleute verjagt haben. Sollen sie ihr Hindustan für die Hindus haben.” Oder ein Bild der Verlassenheit. So viel Verlassenheit. „Es gibt keinen Allah, keinen Himmel, keine Hölle. Kein Leben nach dem Tod. Sinnlos, kostbare Stunden des Lebens in Moscheen und Tempeln zu verschwenden.”
Der seinen Namen nicht kennt
Mrs. Khwaja ist die erste, die spricht. Sie war einmal eine Dichterin. Tagelang hing sie „winzigen Metaphern” nach. Jetzt erzählt sie, wie sie für ihre Kinder kocht und das Geld ausgibt, das ihr Mann nach Hause bringt: „Ich starre geistesabwesend auf den Fernseher. Ich habe nichts mehr zu sagen.” Und dann sprechen andere weiter, unaufgeregt werden die Verluste registriert. Und worauf kann man sich einigen? Auf die Todesangst vermutlich. Denn einmal rast ein Name wie ein Gespenst durch die Zeilen: Sohail Tambawala, ein toter Terrorist. Mit einem Sprung verbindet dieser Name die einzelnen verstreuten Stimmen wie zu einer jeden berührenden Frage: nach ihrer eigenen Existenz. Und es sprechen all die, die auch diesen Namen tragen. Zu verzeichnen ist der Tod „einer Seele, die die eigene hätte sein können.”
Auch der namenlose Bettler, Zentralfigur des indischen Stadtbildes, hat seinen Auftritt, und ihm gehört eine der schönsten Passagen des Buchs – ein Andachtsbild. So viele lässt Altaf Tyrewala aus ihrer Namenlosigkeit heraustreten. Sie bekommen ihre eigene Sprache, ihre Geschichte und ein eigenes Leben. Nicht der Bettler. Er erfährt die Würdigung durch einen anderen, durch den Autor, der über ihn und für ihn und in seinem Namen spricht. „Du bist frei. Du kannst überall hingehen. Tun, was du willst. Niemand kennt deinen Namen. Niemand – nicht einmal du selbst.”
„Kein Gott in Sicht” ist kein Sozialbericht aus den indischen Elendsgebieten, die Armut und die Traurigkeit gehen hier durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch. Vielleicht ist das Buch so etwas wie eine Einübung ins Sprechen lernen. Und eine zarte Erinnerung an diesen einen der vielen großen Verse Paul Celans: „Sprich – / doch scheide das Nein nicht vom Ja. / Gib deinem Spruch auch den Sinn: / gib ihm den Schatten.” Dieser zögernde Sinn durchwandert auf eine schöne und beiläufige Weise Altaf Tyrewalas Roman. YVONNE GEBAUER
ALTAF TYREWALA: Kein Gott in Sicht. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 184 S., 19, 80 Euro.
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Altaf Tyrewala erzählt in „Kein Gott in Sicht” von Bombay
„Was ist denn Kunst anderes als das Auffinden verlorener Dinge, als die Verewigung von Verlusten”, hat Marina Zwetajewa in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts geschrieben. Altaf Tyrewala, geboren 1977 in Bombay, hat sich in seinem ersten Roman „Kein Gott in Sicht” dieser Verluste angenommen und ins Unüberschaubare ausgeweitet. Auf dem Schutzumschlag: ein verwirrendes Foto, mitten in eine indische Menschenmenge hinein fotografiert. Tyrewala nähert sich an und lässt Einzelne aus der Masse heraustreten, und wir vernehmen ihre Stimmen. Jeder spricht für sich, aus seinem Leben und über sein „Mumbai” – wie an einer langen Kette aneinandergereiht. Jeder spricht seinen Monolog und tritt wieder ab, überlässt die Szene der nächsten Figur. Nur manchmal mischt sich eine fremde Erzählerstimme ein, übernimmt die Führung, leitet weiter, nimmt das Geschehen in die Hand, stiftet Zusammenhang und Überblick.
Das Buch besteht aus 46 Einzelteilen, short cuts aus der großen Stadt Bombay. Daraus entsteht ein Puzzle, das nicht zusammengefügt werden kann, nur manchmal greifen einzelne Teile ineinander und ergeben im Zusammenspiel ein Bild. Ein Bild von Gewalt und Terror zum Beispiel, wenn jemand sich erinnert an die Nacht, in der die Moschee zerstört wurde und in der die Menschen aufhörten, Nachbarn zu sein und jeder Hindu oder Muslim wurde – Hindu gegen Muslim. An die Nacht, in der einige Hindus und die meisten Muslime wünschten, sie wären keine Hindus und keine Muslime – „dieser Misthaufen von Subkontinent wird noch jeden einzelnen von uns umbringen.”
Und doch gibt es die Liebe der Flüchtlinge zu diesem Land und dieser Stadt. Wenn sie sich von ihren nostalgischen Gefühlen befreien möchten, dann erinnern sie sich an eine „kranke Nation”, an Krawalle und Schutzgeldforderungen, an religiöse Verunglimpfungen, an die umgeschriebenen Geschichtsbücher und die Schikanen auf dem Pass-Amt: „Vergiss es, werde ich mir sagen, lass los. Sie sollen es haben, sie sollen haben, wofür sie Geistliche getötet, Moscheen dem Erdboden gleichgemacht, Landsleute verjagt haben. Sollen sie ihr Hindustan für die Hindus haben.” Oder ein Bild der Verlassenheit. So viel Verlassenheit. „Es gibt keinen Allah, keinen Himmel, keine Hölle. Kein Leben nach dem Tod. Sinnlos, kostbare Stunden des Lebens in Moscheen und Tempeln zu verschwenden.”
Der seinen Namen nicht kennt
Mrs. Khwaja ist die erste, die spricht. Sie war einmal eine Dichterin. Tagelang hing sie „winzigen Metaphern” nach. Jetzt erzählt sie, wie sie für ihre Kinder kocht und das Geld ausgibt, das ihr Mann nach Hause bringt: „Ich starre geistesabwesend auf den Fernseher. Ich habe nichts mehr zu sagen.” Und dann sprechen andere weiter, unaufgeregt werden die Verluste registriert. Und worauf kann man sich einigen? Auf die Todesangst vermutlich. Denn einmal rast ein Name wie ein Gespenst durch die Zeilen: Sohail Tambawala, ein toter Terrorist. Mit einem Sprung verbindet dieser Name die einzelnen verstreuten Stimmen wie zu einer jeden berührenden Frage: nach ihrer eigenen Existenz. Und es sprechen all die, die auch diesen Namen tragen. Zu verzeichnen ist der Tod „einer Seele, die die eigene hätte sein können.”
Auch der namenlose Bettler, Zentralfigur des indischen Stadtbildes, hat seinen Auftritt, und ihm gehört eine der schönsten Passagen des Buchs – ein Andachtsbild. So viele lässt Altaf Tyrewala aus ihrer Namenlosigkeit heraustreten. Sie bekommen ihre eigene Sprache, ihre Geschichte und ein eigenes Leben. Nicht der Bettler. Er erfährt die Würdigung durch einen anderen, durch den Autor, der über ihn und für ihn und in seinem Namen spricht. „Du bist frei. Du kannst überall hingehen. Tun, was du willst. Niemand kennt deinen Namen. Niemand – nicht einmal du selbst.”
„Kein Gott in Sicht” ist kein Sozialbericht aus den indischen Elendsgebieten, die Armut und die Traurigkeit gehen hier durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch. Vielleicht ist das Buch so etwas wie eine Einübung ins Sprechen lernen. Und eine zarte Erinnerung an diesen einen der vielen großen Verse Paul Celans: „Sprich – / doch scheide das Nein nicht vom Ja. / Gib deinem Spruch auch den Sinn: / gib ihm den Schatten.” Dieser zögernde Sinn durchwandert auf eine schöne und beiläufige Weise Altaf Tyrewalas Roman. YVONNE GEBAUER
ALTAF TYREWALA: Kein Gott in Sicht. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 184 S., 19, 80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Martin Lüdke ist ausgesprochen begeistert vom "kühn konstruierten" Romandebüt dieses jungen Autors. Inhaltlich sieht er darin Motive von Salman Rushdies, vor dreißig Jahren erschienenem Roman "Mitternachtskinder" weiterentwickelt. Stilistisch fühlt er sich entfernt an Botho Strauss erinnert. Oberflächlich gesehen reihe der 1977 in Bombay geborene Autor scheinbar zusammenhangslose Episoden und Lebensläufe unterschiedlichster Menschen aneinander. Oft bestehen sie Lüdke zufolge nur in wenigen Zeilen, meist aber in wenige Seiten umfassenden Kapiteln. Doch trotz seines fragmentarischen Stils erzeuge Altaf Tyrewala einen "gewaltigen Sog", in den nicht nur die Figuren, sondern auch der Leser hinein gerissen werde, wie uns der staunende Rezensent mitteilt. Besonders beeindruckt ihn der erstaunlich geringe Aufwand an erzählerischen Mitteln, die Fähigkeit dieses Autors, noch "im unscheinbarsten Fragment das Ganze" aufscheinen zu lassen. Doch auch Tyrewalas Lesart der "Dialektik der Aufklärung" in der immer noch von der Religion beherrschten indischen Gesellschaft überzeugt ihn sehr.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Tyrewala führt uns nämlich menschliche Schicksale vor. Er erzeugt, erzählend, mit erstaunlich geringem Aufwand, einen gewaltigen Sog.« Martin Lüdke DIE ZEIT