"Kein Tag ohne" ist eine lyrische Chronik der vergangenen zwei Jahre - persönlich, intim und zugleich Ilma Rakusas politischstes Buch. Von Oktober 2020 bis Februar 2022 vergeht für sie kaum ein Tag ohne Gedicht. Was ist in dieser Zeit nur alles geschehen. Die andauernde Corona-Pandemie, die Wiedereroberung Kabuls durch die Taliban, Niederschlagung der Demokratiebewegung in Belarus und jüngst der schreckliche Krieg Russlands gegen die Ukraine.Ilma Rakusa ist Kosmopolitin, eine femme de lettre und Expertin Osteuropas. Dass sie diese grauenhaften und schockierenden Ereignisse nicht unberührt lassen, zeigen Zeilen wie diese: »du willst noch retten / was zu retten ist / nur wie? / ein Wechselbad ist diese Zeit / ihr Siegel: / Bitterkeit«Bei all den aufwühlenden Ereignissen ist es Balsam für die lesende Seele, dass sich auch viele andere Kleinode in diesem Band finden, die Impressionen des Augenblicks wiedergeben, Traumprotokolle, sinnliche Beschreibungen der Natur, von Lauten und Lichtern, aber auch flüchtige Gedanken und inniges Gedenken - feingeistige Beobachtungen des Ephemeren eingefangen in purer Poesie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2022Böse ferne Welten
Ilma Rakusas lyrisches Journal "Kein Tag ohne"
Ilma Rakusa, Lyrikerin und Lyrik-Übersetzerin, hat ihren neuen Gedichtband "Kein Tag ohne" genannt - nichts ist leichter, als diesen Titel durch das Wort "Gedichte" zu ergänzen. Zwischen dem 22. Oktober 2020 und dem 26. Februar 2022 schrieb die Autorin fast jeden Tag ein Gedicht. Zusammen ergab das eine Art Tagebuch, das von persönlichen und politischen Ereignissen handelt, von der Corona-Pandemie, der Demokratiebewegung in Belarus, der Rückkehr der Taliban nach Kabul und dem Angriff Russlands auf die Ukraine.
All das will vom Schreibort Zürich aus bewältigt werden, aus Distanz und in Versen statt mittels prosahafter Reflexion. Ilma Rakusa sieht darin kein Problem: "Dass der Tag nicht ende ohne Zeile / die innere Stimme zum Zug komme / je stiller die Welt desto lauter/ sie will Gewicht/ mag kein Hindernis dazwischen." Doch die innere Stimme und das Gewicht der Welt kommen so einfach nicht zusammen.
Das Problem, dem sich Rakusa stellt, ist die Differenz zwischen dem Optimismus und Impetus der freiheitlichen Bewegungen und der Intransigenz und Grausamkeit totalitärer Systeme. So heißt es über Belarus, wo Protest und Repression in eins fallen: "Sie singen in Minsk / in weiß-rot-weißen Tüchern / Frauen in Höfen / furchtlos während die / Bösen maskiert / um sich schlagen mit Knüppeln / und ab in den Wagen." Das alles endet mit dem pathetischen Anruf "Blutbesudeltes Weißrussland / vergiss deinen Namen."
Wo Klage ist und pathetische Politisierung, ist wenig Anschauung. Sie kommt erst mit dem Detail ins Spiel, so etwa in einem Gedicht auf Tschernobyl, fünfunddreißig Jahre nach der Zerstörung des Reaktors. Da ist von Nadeshda die Rede, die alt und allein am Rand des Sperrgebiets wohnt: "Noch leb ich, hier gehör ich hin, / Wie lange hält sie durch / mit Ofen Zaun und Außenklo / die Muttergottes überm Bett." Ein ähnliches Maß an Anschauung gewinnen Porträts aus der privaten Sphäre, etwa die Nachrufe auf Friederike Mayröcker, die so sanft "selig" sagen konnte, und Péter Esterházy, dessen barockes Haar gerühmt wird.
Kaum ein Land dürfte fremder und entfernter sein als Afghanistan. Wo die direkte Kenntnis eines Betrachters fehlt, müssen Fernsehbilder die historische Realität synthetisieren; der normale Fernsehzuschauer braucht sie nicht minder als die Lyrikerin. So kommt es anlässlich Kabuls zu prosahaften Notaten: "Es gibt nur eine Rettung: / den Flugplatz / wenn man ihn erreicht / dort starten felsgraue Maschinen / etwa nach Taschkent / Menschensilos / vollgestopfte Riesenwale / mit Lebendware: Afghanen auf der Flucht." Man kennt die Bilder und die Pietäten.
Schließlich - oder nicht schließlich: die Ukraine. Das Buch geht auf den Schluss zu, nicht aber der Krieg. Vom russischen Truppenaufmarsch ist die Rede, und Ilma Rakusa begleitet mitfühlend (im Gedicht) eine Lesetour von Serhij Zhadan durch den Donbass. Dann aber ist das "Postskriptum" fällig. Darin wird der "Herr Kremlchef" angesprochen: "hören Sie zu: /die Not ist groß / und ganz konkret / sie kostet Leben!" Was schwer zu bestreiten ist. HARALD HARTUNG
Ilma Rakusa: "Kein Tag ohne." Gedichte.
Literaturverlag Droschl, Graz 2022. 236 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ilma Rakusas lyrisches Journal "Kein Tag ohne"
Ilma Rakusa, Lyrikerin und Lyrik-Übersetzerin, hat ihren neuen Gedichtband "Kein Tag ohne" genannt - nichts ist leichter, als diesen Titel durch das Wort "Gedichte" zu ergänzen. Zwischen dem 22. Oktober 2020 und dem 26. Februar 2022 schrieb die Autorin fast jeden Tag ein Gedicht. Zusammen ergab das eine Art Tagebuch, das von persönlichen und politischen Ereignissen handelt, von der Corona-Pandemie, der Demokratiebewegung in Belarus, der Rückkehr der Taliban nach Kabul und dem Angriff Russlands auf die Ukraine.
All das will vom Schreibort Zürich aus bewältigt werden, aus Distanz und in Versen statt mittels prosahafter Reflexion. Ilma Rakusa sieht darin kein Problem: "Dass der Tag nicht ende ohne Zeile / die innere Stimme zum Zug komme / je stiller die Welt desto lauter/ sie will Gewicht/ mag kein Hindernis dazwischen." Doch die innere Stimme und das Gewicht der Welt kommen so einfach nicht zusammen.
Das Problem, dem sich Rakusa stellt, ist die Differenz zwischen dem Optimismus und Impetus der freiheitlichen Bewegungen und der Intransigenz und Grausamkeit totalitärer Systeme. So heißt es über Belarus, wo Protest und Repression in eins fallen: "Sie singen in Minsk / in weiß-rot-weißen Tüchern / Frauen in Höfen / furchtlos während die / Bösen maskiert / um sich schlagen mit Knüppeln / und ab in den Wagen." Das alles endet mit dem pathetischen Anruf "Blutbesudeltes Weißrussland / vergiss deinen Namen."
Wo Klage ist und pathetische Politisierung, ist wenig Anschauung. Sie kommt erst mit dem Detail ins Spiel, so etwa in einem Gedicht auf Tschernobyl, fünfunddreißig Jahre nach der Zerstörung des Reaktors. Da ist von Nadeshda die Rede, die alt und allein am Rand des Sperrgebiets wohnt: "Noch leb ich, hier gehör ich hin, / Wie lange hält sie durch / mit Ofen Zaun und Außenklo / die Muttergottes überm Bett." Ein ähnliches Maß an Anschauung gewinnen Porträts aus der privaten Sphäre, etwa die Nachrufe auf Friederike Mayröcker, die so sanft "selig" sagen konnte, und Péter Esterházy, dessen barockes Haar gerühmt wird.
Kaum ein Land dürfte fremder und entfernter sein als Afghanistan. Wo die direkte Kenntnis eines Betrachters fehlt, müssen Fernsehbilder die historische Realität synthetisieren; der normale Fernsehzuschauer braucht sie nicht minder als die Lyrikerin. So kommt es anlässlich Kabuls zu prosahaften Notaten: "Es gibt nur eine Rettung: / den Flugplatz / wenn man ihn erreicht / dort starten felsgraue Maschinen / etwa nach Taschkent / Menschensilos / vollgestopfte Riesenwale / mit Lebendware: Afghanen auf der Flucht." Man kennt die Bilder und die Pietäten.
Schließlich - oder nicht schließlich: die Ukraine. Das Buch geht auf den Schluss zu, nicht aber der Krieg. Vom russischen Truppenaufmarsch ist die Rede, und Ilma Rakusa begleitet mitfühlend (im Gedicht) eine Lesetour von Serhij Zhadan durch den Donbass. Dann aber ist das "Postskriptum" fällig. Darin wird der "Herr Kremlchef" angesprochen: "hören Sie zu: /die Not ist groß / und ganz konkret / sie kostet Leben!" Was schwer zu bestreiten ist. HARALD HARTUNG
Ilma Rakusa: "Kein Tag ohne." Gedichte.
Literaturverlag Droschl, Graz 2022. 236 S., geb., 23,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Eineinhalb Jahre lang hat Ilma Rakusa fast jeden Tag ein Gedicht geschrieben, weiß Rezensent Paul Jandl nach der Lektüre des Gedichtbandes "Kein Tag ohne", und dabei Banales, Normales und Erschreckendes aufgenommen und verarbeitet. Neugierig, detailliert und sprachsensibel widme sich die Autorin Themen von Corona bis Krieg, sie schaue stets ganz genau hin, um dichterisch zu erforschen, was eigentlich vor sich geht. "Literatur menschlicher Ohnmacht" nennt der Rezensent das und ist froh, dass Rakusas Gedichte den Diktaturen und Katastrophen dieser Welt die Stirn bietet, egal, wie wenig das letzten Endes ausrichten mag.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Leuchtende, mit florettleichter Seele geschriebene Gedichte einer großen Zauberin, traumsicher, spielfreudig, anmutig und reich an Mysterium, selbst angesichts finsterster Tage unserer Neuen Gegenwart." (Clemens Setz)