"Das ist ein wichtiges Buch." Gerhart BaumDer Neonazismus, so Wolfgang Kraushaar, ist längst noch nicht überwunden und stellt die Demokratie vor neue Herausforderungen. Diese werden nur dann zu bestehen sein, wenn sich Staat und Zivilgesellschaft neu positionieren.Die Vorstellung, wehrhaft sein zu müssen, wirkte lange wie aus der Zeit gefallen. Dass sie ins Zentrum der politischen Debatte zurückgekehrt ist, liegt vor allem an Putins Überfall auf die Ukraine und seinen menschenverachtenden Annexionskrieg.Mit der erneuerten Wehrhaftigkeit nach außen geht allerdings einher, die Wehrhaftigkeit auch nach innen auf den Prüfstand zu stellen. Denn im Unterschied zu früheren Jahrzehnten hat die Bedrohung von rechts unablässig zugenommen.Zwei politische Faktoren prägen das neue Gefährdungsszenario: Parlamentarisch ist mit der AfD eine starke rechtspopulistische Partei im Bundestag vertreten, die sich offen gegen die liberale Demokratie stellt. Und im Zuge der Anti-Corona-Demonstrationen hat die radikale Rechte so sehr an Einfluss gewonnen, dass sich ihr neue machtpolitische Optionen bieten. Durch diese beiden Elemente ist die Demokratie regelrecht in die Zange genommen worden.Angesichts dieser Herausforderung erscheinen mehrere strukturelle Korrekturen erforderlich, um das Konzept einer 'wehrhaften Demokratie' so weit zu erneuern, dass die Bundesrepublik künftig besser gegen derartige Angriffe gewappnet ist. Dabei gilt es insbesondere der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Gefährdung der Demokratie nicht mehr in erster Linie von den Rändern der Gesellschaft ausgeht, sondern von ihrer Mitte.Kraushaar plädiert deshalb dafür, die statische Theorie von Extremismus durch eine dynamische der Radikalisierung zu ersetzen. Erst wenn das geschehen ist, wird die zweite deutsche Demokratie besser als bisher in der Lage sein, sich auch in Zeiten einer multifaktoriellen Krise als wehrhaft zu erweisen.
Perlentaucher-Notiz zur 9punkt-Rezension
Es gibt eine Erstarken der politischen Ränder, jedoch keine generelle Polarisierung der Gesellschaft, erklären die Soziologen Steffen Mau und Thomas Lux im Tagesspiegel-Gespräch mit Hans Monath. Trotzdem gibt es in der Gesellschaft bestimmte "Triggerpunkte": "Das sind Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte, bei denen sachliche Diskussionen in emotionale umschlagen und sich die Menschen anders positionieren, als sie es zuvor getan haben", führt Mau aus. "Viele Menschen haben aus unterschiedlichen Gründen Vorbehalte gegen Gendersternchen, befürworten in ihrer großen Mehrheit aber die Gleichberechtigung und gleiche Bezahlung von Frauen und Männer. Ein Triggerpunkt, also Auslöser von politischer Emotionalisierung, sind in diesem Zusammenhang etwa Verhaltensvorschriften. Wenn bestimmte Akteure sagen, du musst dich grundsätzlich verändern, in der Art, wie du sprichst, und das auch in deinem privaten Raum, dann provoziert das Reaktanz, also Abwehr, und viele sagen: Das mache ich jetzt nicht mehr mit."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.03.2023Warnung vor rechts
Die Radikalisierung der Mitte als Gefahr
Am 7. Dezember 2022 wurde in einer gemeinsamen Operation von Bundes- und Länderpolizei, BKA und Bundesanwaltschaft eine Verschwörung aufgedeckt, mit der gewaltsam eine rechtsautoritäre Diktatur errichtet werden sollte. In der Öffentlichkeit war das Erstaunen über die Zusammensetzung der Putschtruppe ebenso groß wie das Entsetzen über deren Pläne. Neben einem Prinzen, der in Frankfurt Immobiliengeschäfte betrieb, fanden sich im Kreis der Verschwörer eine Richterin und frühere AfD-Bundestagsabgeordnete, ehemalige Offiziere, ein Angehöriger des Kommandos Spezialkräfte, ein früherer Polizeihauptkommissar, ein Pilot, ein Anwalt, ein Starkoch, ein Tenorsänger, ein Unternehmer und eine Ärztin. Alles Personen aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft.
Für den Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar dürften die Staatsstreichpläne keine Überraschung gewesen sein. In seinen Standardwerken hat Kraushaar Wurzeln und Geschichte des Linksextremismus überzeugend dargestellt. In seinem jüngsten Buch widmet sich Kraushaar auf 450 Seiten teils im Stil einer Streitschrift der aus seiner Sicht weitaus größeren Gefahr für die Demokratie in Deutschland. "Dieser Feind steht rechts!" - Kraushaar nimmt diesen berühmten Satz des damaligen Reichskanzlers Joseph Wirth nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau 100 Jahre später als aktuellen Weck- und Warnruf. Politische Morde seien für eine Demokratie "Warnsignale ersten Ranges". Die Ermordung des Kasseler CDU-Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch einen Neonazi ziele in die gleiche Richtung wie die Absichten der Mörder Rathenaus: den "revolutionären Umsturz und die Macht im Staate".
Kraushaar liefert mehr als nur einen Rückblick auf die "Schwachstellen der Demokratie". Akribisch belegt wird die personelle, aber auch rechtskonservative Kontinuität zur NS-Zeit in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Belastet durch "einstige Funktionseliten des NS-Regimes" waren wichtige neue staatliche Institutionen wie Bundesverfassungsgericht, Auswärtiges Amt, Verfassungsschutz, BKA oder Bundesministerien.
In seiner Gegenwartsanalyse schreibt Kraushaar, bedroht werde der Rechtsstaat nicht einfach von Extremisten, sondern durch eine Protestbewegung, die aus der Mitte der Gesellschaft hervorgegangen sei. Wie die "Montagsspaziergänge" von Pegida und die Corona-Demos der "Querdenker", die einhergingen mit Formen neuer Gewaltbereitschaft. Als weitere "Akteurskohorten" der radikalen Rechten definiert Kraushaar Parteien wie besonders die AfD. Hinzu kommen laut Kraushaar terroristische Einzeltäter, Kleingruppen und Netzwerke sowie bestimmte staatliche Sicherheitsinstitutionen wie Polizei und Militär. Das entscheidende Integrationsmoment der Rechten sei ein "tiefsitzender Ethnozentrismus", Nährboden für Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus. Die Flüchtlingskrise 2015 und die Corona-Pandemie seit 2020 waren danach die Katalysatoren. Das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure sei nur durch die "Radikalisierung der Mitte" zu verstehen. Als "Musterbeispiel" sieht Kraushaar die Radikalisierungsdynamik innerhalb der AfD. Von einer europaskeptischen Partei enttäuschter CDU-Mitglieder habe sich die AfD schrittweise in eine rechtspopulistische bis rechtsradikale Gesinnungstruppe verwandelt. Um die Gefahr von rechts wirksam zu bekämpfen und einzudämmen, beruft sich Kraushaar auf den SPD-Politiker Carlo Schmid, einen der Väter des Grundgesetzes. Die von Schmid als Appell geforderte Intoleranz gegenüber den Verfassungsfeinden müsse als Verfassungsgebot Bestätigung finden. In einem Geleitwort lobt der frühere FDP-Bundesinnenminister Gerhart Baum das Werk. Baum ist zuzustimmen, wenn er schreibt: "Kraushaar lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Situationen des Rechtsextremismus in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die nicht vergessen werden dürfen." THOMAS HOLL
Wolfgang Kraushaar: Keine falsche Toleranz. Warum sich die Demokratie stärker als bisher zur Wehr setzen muss.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2022. 450 S., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Radikalisierung der Mitte als Gefahr
Am 7. Dezember 2022 wurde in einer gemeinsamen Operation von Bundes- und Länderpolizei, BKA und Bundesanwaltschaft eine Verschwörung aufgedeckt, mit der gewaltsam eine rechtsautoritäre Diktatur errichtet werden sollte. In der Öffentlichkeit war das Erstaunen über die Zusammensetzung der Putschtruppe ebenso groß wie das Entsetzen über deren Pläne. Neben einem Prinzen, der in Frankfurt Immobiliengeschäfte betrieb, fanden sich im Kreis der Verschwörer eine Richterin und frühere AfD-Bundestagsabgeordnete, ehemalige Offiziere, ein Angehöriger des Kommandos Spezialkräfte, ein früherer Polizeihauptkommissar, ein Pilot, ein Anwalt, ein Starkoch, ein Tenorsänger, ein Unternehmer und eine Ärztin. Alles Personen aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft.
Für den Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar dürften die Staatsstreichpläne keine Überraschung gewesen sein. In seinen Standardwerken hat Kraushaar Wurzeln und Geschichte des Linksextremismus überzeugend dargestellt. In seinem jüngsten Buch widmet sich Kraushaar auf 450 Seiten teils im Stil einer Streitschrift der aus seiner Sicht weitaus größeren Gefahr für die Demokratie in Deutschland. "Dieser Feind steht rechts!" - Kraushaar nimmt diesen berühmten Satz des damaligen Reichskanzlers Joseph Wirth nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau 100 Jahre später als aktuellen Weck- und Warnruf. Politische Morde seien für eine Demokratie "Warnsignale ersten Ranges". Die Ermordung des Kasseler CDU-Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch einen Neonazi ziele in die gleiche Richtung wie die Absichten der Mörder Rathenaus: den "revolutionären Umsturz und die Macht im Staate".
Kraushaar liefert mehr als nur einen Rückblick auf die "Schwachstellen der Demokratie". Akribisch belegt wird die personelle, aber auch rechtskonservative Kontinuität zur NS-Zeit in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Belastet durch "einstige Funktionseliten des NS-Regimes" waren wichtige neue staatliche Institutionen wie Bundesverfassungsgericht, Auswärtiges Amt, Verfassungsschutz, BKA oder Bundesministerien.
In seiner Gegenwartsanalyse schreibt Kraushaar, bedroht werde der Rechtsstaat nicht einfach von Extremisten, sondern durch eine Protestbewegung, die aus der Mitte der Gesellschaft hervorgegangen sei. Wie die "Montagsspaziergänge" von Pegida und die Corona-Demos der "Querdenker", die einhergingen mit Formen neuer Gewaltbereitschaft. Als weitere "Akteurskohorten" der radikalen Rechten definiert Kraushaar Parteien wie besonders die AfD. Hinzu kommen laut Kraushaar terroristische Einzeltäter, Kleingruppen und Netzwerke sowie bestimmte staatliche Sicherheitsinstitutionen wie Polizei und Militär. Das entscheidende Integrationsmoment der Rechten sei ein "tiefsitzender Ethnozentrismus", Nährboden für Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus. Die Flüchtlingskrise 2015 und die Corona-Pandemie seit 2020 waren danach die Katalysatoren. Das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure sei nur durch die "Radikalisierung der Mitte" zu verstehen. Als "Musterbeispiel" sieht Kraushaar die Radikalisierungsdynamik innerhalb der AfD. Von einer europaskeptischen Partei enttäuschter CDU-Mitglieder habe sich die AfD schrittweise in eine rechtspopulistische bis rechtsradikale Gesinnungstruppe verwandelt. Um die Gefahr von rechts wirksam zu bekämpfen und einzudämmen, beruft sich Kraushaar auf den SPD-Politiker Carlo Schmid, einen der Väter des Grundgesetzes. Die von Schmid als Appell geforderte Intoleranz gegenüber den Verfassungsfeinden müsse als Verfassungsgebot Bestätigung finden. In einem Geleitwort lobt der frühere FDP-Bundesinnenminister Gerhart Baum das Werk. Baum ist zuzustimmen, wenn er schreibt: "Kraushaar lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Situationen des Rechtsextremismus in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die nicht vergessen werden dürfen." THOMAS HOLL
Wolfgang Kraushaar: Keine falsche Toleranz. Warum sich die Demokratie stärker als bisher zur Wehr setzen muss.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2022. 450 S., 28,- Euro.
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