Die Spitzenpolitiker der Generation, die in den 60er und 70er Jahren den sozialen Aufstieg geschafft hat, kappen die Verbindung nach unten. Die neuen Gesetze fördern die neue Armut. Die Führungsschicht in Politik und Wirtschaft kompostiert die soziale Verantwortung. Ihre Reformpolitik ist einseitig und gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie schützt nicht vor sozialen Risiken, sondern produziert diese Risiken neu. Sie fördert nicht den Gemeinsinn, sondern praktiziert Gemeinheit. Sie entsorgt die Solidarität und belastet damit die Familien mit Kindern. Die Leute werden arm gemacht, kriegen aber keinen Job. Die Folgen einer Politik, die weder sozial noch christlich, sondern vor allem unanständig ist, sind abzusehen: Die Volksparteien entfremden sich dem Volk, die Wähler laufen in Massen weg. Dann schlägt die Stunde des Populisten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.2005Schutzengel, Ermöglicher, Heimat
Heribert Prantl singt ein fulminantes Hohelied auf den Sozialstaat
Heribert Prantl: Kein schöner Land. Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit. Droemer Verlag, München 2005, 208 Seiten, 12,90 Euro.
Gleichgültig, ob sich nun jemand aufmacht, den Sozialstaat anzuklagen oder ihn zu verteidigen - immer ist bei solchen Diskussionen entscheidend, welches Menschenbild und Staatsverständnis der jeweiligen Argumentation zugrunde liegt. Davon hängt alles weitere ab: ob dem Staat nur minimale, subsidiäre oder weiterreichende Aufgaben zugeschrieben werden, ob dem Wettbewerbsprinzip seine kreative Kraft zugestanden wird oder ob diese nur eingeschränkt zur Wirkung kommen darf, ob das private Eigentum geschützt ist oder dem Zugriff einer demokratischen Mehrheit unterworfen wird. Heribert Prantl, Leiter des innenpolitischen Ressorts der "Süddeutschen Zeitung", klagt in seinem Buch, daß "die soziale Marktwirtschaft zerbröselt" - und stellt seine rhetorische Begabung in den Dienst eines fulminanten Hoheliedes auf den Sozialstaat. Hierbei bleibt an seinem Menschenbild und Staatsverständnis kein Zweifel: Der Mensch ist für ihn unsicher und schwach, der Satz "Jeder ist seines Glückes Schmied" scheint ihm bloß zynisch. "Lebendige Menschen müssen nicht nur in die Lage versetzt werden, ihr eigenes Leben zu leben, sie müssen sich auch geschützt und sicher fühlen."
Dementsprechend ist für Prantl der Sozialstaat eine "Art persönlicher Schutzengel". Denn "der Sozialstaat ist der große Ermöglicher". Und, romantischer: "Der Sozialstaat ist Heimat." Individuellen Freiheitsrechten kann der Autor daher nur bedingt etwas abgewinnen: "Schrankenlose Freiheit zerstört sich selbst." Auch von Vertragsfreiheit hält er nicht viel: "Völlige Vertragsfreiheit heißt: Die Vertragsparteien können ihre Beziehungen zueinander beliebig gestalten. Der Beliebigkeit müssen aber Grenzen gesetzt werden."
Wesentlicher argumentativer Ausgangspunkt des früheren Richters und Staatsanwalts ist das Grundgesetz, insbesondere die in Artikel 14 Absatz 2 festgehaltene Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Als Auslegungshilfe zitiert Prantl unter anderem Artikel 161 Absatz 2 der bayrischen Landesverfassung: "Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen." Man staunt - in der Tat auch über die Bayern, vor allem aber über den Autor, der einer solchen Enteignung vollen Herzens zustimmt: "Nichts liegt näher, als unverdiente Wertsteigerungen abzuschöpfen." Das Erstaunliche an den Sozialisten in allen Sparten der Gesellschaft ist neben ihrer Respektlosigkeit gegenüber dem Eigentum anderer doch immer wieder ihre Urteilssicherheit - und die bodenlose Anmaßung, darüber zu befinden, was denn "unverdient" ist. Ganz abgesehen davon, daß fraglich ist, ob das geschriebene Recht immer schon das Ende der moralischen Begründungspflicht darstellt.
Zu großer rhetorischer Form läuft Prantl auf, wenn er die Verbände, die Wirtschaftspolitik und die Vertreter der Wirtschaftswissenschaften geißelt. Vor dem Hintergrund einer ausschließlichen Fokussierung auf Arbeitsplätze und Wachstum "stieg das Recht auf ungestörte Investitionsausübung zum ungeschriebenen deutschen Super-Grundrecht auf", spottet er. "Artikel 1: Der Standort Deutschland ist unantastbar. Ihn zu schützen und zu fördern ist erste Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
Den deutschen Ökonomen wirft er vor, sie hätten sich zu Unrecht auf die einzelwirtschaftliche statt auf die gesamtwirtschaftliche Analyse kapriziert und könnten größere Zusammenhänge kaum noch erfassen, im deutschen "Wissenschaftssystem" seien Neokeynesianer durch angebotsorientierte Neoklassiker verdrängt worden, und die empirische Nationalökonomie sei in Deutschland auf dem Rückzug, was auch ihre internationale Schwäche begründe. Wo er nur diesen Befund her hat? Als Beweismaterial wirft Prantl den Zwist zwischen dem früheren Vorsitzenden des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Wolfgang Wiegard, und dem ausgeprägt keynesianischen Ratsmitglied Peter Bofinger in den Ring. Dabei entgeht ihm aber offenbar völlig, daß keynesianische Modelle auch an deutschen Universitäten das Brot-und-Butter-Geschäft darstellen, sich die Kritik an Bofinger aber mehr an einem zweifelhaften vulgärkeynesianischen Weltbild entzündete. Auch ist Prantl schnell mit dem nicht zutreffenden Resümee an der Hand, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Klaus Zimmermann, habe dem früheren Leiter der Konjunkturabteilung, Gustav Adolf Horn, wegen dessen "wissenschaftlicher Ausrichtung gekündigt". Am DIW ging es nicht um die Ausrichtung, sondern um die Publikationshäufigkeit, Horn wurde auch nicht gekündigt, sondern sein Vertrag nicht verlängert, und Zimmermann ist natürlich gar nicht in einer Position, so etwas allein zu entscheiden.
Auch sonst hat man sich das alles schon mehr als einmal anhören müssen, was Prantl da schreibt: daß Freiheitsrechte nur auf dem Boden einer solidarischen Grundsicherung Wirkung entfalten können, daß sonst der "Kapitalismus die Demokratie frißt", daß eine kinderlose Gesellschaft zwangsläufig zerfällt, daß der "Neoliberalismus" eine zynische Ersatzreligion darstellt. Besser werden diese platten Anwürfe durch bloße Wiederholung nicht. Dabei schreibt Prantl freilich in einer dahingaloppierenden Sprache von solcher polemischer Kraft, daß die Lektüre auch für den noch reizvoll ist, der sich an manch leichtfertigem Urteil, an der dünnen philosophischen Untermauerung und noch mehr am allzu simplen Weltbild reibt. Manchmal ist sie sogar regelrecht erheiternd.
KAREN HORN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heribert Prantl singt ein fulminantes Hohelied auf den Sozialstaat
Heribert Prantl: Kein schöner Land. Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit. Droemer Verlag, München 2005, 208 Seiten, 12,90 Euro.
Gleichgültig, ob sich nun jemand aufmacht, den Sozialstaat anzuklagen oder ihn zu verteidigen - immer ist bei solchen Diskussionen entscheidend, welches Menschenbild und Staatsverständnis der jeweiligen Argumentation zugrunde liegt. Davon hängt alles weitere ab: ob dem Staat nur minimale, subsidiäre oder weiterreichende Aufgaben zugeschrieben werden, ob dem Wettbewerbsprinzip seine kreative Kraft zugestanden wird oder ob diese nur eingeschränkt zur Wirkung kommen darf, ob das private Eigentum geschützt ist oder dem Zugriff einer demokratischen Mehrheit unterworfen wird. Heribert Prantl, Leiter des innenpolitischen Ressorts der "Süddeutschen Zeitung", klagt in seinem Buch, daß "die soziale Marktwirtschaft zerbröselt" - und stellt seine rhetorische Begabung in den Dienst eines fulminanten Hoheliedes auf den Sozialstaat. Hierbei bleibt an seinem Menschenbild und Staatsverständnis kein Zweifel: Der Mensch ist für ihn unsicher und schwach, der Satz "Jeder ist seines Glückes Schmied" scheint ihm bloß zynisch. "Lebendige Menschen müssen nicht nur in die Lage versetzt werden, ihr eigenes Leben zu leben, sie müssen sich auch geschützt und sicher fühlen."
Dementsprechend ist für Prantl der Sozialstaat eine "Art persönlicher Schutzengel". Denn "der Sozialstaat ist der große Ermöglicher". Und, romantischer: "Der Sozialstaat ist Heimat." Individuellen Freiheitsrechten kann der Autor daher nur bedingt etwas abgewinnen: "Schrankenlose Freiheit zerstört sich selbst." Auch von Vertragsfreiheit hält er nicht viel: "Völlige Vertragsfreiheit heißt: Die Vertragsparteien können ihre Beziehungen zueinander beliebig gestalten. Der Beliebigkeit müssen aber Grenzen gesetzt werden."
Wesentlicher argumentativer Ausgangspunkt des früheren Richters und Staatsanwalts ist das Grundgesetz, insbesondere die in Artikel 14 Absatz 2 festgehaltene Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Als Auslegungshilfe zitiert Prantl unter anderem Artikel 161 Absatz 2 der bayrischen Landesverfassung: "Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen." Man staunt - in der Tat auch über die Bayern, vor allem aber über den Autor, der einer solchen Enteignung vollen Herzens zustimmt: "Nichts liegt näher, als unverdiente Wertsteigerungen abzuschöpfen." Das Erstaunliche an den Sozialisten in allen Sparten der Gesellschaft ist neben ihrer Respektlosigkeit gegenüber dem Eigentum anderer doch immer wieder ihre Urteilssicherheit - und die bodenlose Anmaßung, darüber zu befinden, was denn "unverdient" ist. Ganz abgesehen davon, daß fraglich ist, ob das geschriebene Recht immer schon das Ende der moralischen Begründungspflicht darstellt.
Zu großer rhetorischer Form läuft Prantl auf, wenn er die Verbände, die Wirtschaftspolitik und die Vertreter der Wirtschaftswissenschaften geißelt. Vor dem Hintergrund einer ausschließlichen Fokussierung auf Arbeitsplätze und Wachstum "stieg das Recht auf ungestörte Investitionsausübung zum ungeschriebenen deutschen Super-Grundrecht auf", spottet er. "Artikel 1: Der Standort Deutschland ist unantastbar. Ihn zu schützen und zu fördern ist erste Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
Den deutschen Ökonomen wirft er vor, sie hätten sich zu Unrecht auf die einzelwirtschaftliche statt auf die gesamtwirtschaftliche Analyse kapriziert und könnten größere Zusammenhänge kaum noch erfassen, im deutschen "Wissenschaftssystem" seien Neokeynesianer durch angebotsorientierte Neoklassiker verdrängt worden, und die empirische Nationalökonomie sei in Deutschland auf dem Rückzug, was auch ihre internationale Schwäche begründe. Wo er nur diesen Befund her hat? Als Beweismaterial wirft Prantl den Zwist zwischen dem früheren Vorsitzenden des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Wolfgang Wiegard, und dem ausgeprägt keynesianischen Ratsmitglied Peter Bofinger in den Ring. Dabei entgeht ihm aber offenbar völlig, daß keynesianische Modelle auch an deutschen Universitäten das Brot-und-Butter-Geschäft darstellen, sich die Kritik an Bofinger aber mehr an einem zweifelhaften vulgärkeynesianischen Weltbild entzündete. Auch ist Prantl schnell mit dem nicht zutreffenden Resümee an der Hand, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Klaus Zimmermann, habe dem früheren Leiter der Konjunkturabteilung, Gustav Adolf Horn, wegen dessen "wissenschaftlicher Ausrichtung gekündigt". Am DIW ging es nicht um die Ausrichtung, sondern um die Publikationshäufigkeit, Horn wurde auch nicht gekündigt, sondern sein Vertrag nicht verlängert, und Zimmermann ist natürlich gar nicht in einer Position, so etwas allein zu entscheiden.
Auch sonst hat man sich das alles schon mehr als einmal anhören müssen, was Prantl da schreibt: daß Freiheitsrechte nur auf dem Boden einer solidarischen Grundsicherung Wirkung entfalten können, daß sonst der "Kapitalismus die Demokratie frißt", daß eine kinderlose Gesellschaft zwangsläufig zerfällt, daß der "Neoliberalismus" eine zynische Ersatzreligion darstellt. Besser werden diese platten Anwürfe durch bloße Wiederholung nicht. Dabei schreibt Prantl freilich in einer dahingaloppierenden Sprache von solcher polemischer Kraft, daß die Lektüre auch für den noch reizvoll ist, der sich an manch leichtfertigem Urteil, an der dünnen philosophischen Untermauerung und noch mehr am allzu simplen Weltbild reibt. Manchmal ist sie sogar regelrecht erheiternd.
KAREN HORN
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Heribert Prantl gehört zu den allgegenwärtigen Reformgegnern und Anti-Liberalen im Land, charakterisiert Ulrike Winkelmann den Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", der sich seit der Verkündung des Kanzlerprogramms "Agenda 2010" zum Verteidiger und Rächer des Sozialstaats berufen fühle. Als habe er sämtliche seiner Kommentare zu einer 2oo-seitigen "Wutrede" zusammengefügt, hebe Prantl nun in großem Bogen zur Verteidigung des Sozialstaats an, "dass es eine Art hat", wie die Rezensentin erstaunt bemerkt. Diese Art sei einerseits von Prantls juristischer Ausbildung geprägt und dabei stark am Verfassungsgebot der Sozialstaatlichkeit und am Arbeitsrecht orientiert, andererseits sei sie schlicht bildungsbürgerlich, konstatiert Winkelmann. Kein juristischer Fakt bleibt ohne literarischen Vergleich oder wenigstens ein lateinisches Zitat, was ihm den Beifall auch des konservativen Publikums sichern wird, prophezeit die Rezensentin. Prantl trage seinen Argumente "schmissig" und überzeugend vor, bis auf einen Schwachpunkt. Er wird dort ungenau, "wo er bürgerliche Werte von links verteidigt". Dass Familien unbedingt Armutsopfer sind, zieht Winkelmann beispielsweise in Zweifel. In solchen Fällen wünscht sie sich etwas weniger Wut und bessere Argumente.
© Perlentaucher Medien GmbH
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