Die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller - weit mehr als ein Zweckbündnis?»Leben Sie wohl und lieben mich, es ist nicht einseitig.« (Goethe an Schiller am 18. März 1795)Wo frühere Biographen in Goethes und Schillers Verbindung oft nur das bloße Zweckbündnis sahen und selbst in jüngster Zeit der Fokus eher auf die »gemeinsame Lebensarbeit« gerichtet wurde, deckt Katharina Mommsen noch ganz andere, bisher verborgene Dimensionen des einzigartigen Dichterbundes auf: In vielen Liebesgedichten, die die Freunde einander insgeheim zueigneten, und in chiffrierten Zeugnissen gegenseitiger Zuneigung ist ein geheimer Dialog zu entdecken, der den innersten Grund ihrer Partnerschaft offenbart.Die deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin lenkt den Blick auf die Geburt der Weimarer Klassik aus dem Geist des platonischen Eros. Dicht an den Texten lässt sich das gemeinsame Ringen um Wiedergewinnung antiken Geistes verfolgen, das nicht nur Sehen, Denken und Schreiben der Dichter, sondern auch ihr Gefühlsleben verwandelte.Zum 85. Geburtstag der großen Goethe-Forscherin am 18. September 2010.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2011Eine Angelegenheit zwischen Mann und Mann
Erotisch bewegt, aber gut getarnt: Die berühmte Goethe-Forscherin Katharina Mommsen aus Stanford deutet mit philologischem Eros das Freundschaftsbündnis zwischen Goethe und Schiller neu.
Rechtzeitig zum eigenen fünfundachtzigsten Geburtstag überrascht Katharina Mommsen, die renommierte Goethe-Forscherin und emeritierte Professorin für Germanistik an der amerikanischen Stanford University, ihre Leser mit einem thematischen Novum. Ihre neueste Publikation ist nämlich alles andere als eine von ihr zu erwartende geistige Morgenlandreise in den Goetheschen Kosmos der arabischen Welt. Obgleich die langjährigen Freunde unter ihren Lesern immer schon wussten, dass es viele Wohnungen gibt im Katharina-Mommsen-Haus.
Nachprüfbar ist dies jetzt im "Liber amicorum", der eindrucksvollen, mehr als siebenhundert Seiten umfassenden Geburtstagsfestschrift. Es ist eine kosmopolitische, Grenzen überschreitende "Divan"-Schrift der Freundschaft, in der das weite Spektrum der über dreißig Beiträge sich als wiederholte Spiegelung des Werkstattgeheimnisses Mommsenscher Goethe-Forschung erweist. Dass nämlich nur das Gründliche wirklich belebend und unterhaltsam ist. Eine Einsicht Goethes, die sich denn auch in Mommsens neuester Publikation als wirkmächtig erweist. Holt sie doch eindringlich nach, was im Jahr 2009 zu Schillers 250. und Goethes 260. Geburtstag auffällig genug nicht gefeiert wurde: die "erotisch bewegte Wechselbeziehung" (Ilse Graham) zwischen den beiden Geistesantipoden.
Es geht, bei Licht besehen, um eine editorische Zusammenführung von Aufsätzen und Vorträgen Katharina Mommsens zu einem Thema, das sie selbst schon lange beschäftigt hat, das aber von anderen bislang nicht bemerkt worden ist. Katharina Mommsen ist jedenfalls konsequent den Spuren jenes "erotisch bewegten", aber gut getarnten Dialogs nachgegangen, den die beiden Dioskuren als liebende Freunde in lyrischer Form geführt haben. Es ist eine durch Empathie erhellte Spurensuche, die einem wichtigen, aber unbeachtet gebliebenen Hinweis Thomas Manns geschuldet ist. Hatte Thomas Mann doch 1955 - zum 150. Todestag Schillers - in seinem Versuch über Schiller Tabuisiertes zur Sprache gebracht. Dass nämlich im Schillerschen Verhältnis zu Goethe nicht allein von Freundschaft, sondern von Liebe die Rede ist. Ein platonisch-homoerotischer Sachverhalt also, den jedenfalls deutsche Geschichtsschreiber über Generationen ebenso wenig zur Kenntnis genommen haben wie die Literaturwissenschaft.
Katharina Mommsen ist jedoch nicht nur diesem Thomas-Mann-Hinweis zur unwiderstehlichen Anziehungskraft Goethes auf Schiller nachgegangen. Sie hat auch umgekehrt gefragt: Welche Anziehungskraft hatte für Goethe die Gestalt Schillers? Eine im Grund naheliegende Frage, da sie Goethe selbst beantwortet hat in seinem Bericht über das glückliche Ereignis seiner Schiller-Begegnung vom Juli 1794: "Schillers Anziehungskraft war groß." Und es sind die überraschend zahlreichen lyrisch verschlüsselten Manifestationen dieser großen wechselseitigen Anziehungskraft, die Mommsen überzeugend dechiffriert. Das gilt nicht nur für Schillers bedeutendes Gedicht der Goethe-Verehrung "Das Glück". Katharina Mommsen hat auch eine Vielzahl anderer Gedichte Schillers - wie zum Beispiel "Das Geheimnis" und "Die große Erwartung" - mit dem "Augenglas der Liebe" neu gelesen.
Und im Gegensatz zu Thomas Manns Meinung hat auch Goethe Gedichte für den werbenden Freund geschrieben, die Schiller als geheime Liebesbotschaft auf sich beziehen konnte. So entschlüsselt Mommsen mit philologischem Eros unter anderem Goethes Gedichte "Nähe des Geliebten", "An die Erwählte" und die Elegie "Alexis und Dora" als kryptische Dialoge der Liebe. Und überraschend neu gelesen hat sie auch Goethes Märchen als Antwort auf Schillers Ästhetische Briefe.
Dass Goethe gleichwohl dem geliebten Freund niemals das vertraute Du angeboten hat, ist für Mommsen angesichts dieser literarischen Liebes-Camouflage genügend evident: Gegenüber der Philister-Welt galt es, "Distanz zu wahren und den Schein einer homoerotischen Zuneigung zu vermeiden". Leider fehlt der Hinweis, dass umgekehrt (und hierauf hat Rüdiger Safranski in seiner Geschichte einer Freundschaft aufmerksam gemacht) Schiller nie Goethes "Bettschatz" Christiane briefweise hat grüßen lassen. Schon Thomas Mann hatte das Fazit gezogen: Schillers großes "Abenteuer des Daseins, seine Erfahrung der Passion ... war eine Angelegenheit zwischen Mann und Mann, zwischen ihm, dem ganz Männlichen, und jenem, dem er weibliche Artung zusprechen wollte - es war sein Verhältnis zu Goethe". Die Notwendigkeit einer eigenen Erwiderung dieser männlichen Freundschaftssehnsucht Schillers hat Goethe nach Schillers Tod selbst erläutert: "Große Liebe und Zutrauen, Bedürfnis und Treue in hohem Grade" seien gefordert gewesen; eine autobiographische Konfession Goethes von 1825, auf die Mommsen ausdrücklich hinweist.
Unberücksichtigt bleibt leider, was Goethe ein Jahr vorher an Zelter ausgerechnet über seinen Briefwechsel mit Schiller offenbart hat. Über dieses bis heute gerühmte zentrale Dokument der Dioskurenfreundschaft bemerkt Goethe nämlich desillusionierend und lakonisch, man sehe darin "zwei Männer", die jenseits ihrer wahren Anlagen und Absichten "par force" - also gewaltsam! - in "innerer Übertätigkeit die Zeit zersplittern". Ganz zu schweigen von Goethes späten Urteilen unter anderem über die gemeinsame Horen-Arbeit ("Zeitverschwendung ganz ohne Folgen") oder über Schillers Bühnenwerke, die er 1812 gegenüber Schillers Freund (!) Körner qualifiziert als "zusammengeschnitten" und "rhapsodisch". Wie erklären sich diese nach Schillers Tod nachweisbaren Liebes- und Freundschaftswidersprüche? Wie verhält sich überhaupt die postmortale Verherrlichungskarriere Schillers (unter anderem in Goethes Terzinen von 1826 auf Schillers Schädel) zu diesen so wenig liebevollen Urteilen über den Freund? Und war es nicht Goethe, der zu Beginn der Freundschaft schon hingewiesen hatte auf "die tiefe Kluft" zwischen zwei Geistesantipoden?
Aufschlussreich erscheint da Mommsens Hinweis, dass Goethe selbst eine "langlebige Legende" zum eigenen Schiller-Verhältnis geschaffen habe. Er habe nämlich immer wieder aus "Pietät" gegenüber Schiller gern auf dichterische Arbeiten hingewiesen, die er der Zusammenarbeit mit dem Freund verdankte. Auf diese Weise habe Goethe verschleiert, dass Werke großen Stils gerade in der Schiller-Zeit in Wahrheit nicht im erhofften Maße zustande gekommen seien. Wären dann die erwähnten kritischen Schiller-Urteile Goethes nach 1805 möglicherweise zu deuten als Widerruf dieser "langlebigen Legende"?
Dass die 1825 von Goethe erwähnte "große Liebe" zwischen ihm und Schiller im Geiste ihres gemeinsamen Verständnisses der Antike durchaus auch homoerotisch verstanden werden darf, bleibt jedenfalls das Verdienst dieser editorisch und redaktionell von Ute Maack vorbildlich betreuten Anthologie der Aufsätze und Vorträge Katharina Mommsens. Sie werden ergänzt durch ein Nachwort von Ute Maack mit einem Überblick über die inzwischen erschienene neuere Literatur zu den von Katharina Mommsen untersuchten dichterischen Texten des verdeckten Liebesdialogs zwischen Goethe und Schiller. Der "erotischen Goethe-Biographie" mit dem reißerischen Zeitgeist-Titel "Die Liebkosungen des Tigers", in der Karl Hugo Pruys Goethe 1997 als "Schwulen" zu outen versucht, kann man zwar schwerlich zustimmen. Dennoch sollte diese Tendenz-Publikation in der Bibliographie nicht fehlen. Allein schon deshalb, um Goethe-Liebhabern Gelegenheit zu geben, Unterstellungen dieser Art zu widerlegen. Hat Goethe doch selbst 1830 gegenüber Kanzler von Müller die "griechische Liebe", also die Männerliebe, als "Verwirrung" bezeichnet. Allerdings mit dem erläuternden Zusatz - außerhalb jeder political correctness -: ". . . dass nach rein ästhetischem Maßstab der Mann immerhin weit schöner, vorzüglicher, vollendeter wie die Frau sei". Dies jedoch mit der wichtigen Einschränkung: "Ein solches einmal entstandenes Gefühl" für den Mann laufe Gefahr, "leicht ins Tierische, grob Materielle hinüber zu schwenken".
MANFRED OSTEN.
Katharina Mommsen: "Kein Rettungsmittel als die Liebe". Schillers und Goethes Bündnis im Spiegel ihrer Dichtungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 379 S., geb., 28,- [Euro].
"Liber amicorum". Festschrift - Katharina Mommsen zum 85. Geburtstag.
Bernstein Verlag, Bonn 2010. 728 S., geb., 89,- [Euro].
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Erotisch bewegt, aber gut getarnt: Die berühmte Goethe-Forscherin Katharina Mommsen aus Stanford deutet mit philologischem Eros das Freundschaftsbündnis zwischen Goethe und Schiller neu.
Rechtzeitig zum eigenen fünfundachtzigsten Geburtstag überrascht Katharina Mommsen, die renommierte Goethe-Forscherin und emeritierte Professorin für Germanistik an der amerikanischen Stanford University, ihre Leser mit einem thematischen Novum. Ihre neueste Publikation ist nämlich alles andere als eine von ihr zu erwartende geistige Morgenlandreise in den Goetheschen Kosmos der arabischen Welt. Obgleich die langjährigen Freunde unter ihren Lesern immer schon wussten, dass es viele Wohnungen gibt im Katharina-Mommsen-Haus.
Nachprüfbar ist dies jetzt im "Liber amicorum", der eindrucksvollen, mehr als siebenhundert Seiten umfassenden Geburtstagsfestschrift. Es ist eine kosmopolitische, Grenzen überschreitende "Divan"-Schrift der Freundschaft, in der das weite Spektrum der über dreißig Beiträge sich als wiederholte Spiegelung des Werkstattgeheimnisses Mommsenscher Goethe-Forschung erweist. Dass nämlich nur das Gründliche wirklich belebend und unterhaltsam ist. Eine Einsicht Goethes, die sich denn auch in Mommsens neuester Publikation als wirkmächtig erweist. Holt sie doch eindringlich nach, was im Jahr 2009 zu Schillers 250. und Goethes 260. Geburtstag auffällig genug nicht gefeiert wurde: die "erotisch bewegte Wechselbeziehung" (Ilse Graham) zwischen den beiden Geistesantipoden.
Es geht, bei Licht besehen, um eine editorische Zusammenführung von Aufsätzen und Vorträgen Katharina Mommsens zu einem Thema, das sie selbst schon lange beschäftigt hat, das aber von anderen bislang nicht bemerkt worden ist. Katharina Mommsen ist jedenfalls konsequent den Spuren jenes "erotisch bewegten", aber gut getarnten Dialogs nachgegangen, den die beiden Dioskuren als liebende Freunde in lyrischer Form geführt haben. Es ist eine durch Empathie erhellte Spurensuche, die einem wichtigen, aber unbeachtet gebliebenen Hinweis Thomas Manns geschuldet ist. Hatte Thomas Mann doch 1955 - zum 150. Todestag Schillers - in seinem Versuch über Schiller Tabuisiertes zur Sprache gebracht. Dass nämlich im Schillerschen Verhältnis zu Goethe nicht allein von Freundschaft, sondern von Liebe die Rede ist. Ein platonisch-homoerotischer Sachverhalt also, den jedenfalls deutsche Geschichtsschreiber über Generationen ebenso wenig zur Kenntnis genommen haben wie die Literaturwissenschaft.
Katharina Mommsen ist jedoch nicht nur diesem Thomas-Mann-Hinweis zur unwiderstehlichen Anziehungskraft Goethes auf Schiller nachgegangen. Sie hat auch umgekehrt gefragt: Welche Anziehungskraft hatte für Goethe die Gestalt Schillers? Eine im Grund naheliegende Frage, da sie Goethe selbst beantwortet hat in seinem Bericht über das glückliche Ereignis seiner Schiller-Begegnung vom Juli 1794: "Schillers Anziehungskraft war groß." Und es sind die überraschend zahlreichen lyrisch verschlüsselten Manifestationen dieser großen wechselseitigen Anziehungskraft, die Mommsen überzeugend dechiffriert. Das gilt nicht nur für Schillers bedeutendes Gedicht der Goethe-Verehrung "Das Glück". Katharina Mommsen hat auch eine Vielzahl anderer Gedichte Schillers - wie zum Beispiel "Das Geheimnis" und "Die große Erwartung" - mit dem "Augenglas der Liebe" neu gelesen.
Und im Gegensatz zu Thomas Manns Meinung hat auch Goethe Gedichte für den werbenden Freund geschrieben, die Schiller als geheime Liebesbotschaft auf sich beziehen konnte. So entschlüsselt Mommsen mit philologischem Eros unter anderem Goethes Gedichte "Nähe des Geliebten", "An die Erwählte" und die Elegie "Alexis und Dora" als kryptische Dialoge der Liebe. Und überraschend neu gelesen hat sie auch Goethes Märchen als Antwort auf Schillers Ästhetische Briefe.
Dass Goethe gleichwohl dem geliebten Freund niemals das vertraute Du angeboten hat, ist für Mommsen angesichts dieser literarischen Liebes-Camouflage genügend evident: Gegenüber der Philister-Welt galt es, "Distanz zu wahren und den Schein einer homoerotischen Zuneigung zu vermeiden". Leider fehlt der Hinweis, dass umgekehrt (und hierauf hat Rüdiger Safranski in seiner Geschichte einer Freundschaft aufmerksam gemacht) Schiller nie Goethes "Bettschatz" Christiane briefweise hat grüßen lassen. Schon Thomas Mann hatte das Fazit gezogen: Schillers großes "Abenteuer des Daseins, seine Erfahrung der Passion ... war eine Angelegenheit zwischen Mann und Mann, zwischen ihm, dem ganz Männlichen, und jenem, dem er weibliche Artung zusprechen wollte - es war sein Verhältnis zu Goethe". Die Notwendigkeit einer eigenen Erwiderung dieser männlichen Freundschaftssehnsucht Schillers hat Goethe nach Schillers Tod selbst erläutert: "Große Liebe und Zutrauen, Bedürfnis und Treue in hohem Grade" seien gefordert gewesen; eine autobiographische Konfession Goethes von 1825, auf die Mommsen ausdrücklich hinweist.
Unberücksichtigt bleibt leider, was Goethe ein Jahr vorher an Zelter ausgerechnet über seinen Briefwechsel mit Schiller offenbart hat. Über dieses bis heute gerühmte zentrale Dokument der Dioskurenfreundschaft bemerkt Goethe nämlich desillusionierend und lakonisch, man sehe darin "zwei Männer", die jenseits ihrer wahren Anlagen und Absichten "par force" - also gewaltsam! - in "innerer Übertätigkeit die Zeit zersplittern". Ganz zu schweigen von Goethes späten Urteilen unter anderem über die gemeinsame Horen-Arbeit ("Zeitverschwendung ganz ohne Folgen") oder über Schillers Bühnenwerke, die er 1812 gegenüber Schillers Freund (!) Körner qualifiziert als "zusammengeschnitten" und "rhapsodisch". Wie erklären sich diese nach Schillers Tod nachweisbaren Liebes- und Freundschaftswidersprüche? Wie verhält sich überhaupt die postmortale Verherrlichungskarriere Schillers (unter anderem in Goethes Terzinen von 1826 auf Schillers Schädel) zu diesen so wenig liebevollen Urteilen über den Freund? Und war es nicht Goethe, der zu Beginn der Freundschaft schon hingewiesen hatte auf "die tiefe Kluft" zwischen zwei Geistesantipoden?
Aufschlussreich erscheint da Mommsens Hinweis, dass Goethe selbst eine "langlebige Legende" zum eigenen Schiller-Verhältnis geschaffen habe. Er habe nämlich immer wieder aus "Pietät" gegenüber Schiller gern auf dichterische Arbeiten hingewiesen, die er der Zusammenarbeit mit dem Freund verdankte. Auf diese Weise habe Goethe verschleiert, dass Werke großen Stils gerade in der Schiller-Zeit in Wahrheit nicht im erhofften Maße zustande gekommen seien. Wären dann die erwähnten kritischen Schiller-Urteile Goethes nach 1805 möglicherweise zu deuten als Widerruf dieser "langlebigen Legende"?
Dass die 1825 von Goethe erwähnte "große Liebe" zwischen ihm und Schiller im Geiste ihres gemeinsamen Verständnisses der Antike durchaus auch homoerotisch verstanden werden darf, bleibt jedenfalls das Verdienst dieser editorisch und redaktionell von Ute Maack vorbildlich betreuten Anthologie der Aufsätze und Vorträge Katharina Mommsens. Sie werden ergänzt durch ein Nachwort von Ute Maack mit einem Überblick über die inzwischen erschienene neuere Literatur zu den von Katharina Mommsen untersuchten dichterischen Texten des verdeckten Liebesdialogs zwischen Goethe und Schiller. Der "erotischen Goethe-Biographie" mit dem reißerischen Zeitgeist-Titel "Die Liebkosungen des Tigers", in der Karl Hugo Pruys Goethe 1997 als "Schwulen" zu outen versucht, kann man zwar schwerlich zustimmen. Dennoch sollte diese Tendenz-Publikation in der Bibliographie nicht fehlen. Allein schon deshalb, um Goethe-Liebhabern Gelegenheit zu geben, Unterstellungen dieser Art zu widerlegen. Hat Goethe doch selbst 1830 gegenüber Kanzler von Müller die "griechische Liebe", also die Männerliebe, als "Verwirrung" bezeichnet. Allerdings mit dem erläuternden Zusatz - außerhalb jeder political correctness -: ". . . dass nach rein ästhetischem Maßstab der Mann immerhin weit schöner, vorzüglicher, vollendeter wie die Frau sei". Dies jedoch mit der wichtigen Einschränkung: "Ein solches einmal entstandenes Gefühl" für den Mann laufe Gefahr, "leicht ins Tierische, grob Materielle hinüber zu schwenken".
MANFRED OSTEN.
Katharina Mommsen: "Kein Rettungsmittel als die Liebe". Schillers und Goethes Bündnis im Spiegel ihrer Dichtungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 379 S., geb., 28,- [Euro].
"Liber amicorum". Festschrift - Katharina Mommsen zum 85. Geburtstag.
Bernstein Verlag, Bonn 2010. 728 S., geb., 89,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Katharina Mommsen, immer noch große Dame der Goethe-Forschung, widmet sich in ihrem neuesten Buch der viel besungenen Freundschaft zwischen Goethe und Schiller. Hier gibt es einige Kapitel, die Rezensent Gustav Seibt auf jeden Fall wärmstens empfehlen kann, etwa zur Werkbeziehung zwischen den beiden. Aber Was die beiden verband, will Mommsen auch nachweisen, war nicht nur Kollegialität, nicht Freundschaft, sondern Liebe. Männerliebe. Da zuckt Seibt erst zurück und notiert die üblichen Einwände gegen eine buchstäbliche Lesart. Allerdings kommt er doch ein wenig ins Grübeln, ob Mommsen nicht doch recht haben könnte. Auch wenn er ihr letzten Endes nicht folgt, hat er doch ihre Ausführungen mit Gewinn gelesen und findet die Interpretation einiger Gedichte einfach bestechend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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