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Provozierende Thesen zur deutschen Mentalität und das Land im europäischen Kräftespiel der letzten 150 Jahre - eine eindringliche Lektion in Sachen geistiger Unabhängigkeit
Karl Heinz Bohrers Wortmeldungen zur Politik zielen stets aufs Ganze. Am Tagesgeschäft interessiert ihn besonders, wie es verleugnete, verdrängte und vergessene Konflikte sichtbar macht. Deutschlands Weigerung, eine angemessene Rolle in der Welt zu spielen, der verklemmte Umgang mit der preußischen Vergangenheit, die Erinnerung an die beiden Weltkriege: An solchen Fragen zeigt sich, dass ein fundierter politischer…mehr

Produktbeschreibung
Provozierende Thesen zur deutschen Mentalität und das Land im europäischen Kräftespiel der letzten 150 Jahre - eine eindringliche Lektion in Sachen geistiger Unabhängigkeit

Karl Heinz Bohrers Wortmeldungen zur Politik zielen stets aufs Ganze. Am Tagesgeschäft interessiert ihn besonders, wie es verleugnete, verdrängte und vergessene Konflikte sichtbar macht. Deutschlands Weigerung, eine angemessene Rolle in der Welt zu spielen, der verklemmte Umgang mit der preußischen Vergangenheit, die Erinnerung an die beiden Weltkriege: An solchen Fragen zeigt sich, dass ein fundierter politischer Standpunkt auf die historische Perspektive, das philosophische Argument und die literarische Erinnerung nicht verzichten kann. In sechs Essays analysiert Bohrer das europäische Kräftespiel der letzten 150 Jahre - eine eindringliche Lektion in Sachen geistiger Unabhängigkeit.
Autorenporträt
Karl Heinz Bohrer, 1932 in Köln geboren, am 4.8.2021 in in seiner Wahlheimat London gestorben, war 1984-1997 Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld und seit 2003 Visiting Professor an der Stanford University. Von 1984 bis 2012 war er Herausgeber des MERKUR. Im Carl Hanser Verlag erschienen zuletzt: Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken (EA, 2011),Granatsplitter. Erzählungen einer Jugend (2012), Ist Kunst Illusion? (EA, 2015) und Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie (EA, 2016).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Als die aufregendste Neuerscheinung zum Jahrestag der deutschen Reichsgründung vor hundertfünfzig Jahren feiert Rezensent Gustav Seibt Karl Heinz Bohrers Brevier über die literarische Erbschaft des Jahres 1870. Seibt liest hier nach, dass eigentlich nur Wilhelm Raabe einen nennenswert einigungskritischen Roman verfasste ("Deutscher Adel"), dass sich Zola in ausführlichsten Schlachtbeschreibungen erging ("Débâcle") und Maupassant sadistische Preußen-Offiziere und furienhaften französischen Volkszorn in Szene setzte. Dass Bohrer in diesem literarischen Hass eine ästhetische Katharsis vermutet, die die Franzosen vor späteren Exzessen bewahrte, hält der Rezensent für eine fantastische Pointe "im Bohrerschen Lebenstanz mit dem Moralismus".

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.07.2020

Das ist eine blöde Geschichte
„Bismarck hat uns groß und mächtig gemacht, aber er raubte uns unsere Freunde“.
Zwei Kriege und eine Staatsgründung: Neue Bücher zu 1870/71 und den Folgen
VON GUSTAV SEIBT
Der Zufall wollte es, dass sowohl zum hundertsten wie jetzt zum hundertfünfzigsten Jahrestag der Reichsgründung von 1870/71 ein sozialdemokratischer Bundespräsident amtiert. 1971 erinnerte Gustav Heinemann an die Defizite: „Was 1871 erreicht wurde, war eine äußere Einheit ohne volle innere Freiheit der Bürger.“ Das liberale Erbe der nationalen Demokratiebewegungen seit den Befreiungskriegen sei ausgeschlagen worden.
Wird Frank-Walter Steinmeier sich jetzt auch äußern? Er könnte darauf hinweisen, dass in mehrfacher Hinsicht die damals zu „Reichsfeinden“ erklärten Kräfte gesiegt haben: Auf dem Stuhl Bismarcks regiert eine Kanzlerin aus der Nachfolgepartei des katholischen „Zentrum“, und wieder ist der Nachfolger des Kaisers ein Sozialdemokrat.
Aber gibt es, jenseits des ritualisierten Abarbeitens von runden Zahlen, überhaupt Gründe, an die kriegerische, obrigkeitliche Entstehung des Kaiserreichs von 1870 zu erinnern? Der neue Staat wurde in einem Heerlager auf fremdem Boden, im blutenden Herzen von Frankreich, in Versailles proklamiert. Schon damals fanden Zeitgenossen, darunter der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm, das bedenklich. Am letzten Tag des Jahres 1870 notierte er in sein Tagebuch düstere Visionen von fortan unheilbarer Feindschaft zwischen Franzosen und Deutschen durch die Annexion von Elsaß-Lothringen und die Bismarcksche Gewaltpolitik: „Man hält uns für jeder Schlechtigkeit fähig (…). Bismarck hat uns groß und mächtig gemacht, aber er raubte uns unsere Freunde, die Sympathien der Welt und – unser gutes Gewissen.“
Man kann also leicht eine Linie von 1870 zu den Kriegsausbrüchen von 1914 und 1939 ziehen. Dass das nicht nur eine nachträgliche Sicht ist, zeigt neben der Jahresenddepression des Kronprinzen 1870 auch der hartnäckige Widerstand der Opposition im Bayerischen Landtag gegen den Einigungsvertrag. Es ist das Verdienst der Darstellung Tillmann Bendikowskis, dass sie den Stimmen der Gegner der Reichseinigung breiten Raum gibt, sowohl der eher reaktionären welfischen Partei, die 1866 mit der Liquidierung des Königreichs Hannover ausgeschaltet wurde, wie dem bayerischen Widerspruch.
Dieser argumentierte keineswegs nur katholisch-antipreußisch. Er wurde auch antimilitaristisch und historisch begründet. Warum überhaupt den Kaisertitel wieder aufleben lassen? Die Krone Karls des Großen sei längst „zur Antiquität geworden“, „die mittelalterliche Vorstellung von einem Kaisertum des Christentums über die ganze Welt ist doch mit der Reformation längst zu Grabe getragen“.
Klug erinnerte der Redner Anton Ruland im Winter 1870 daran, dass deutsche Fürsten im Kampf mit dem Barbarossa-Sohn Heinrich VI. 1196 ein Erbkaisertum verhindert hätten; der große Bogen von Barbarossa zu Barbablanca – dem Weißbart Wilhelm I. –, den die Berliner Siegesfeiern vom Juni 1871 konstruierten, wurde also schon vorab widerlegt. Keine „deutsche Identität“ jenseits von Stammesföderalismus!
Das waren jahrzehntelang unwillkommene Einwände, in den repräsentativen Darstellungen der wilhelminischen Zeit durch Heinrich von Sybel und Erich Brandenburg geflissentlich verschwiegen oder verhöhnt. Erst Arno Borst erinnerte 1978 in einer beißenden Exegese der Staatsopernaufführung am 16. Juni 1870 wieder daran: Fallstricke von „Geschichtspolitik“.
Und doch lebt das heutige Deutschland in unvermeidlicher Nachfolge des Zweiten Kaiserreichs, und zwar keineswegs nur als Erbe eines Scheiterns. Daran erinnert die konzise, faktenreiche Kurzdarstellung von Michael Epkenhans. Denn mit dem neuen Reich kamen auch bis heute geltende gemeinsame Gesetzbücher wie das BGB, kamen die Anfänge des Sozialstaates in den Bismarckschen Versicherungen, kam das damals fortgeschrittenste Wahlrecht, weil der Eiserne Kanzler sich die Stimmen konservativer Landbewohner zu sichern meinte. Stattdessen trug er zur Entstehung des typisch deutschen Parteiensystems bei, in dem gerade die Skeptiker des Nationalstaats immer größeres Gewicht bekamen, die SPD und die Katholiken als Vertreter des zukunftsträchtigen Gedankens einer christlichen Demokratie. Für ein Bewusstsein der Nachfolge bedarf es gar nicht des Konstrukts einer Rechtsnachfolge, auch wenn dieses 1990 wieder substanzieller wurde.
Das entkräftet nicht die seit Hans-Ulrich Wehler hegemoniale Diagnose vom Zwiespalt zwischen moderner Gesellschaft und antiquiertem Regierungssystem im Kaiserreich. Allerdings gab es schon bei der Gründung Alternativen. Mit Sorgfalt verzeichnet Epkenhans die Versuche des Norddeutschen Reichstags, sich in den Gründungsvorgang einzuschalten, geführt von Eduard Simson, der schon 1849 versucht hatte, dem preußischen König eine demokratische Kaiserkrone anzubieten. Nichts war zwangsläufig, zumal die Warnungen des Kronprinzen zeigen, dass ein Gefahrenbewusstsein möglich war. Dass das Kaiserreich vor allem auf kommunaler Ebene ein Labor zur Einübung in Demokratie und Selbstverwaltung wurde, dass eine freche unabhängige Presse, die wachsende Arbeiterbewegung und ein immer selbstbewussteres Bürgertum andere Wege wiesen, wurde schon vor 1914 erkannt.
Der Geburtsfehler war der Krieg zur Gründung. Kurioserweise erweckt er heute mehr historisches Interesse als der begleitende politische Vorgang – zwei gute neue Darstellungen, von Tobias Arand und Klaus-Jürgen Bremm erschienen schon 2018/19 und führen ihn auch in seinem verheerenden Alltag vor. Eigentlich handelt es sich um zwei Kriege: Im ersten wurde umstandslos der französische Kaiser Napoleon III. ausgeschaltet, durch den spektakulär virtuosen Sieg von Sedan am 2. September 1870. Danach kam der Volkskrieg der Republik, und er wurde hässlich, hinterhältig und blutig, ein Vorschein weniger der Weltkriege als der Partisanenkämpfe des 20. Jahrhunderts. So hat er das preußische Militär nachhaltig beunruhigt, mit Folgen bis 1914, wo Partisanenfurcht zu den deutschen Exzessen in Belgien entscheidend beitrug.
Warum überhaupt ein Krieg zur Einigung? „Das ist eine blöde Geschichte von lang nachwirkenden schädlichen Folgen“, schrieb Golo Mann unübertroffen lässig. „Die ,Kriegsschuldfrage‘ ist, wie eine spätere, überaus gründlich durchleuchtet worden. Mit dem zu erwartenden Ergebnis: es sind beide Seiten schuld.“ Epkenhans argumentiert in diesem Sinne, dabei deutlich konservativer als die meisten neueren Darstellungen. Die letzte Eskalation um die abgeblasene spanische Thronkandidatur eines Hohenzollern im Sommer 1870 schreibt er plausibel der Regierung Frankreichs zu, die sich auf eine sichtbare Demütigung König Wilhelms I. versteifte, auch angetrieben von einer zuvor regierungsamtlich aufgeheizten Presse.
Das nutzten Bismarck und der Generalstabschef Moltke skrupellos, und so wurde auch der zögernde König zum Jagen getragen. Das Missvergnügen daran blieb der königlichen Familie über die Siege hinaus erhalten, wie das Tagebuch des Kronprinzen bezeugt. Bismarck konnte sein Konstrukt nur mit der bei ihm üblichen Politik der Weinkrämpfe und massiven Bestechungen – so wurde Ludwig II. von Bayern regelrecht gekauft – durchsetzen. All das ist auch aufregender Lesestoff, den Bendikowski gebührend in Szene setzt.
Wie erlebte Frankreich die Niederlage? Heute neigt man gegen eine solide ältere Meinung dazu, die sogenannte Erbfeindschaft herunterzuspielen, gerade auf französischer Seite. Eine hinreißende Ausstellung mit fantastisch bebildertem Katalog im Pariser Armeemuseum zeigte schon 2017 ein bewegendes Bemühen um Gerechtigkeit. Dabei machten die alten Fotografien das Ausmaß der Verheerung Frankreichs, die Schrecken des gleichzeitigen Bürgerkriegs um die Pariser Kommune, so sichtbar wie kaum je zuvor.
Und doch bleiben die Spuren von Hass und Trauma in der französischen Literatur der Epoche unübersehbar. Frankreich hat im Gegensatz zu Deutschland, wo neben Fontanes Kriegsbüchern nur der einigungskritische Roman „Deutscher Adel“ von Wilhelm Raabe zu nennen wäre, eine bis heute wirksame literarische Erbschaft zu 1870 hinterlassen. Ihr hat sich Karl Heinz Bohrer in der aufregendsten Publikation zum Jahrestag gewidmet. „Erzählter und politischer Hass“ ist sein Thema, und er kann auf heute noch gelesene Werke verweisen, Novellen von Maupassant, Briefe Flauberts, vor allem aber Émile Zolas erfolgreichstes Buch, den Riesenroman vom „Zusammenbruch“ (Débâcle) Frankreichs.
Zolas Roman enthält die bis dahin ausführlichste Schlachtbeschreibung der Weltliteratur. Der Tag von Sedan wird mit beinahe schon filmischen Mitteln, dem unentwegten Zoomwechsel von Mikroszenen und Totalen aus der Luft, mit naturalistischer Grausamkeit und lyrischer Naturdarstellung vergegenwärtigt. Die Beschreibungsmeisterschaft lässt über eine allegorisch-kitschige Figurenhandlung hinwegsehen – warum gibt es keine Neuübersetzung?
Maupassant ist im kleineren Format kaum weniger drastisch: Sadistische preußische Offiziere agieren vor einer Kulisse furienhaften Volkshasses, der nicht davor zurückschreckt, deutsche Soldaten in Heuschobern zu verbrennen. Schade, dass Bohrer die Kulmination solchen zum literarischen Selbstzweck gewordenen Hasses, Léon Bloys widerwärtige Geschichtensammlung „Blutschweiß“, nicht in seine Analysen aufgenommen hat.
Bohrers Pointe aber ist bedenkenswert: Der Hass dieser Literatur ist nicht politisch-programmatisch, er bedeutet eine ästhetische Katharsis, eine Formkraft zur Imagination. Darum fand das nach 1870 gezeichnete Bild des deutschen Soldaten 1914 und 1939 auch keine Nachfolge. Hat „böse“ Literatur die literarische Nation vor späteren Exzessen bewahrt, also geimpft? Das wäre eine bemerkenswerte Pointe im Bohrerschen Lebenstanz mit dem Moralismus.
Tillmann Bendikowski: 1870/71. Der Mythos von der deutschen Einheit. C. Bertelsmann Verlag, München 2020. 400 Seiten, 25 Euro.
Karl Heinz Bohrer: Kein Wille zur Macht. Carl Hanser Verlag, München 2020. 170 Seiten, 23 Euro.
Michael Epkenhans: Die Reichsgründung 1870/71. Verlag C.H. Beck (Beck Wissen), München 2020. 128 Seiten, 9,95 Euro.
Michael Epkenhans: Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Reclam Verlag, Stuttgart 2020. 160 Seiten, 14,95 Euro.
„Man hält uns
für jeder Schlechtigkeit fähig“,
notierte der Kronprinz
Bismarck setzte auf die
Politik der Weinkrämpfe und
der Bestechungen
Hat etwa „böse“ Literatur
vor späteren Exzessen
bewahrt?
Zunächst wurde umstandslos der französische Kaiser Napoleon III. ausgeschaltet, durch den spektakulär virtuosen Sieg von Sedan am 2. September 1870. Danach kam der Volkskrieg der Republik. Anton von Werner: Im Etappenquartier vor Paris, 1870.
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