Ein von einer afrikanischen Lanze durchbohrtes Paar, eine Pornoschauspielerin, ein Butler, der in einem New Yorker Aufzug stecken bleibt - mysteriöse Ärzte, wollüstige Ehefrauen, Bodyguards und Gespenster, das sind die Helden in Javier Marías' Erzählungen, die einem abwechselnd den Atem nehmen, einen in schallendes Lachen ausbrechen oder über die ein oder andere Lebensweisheit nachdenken lassen. Javier Marías ist ein Zauberer, "ein bestrickender, manchmal auch dämonischer Verführer" (Paul Ingendaay, Frankfurter Allgemeine Zeitung). "Keine Liebe mehr" vereint endlich Marías' gesammelte Erzählungen: der große Erzähler at its best.
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Erzählungen aus vierzig Jahren. [...] der spanische Schriftsteller ist ein Meister darin, mit Momenten zu überraschen, in denen Menschen alle Sicherheit verlieren Carmen Eller Die Welt/Literarische Welt 20161105
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2016Durch den Schleier
In seinen Erzählungen lässt Javier Marías Gespenstern
vorlesen und entwickelt eine Ästhetik des Vagen
VON MEIKE FESSMANN
Alles ist ein wenig verschwommen in den Geschichten des Javier Marías, wie in Trance tasten sie nach der Wirklichkeit, die Ränder verschmieren, unscharf sind die Übergänge zwischen Tag und Nacht, Wachen und Schlafen, Leben und Tod. Der Leser gerät in die Sphäre entspannter Konzentration, dorthin also, wo man ist, wenn man mit nicht fokussiertem Blick vor sich hin schaut, während man einem Gedanken oder einer Fantasie folgt.
Die Verschmelzung von Fern- und Nahbereich macht die eigentümlich intime Atmosphäre dieser Prosa aus. Man möchte fast wetten, dass der Autor kurzsichtig ist. Nicht nur wegen all der Sehhilfen, die in seinen Geschichten ständig auftauchen – Brillen, Kontaktlinsen, Ferngläser, einmal sogar das Geflecht eines Strandhuts, der als „Sehhut“ zweckentfremdet wird –, sondern weil seine Ästhetik wie die Tugend wirkt, die man aus einer Not zu ziehen ge-lernt hat. Wer täglich erlebt, wie sich die Welt verändert, sobald man eine Brille auf- oder abzieht, der weiß aus Erfahrung, dass die Wahrnehmung von technischen Hilfsmitteln abhängt.
„Keine Liebe mehr. Akzeptierte und akzeptable Erzählungen“, im spanischen Original 2012 unter dem Titel „Mala índole. Cuentos aceptados y aceptables“ erschienen, versammelt dreißig Geschichten, die zwischen 1968 und 2005 entstanden sind. Die meisten davon wurden auch auf Deutsch bereits publiziert und haben zum Ruhm des 1951 geborenen Madrilenen beigetragen. Seit seinem Roman „Mein Herz so weiss“ ist er hierzulande der vielleicht bekannteste spanische Gegenwartsautor, auch wenn der zwei Jahre ältere Rafael Chirbes gerade dabei war, ihm den Rang abzulaufen, bevor er letztes Jahr starb.
Selbst wenn man die Erzählungen schon kennt, ist die Lektüre dieses Sammelbands ein Abenteuer. Vielleicht sogar gerade dann. Denn er verdeutlicht den Wandel unserer Wahrnehmungsmuster. Das Echo früherer Lektüre verstärkt den Effekt, den Javier Marías ohnehin kultiviert: das große Gleiten der Zeiten und Wirklichkeitssphären. Es gibt bei Marías leibhaftige Gespenster. In der Titelge-schichte, „Keine Liebe mehr“, verweigert ein Gespenst einer Vorlesenden seine Anwesenheit, nachdem ihre Stimme, der es immer gern gelauscht hat, über die Jahre brüchig geworden ist. In einer für diesen Band zum ersten Mal übersetzten Variante der Geschichte, „Nennen wir es Sehnsucht“, verkörpert das Gespenst den ermordeten mexikanischen Revolutionsführer Zapata. Das Muster bleibt gleich: ein toter Mann stört sich am Altern einer Frau, die ihn lange gut unterhalten hat.
In einer seiner bekanntesten Geschichten, „Als ich sterblich war“, sie gab einem 1999 auf Deutsch erschienenen Band den Titel, ist ein Gespenst sogar der Erzähler. Er schildert, wie anstrengend es ist, sich nicht nur an alles zu erinnern, sondern als Grenzgänger zwischen den Sphären auch das zu wissen, was ihm früher verborgen war. So weiß er nun, dass es nicht seine Frau war, die ihn tötete, sondern ein Auftragsmörder. Die Vorstellung, aus Leidenschaft ermordet worden zu sein, hatte ihm gefallen. Opfer eines kalten Kalküls zu sein, ist dagegen ernüchternd. „Das Leben ist barmherzig“, so denkt er sich, gerade weil es viele Dinge im Verborgenen lässt. Als Gespenst befindet er sich dagegen in einem „Zustand der Grausamkeit“. Dinge zu wissen, die nicht für die eigenen Augen und Ohren bestimmt sind, ist eine sehr spezielle Sache.
Fast alle Erzählungen spielen damit, dass Menschen durch Zufälle, technische Hilfsmittel oder ausgeplauderte Vertraulichkeiten näher an das Leben anderer herankommen, als es ihrem Verhältnis ent-spricht. Im steckengebliebenen Fahrstuhl eines New Yorker Wolkenkratzers erzählt ein Butler einem Spanier von der Grausamkeit seiner vermögenden Arbeitgeberin. Ihre Tochter ist soeben, wie von den Ärzten vorhergesagt, wenige Monate nach der Geburt gestorben, unbeachtet von der Mutter, die sich erst gar nicht auf eine Bindung einließ. Nicht nur das plaudert der Butler aus, sondern auch, dass er die Frau manchmal heimlich berührte, wenn sie gebannt vor einer Quiz-Sendung saß. „Berührung führt zu Zuneigung“, hat er dabei erfahren.
Dass es so viele Butler, Leibwächter, Personenschützer in diesen Geschichten gibt, ist gar nicht so sehr eine Frage des Milieus. Sie kommen ihren Auftraggebern körperlich nahe und verfügen über die Kenntnis selbst intimer Gewohnheiten, ohne in den Genuss der Privilegien zu kommen, die mit tatsächlicher Intimität verbunden sind. Die Ambivalenz und das Zwielichtige solcher Verhältnisse überführt er in eine Ästhetik des Vagen. Sie hat ohne Zweifel einen Hang zum Fin de Siècle und zum Schlüpfrigen. Und sie trägt die Signatur einer Epoche, die gerade rasant veraltet.
Wenn ein Ehepaar am Strand einen älteren Mann beobachtet, der hingebungsvoll seine junge Frau filmt, und wir später, als sich die beiden Männer nachts am Hotelpool begegnen, erfahren, dass er, ganz gleich, wann sie sterben wird, unbedingt ihren letzten Lebenstag aufzeichnen will und notfalls bereit ist, sie zu töten, dann atmet die Geschichte nicht nur den Dunst des Pygmalion-Mythos. Sie erwischt auch einen Zipfel der paradoxen Faszination, die in vordigitalen Zeiten mit einer Videokamera verbunden war: Der alte Männertraum, den Tod, das Alter und die Frau gleichzeitig zu besiegen, verbrüdert sich mit dem technischen Fortschritt. Auch das kann man gespenstisch nennen.
„Keine Liebe mehr“ ist ein Museum aussterbender Affekte und männlicher Überlegenheitsposen, von denen noch nicht gewiss ist, ob sie ihren Zenit überschritten haben. Noch sind die Seelenräume freudianisch möbliert, immer wieder ornamentiert von Grandezza und Grausamkeit als Zeichen der Hispanität vor dem Modernisierungsschub der Movida. Die Figuren aber bewegen sich so frei auf dem Globus wie ihr Autor, der unter anderem in Oxford, Boston und Venedig gelebt hat. Seine Geschichten spielen auch in Paris, London, Venedig, New York, Kalifornien, Mexiko.
Der spezielle Voyeurismus dieses Erzählers, der den „Schleier“ der Kurzsichtigkeit in ein ästhetisches Prinzip verwandelt, scheint mit der Ästhetik des Digitalen an sein Ende zu kommen. Die Bilder, an die wir uns gerade gewöhnen, leben von hoher Auflösung und leichter Manipulierbar-keit, und nicht zuletzt davon, dass man sie hemmungslos teilt (während der Pygmalion-Typus seine Schätze eifersüchtig hütet). Die Omnipräsenz digitaler Speicher- und Kommunikationsmedien vermindert das imaginäre Potenzial, das zum Gespenstergrusel ebenso gehört wie zu jeder Art des Staunens und Wunderns. Wir denken das Verhältnis von Ferne und Nähe nicht mehr in räumlichen Kategorien, sondern in denen der Gleichzeitigkeit.
Die Bereitschaft, den ganzen Tag ein mit Kamera und Mikrofon ausgestattetes Smartphone am Körper herum zu tragen, zeigt, dass das Gespür für Intimität im Schwinden begriffen ist. „Keine Liebe mehr“ erzählt vom Verschwinden des Vergnügens, auch tatsächlich gemeint zu sein, wenn jemand etwas Vertrauliches offenbart – als würdiger Geheimnisträger, dessen Verschwiegenheit die Aura des Geheimnisses stärkt.
Javier Marías: Keine Liebe mehr. Akzeptierte und akzeptable Erzählungen. Aus dem Spanischen von Susanne Lange, Elke Wehr und Renata Zuniga. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 509 Seiten, 25 Euro. E-Book 22,99 Euro.
Ist das Leben barmherzig,
weil es viele Dinge
im Verborgenen lässt?
Der Band ist ein Museum
aussterbender Affekte und
männlicher Überlegenheitsposen
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinen Erzählungen lässt Javier Marías Gespenstern
vorlesen und entwickelt eine Ästhetik des Vagen
VON MEIKE FESSMANN
Alles ist ein wenig verschwommen in den Geschichten des Javier Marías, wie in Trance tasten sie nach der Wirklichkeit, die Ränder verschmieren, unscharf sind die Übergänge zwischen Tag und Nacht, Wachen und Schlafen, Leben und Tod. Der Leser gerät in die Sphäre entspannter Konzentration, dorthin also, wo man ist, wenn man mit nicht fokussiertem Blick vor sich hin schaut, während man einem Gedanken oder einer Fantasie folgt.
Die Verschmelzung von Fern- und Nahbereich macht die eigentümlich intime Atmosphäre dieser Prosa aus. Man möchte fast wetten, dass der Autor kurzsichtig ist. Nicht nur wegen all der Sehhilfen, die in seinen Geschichten ständig auftauchen – Brillen, Kontaktlinsen, Ferngläser, einmal sogar das Geflecht eines Strandhuts, der als „Sehhut“ zweckentfremdet wird –, sondern weil seine Ästhetik wie die Tugend wirkt, die man aus einer Not zu ziehen ge-lernt hat. Wer täglich erlebt, wie sich die Welt verändert, sobald man eine Brille auf- oder abzieht, der weiß aus Erfahrung, dass die Wahrnehmung von technischen Hilfsmitteln abhängt.
„Keine Liebe mehr. Akzeptierte und akzeptable Erzählungen“, im spanischen Original 2012 unter dem Titel „Mala índole. Cuentos aceptados y aceptables“ erschienen, versammelt dreißig Geschichten, die zwischen 1968 und 2005 entstanden sind. Die meisten davon wurden auch auf Deutsch bereits publiziert und haben zum Ruhm des 1951 geborenen Madrilenen beigetragen. Seit seinem Roman „Mein Herz so weiss“ ist er hierzulande der vielleicht bekannteste spanische Gegenwartsautor, auch wenn der zwei Jahre ältere Rafael Chirbes gerade dabei war, ihm den Rang abzulaufen, bevor er letztes Jahr starb.
Selbst wenn man die Erzählungen schon kennt, ist die Lektüre dieses Sammelbands ein Abenteuer. Vielleicht sogar gerade dann. Denn er verdeutlicht den Wandel unserer Wahrnehmungsmuster. Das Echo früherer Lektüre verstärkt den Effekt, den Javier Marías ohnehin kultiviert: das große Gleiten der Zeiten und Wirklichkeitssphären. Es gibt bei Marías leibhaftige Gespenster. In der Titelge-schichte, „Keine Liebe mehr“, verweigert ein Gespenst einer Vorlesenden seine Anwesenheit, nachdem ihre Stimme, der es immer gern gelauscht hat, über die Jahre brüchig geworden ist. In einer für diesen Band zum ersten Mal übersetzten Variante der Geschichte, „Nennen wir es Sehnsucht“, verkörpert das Gespenst den ermordeten mexikanischen Revolutionsführer Zapata. Das Muster bleibt gleich: ein toter Mann stört sich am Altern einer Frau, die ihn lange gut unterhalten hat.
In einer seiner bekanntesten Geschichten, „Als ich sterblich war“, sie gab einem 1999 auf Deutsch erschienenen Band den Titel, ist ein Gespenst sogar der Erzähler. Er schildert, wie anstrengend es ist, sich nicht nur an alles zu erinnern, sondern als Grenzgänger zwischen den Sphären auch das zu wissen, was ihm früher verborgen war. So weiß er nun, dass es nicht seine Frau war, die ihn tötete, sondern ein Auftragsmörder. Die Vorstellung, aus Leidenschaft ermordet worden zu sein, hatte ihm gefallen. Opfer eines kalten Kalküls zu sein, ist dagegen ernüchternd. „Das Leben ist barmherzig“, so denkt er sich, gerade weil es viele Dinge im Verborgenen lässt. Als Gespenst befindet er sich dagegen in einem „Zustand der Grausamkeit“. Dinge zu wissen, die nicht für die eigenen Augen und Ohren bestimmt sind, ist eine sehr spezielle Sache.
Fast alle Erzählungen spielen damit, dass Menschen durch Zufälle, technische Hilfsmittel oder ausgeplauderte Vertraulichkeiten näher an das Leben anderer herankommen, als es ihrem Verhältnis ent-spricht. Im steckengebliebenen Fahrstuhl eines New Yorker Wolkenkratzers erzählt ein Butler einem Spanier von der Grausamkeit seiner vermögenden Arbeitgeberin. Ihre Tochter ist soeben, wie von den Ärzten vorhergesagt, wenige Monate nach der Geburt gestorben, unbeachtet von der Mutter, die sich erst gar nicht auf eine Bindung einließ. Nicht nur das plaudert der Butler aus, sondern auch, dass er die Frau manchmal heimlich berührte, wenn sie gebannt vor einer Quiz-Sendung saß. „Berührung führt zu Zuneigung“, hat er dabei erfahren.
Dass es so viele Butler, Leibwächter, Personenschützer in diesen Geschichten gibt, ist gar nicht so sehr eine Frage des Milieus. Sie kommen ihren Auftraggebern körperlich nahe und verfügen über die Kenntnis selbst intimer Gewohnheiten, ohne in den Genuss der Privilegien zu kommen, die mit tatsächlicher Intimität verbunden sind. Die Ambivalenz und das Zwielichtige solcher Verhältnisse überführt er in eine Ästhetik des Vagen. Sie hat ohne Zweifel einen Hang zum Fin de Siècle und zum Schlüpfrigen. Und sie trägt die Signatur einer Epoche, die gerade rasant veraltet.
Wenn ein Ehepaar am Strand einen älteren Mann beobachtet, der hingebungsvoll seine junge Frau filmt, und wir später, als sich die beiden Männer nachts am Hotelpool begegnen, erfahren, dass er, ganz gleich, wann sie sterben wird, unbedingt ihren letzten Lebenstag aufzeichnen will und notfalls bereit ist, sie zu töten, dann atmet die Geschichte nicht nur den Dunst des Pygmalion-Mythos. Sie erwischt auch einen Zipfel der paradoxen Faszination, die in vordigitalen Zeiten mit einer Videokamera verbunden war: Der alte Männertraum, den Tod, das Alter und die Frau gleichzeitig zu besiegen, verbrüdert sich mit dem technischen Fortschritt. Auch das kann man gespenstisch nennen.
„Keine Liebe mehr“ ist ein Museum aussterbender Affekte und männlicher Überlegenheitsposen, von denen noch nicht gewiss ist, ob sie ihren Zenit überschritten haben. Noch sind die Seelenräume freudianisch möbliert, immer wieder ornamentiert von Grandezza und Grausamkeit als Zeichen der Hispanität vor dem Modernisierungsschub der Movida. Die Figuren aber bewegen sich so frei auf dem Globus wie ihr Autor, der unter anderem in Oxford, Boston und Venedig gelebt hat. Seine Geschichten spielen auch in Paris, London, Venedig, New York, Kalifornien, Mexiko.
Der spezielle Voyeurismus dieses Erzählers, der den „Schleier“ der Kurzsichtigkeit in ein ästhetisches Prinzip verwandelt, scheint mit der Ästhetik des Digitalen an sein Ende zu kommen. Die Bilder, an die wir uns gerade gewöhnen, leben von hoher Auflösung und leichter Manipulierbar-keit, und nicht zuletzt davon, dass man sie hemmungslos teilt (während der Pygmalion-Typus seine Schätze eifersüchtig hütet). Die Omnipräsenz digitaler Speicher- und Kommunikationsmedien vermindert das imaginäre Potenzial, das zum Gespenstergrusel ebenso gehört wie zu jeder Art des Staunens und Wunderns. Wir denken das Verhältnis von Ferne und Nähe nicht mehr in räumlichen Kategorien, sondern in denen der Gleichzeitigkeit.
Die Bereitschaft, den ganzen Tag ein mit Kamera und Mikrofon ausgestattetes Smartphone am Körper herum zu tragen, zeigt, dass das Gespür für Intimität im Schwinden begriffen ist. „Keine Liebe mehr“ erzählt vom Verschwinden des Vergnügens, auch tatsächlich gemeint zu sein, wenn jemand etwas Vertrauliches offenbart – als würdiger Geheimnisträger, dessen Verschwiegenheit die Aura des Geheimnisses stärkt.
Javier Marías: Keine Liebe mehr. Akzeptierte und akzeptable Erzählungen. Aus dem Spanischen von Susanne Lange, Elke Wehr und Renata Zuniga. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 509 Seiten, 25 Euro. E-Book 22,99 Euro.
Ist das Leben barmherzig,
weil es viele Dinge
im Verborgenen lässt?
Der Band ist ein Museum
aussterbender Affekte und
männlicher Überlegenheitsposen
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2016So skrupulös ist dieser Autor, so pausbäckig sein Verlag
Ein dicker Band und wenig Überblick: Die gesammelten Erzählungen von Javier Marías lassen auf Deutsch die editorische Sorgfalt vermissen.
Von Paul Ingendaay
Vor wenigen Wochen hat Javier Marías in seiner Kolumne für das Magazin der Zeitung "El País" wieder von seiner Mutter Lolita erzählt, deren Todesalter - 65 Jahre - er selbst gerade überschritten hat, und wer das Werk des spanischen Schriftstellers kennt, weiß, dass nichts ihn so sehr beschäftigt wie die Zeit. Jene Zeit, die uns vorausging und in der wir selbst noch kein Bewusstsein hatten; dann die Zeit, die unsere eigene ist, der Leuchtturm, von dem aus wir alles andere betrachten, obwohl unser Licht die Gegenstände weiter draußen immer nur für kurze Augenblicke streift und sie dann wieder im Dunkel zurücklässt; und die Zeit, die noch vor uns liegt, die wir nicht kennen, aber in Gedanken antizipieren, fürchten oder herbeisehnen, je nach Gelegenheit. Wahrscheinlich werden in Spanien und Lateinamerika gerade Doktorarbeiten über "Das Konzept der Zeit im Werk von Javier Marías" oder dergleichen verfasst; sicher ist jedenfalls, dass man jedes einzelne seiner Bücher mit dieser Lupe betrachten könnte und interessante Erkenntnisse daraus zöge.
Wir können uns diese Vorrede erlauben, weil der gerade herausgekommene fünfhundertseitige Erzählband "Keine Liebe mehr - Akzeptierte und akzeptable Erzählungen" dem deutschen Publikum zu rund zwei Dritteln bekannt ist, wenn es die beiden früheren Erzählsammlungen des Autors zur Kenntnis genommen hat: "Während die Frauen schlafen", erschienen 1999 im Verlag Klaus Wagenbach, und "Als ich sterblich war", erschienen im selben Jahr bei Klett-Cotta, Marías damaligem deutschen Hausverlag. Der erste der beiden Bände kam im Original 1990 heraus und wurde in Spanien zehn Jahre später - also gerade ein Jahr nach der deutschen Übersetzung - um vier Texte erweitert noch einmal veröffentlicht. Das Hinzugekommene steigerte die Qualität nicht, im Gegenteil, es handelte sich dabei teils um wenig bedeutende Frühwerke, einmal auch um eine Variante, die den Schauplatz der Geschichte "Keine Liebe mehr" lediglich von England nach Mexiko verlegt, mit den entsprechenden Orts- und Namensänderungen sowie atmosphärischen Retuschen und einem neuen Titel: "Nennen wir es Sehnsucht".
Marías erläutert dieses Vorgehen im spanischen Vorwort. Man bat ihn um einen Text für eine Anthologie, deren Ertrag den armen Kindern von Chiapas zugutekommen sollte. Der Autor wollte helfen, hatte aber nichts vorrätig, die Zeit drängte - und indem er eine vorhandene Story rasch zu einer neuen umbaute, konnte er zu einem Band beitragen, der den Kindern von Chiapas gewisse Einkünfte verschafft haben dürfte. Der zweite der beiden Originalbände - "Als ich sterblich war" - erschien im Original 1995 und ist seitdem unverändert nachgedruckt worden. Deutsche Rezensenten monierten hier oder da den Gelegenheitscharakter der Texte; man ist bei uns schnell mit dem Verdacht bei der Hand, ein soeben zu Bestsellerruhm aufgestiegener Autor wolle inferiore Ware "nachlegen", solange der Markt noch heiß ist, oder aber sein Verlag beabsichtige, von der frischen Reputation zu profitieren.
Sämtliche dieser Argumente beruhen im Fall Marías auf Ressentiment, Ahnungslosigkeit oder beidem. Im spanischen Vorwort legt der Autor offen, elf der zwölf Geschichten seien Auftragsarbeiten für Zeitungen, Magazine oder Anthologien gewesen - was nicht nur den Umfang, sondern oft auch das Thema und manchmal sogar die verwendeten Handlungselemente beeinflusst hat. Anders als in Deutschland, wo man heimlich noch an die Genieästhetik zu glauben scheint, haftet solchen Texten in der spanisch- oder englischsprachigen Welt kein übler Geruch an. Der Markt, der Auftraggeber und selbst enge formale Vorgaben können die kreative Arbeit stimulieren - und tun es, wenn der Schriftsteller die Umstände zu seinen Gunsten zu wenden vermag. Alles, so die Grundannahme, ist Material.
Die poetologischen Äußerungen von Javier Marías lassen auf einen hochprofessionellen, ganz dem Schreiben ergebenen Handwerker schließen, der die Bedingungen seines eigenen Tuns ohne Koketterie oder grandiose Gesten dokumentiert. Wenn er im vorliegenden Band nicht nur 23 "akzeptierte", sondern eben auch sieben "akzeptable" Erzählungen vorlegt, dann nach langem Zögern, das er dem Leser im spanischen Vorwort erklärt: Der Autor findet manche dieser Texte nämlich durchaus nicht gut genug, er hatte lange seine Zweifel, ob er sie überhaupt zeigen dürfe (frühere Vorworte zeugen davon), doch der Wille zur Vollständigkeit behielt am Ende die Oberhand, und hier sind sie nun: manchmal frühreife, rhetorisch zu ausladende oder auch thematisch vage Geschichten aus einer Zeit, den siebziger Jahren, da Marías noch nicht im unverwechselbaren Marías-Ton schrieb. Den erreichte er erst 1986, im Alter von 35 Jahren, mit seinem fünften Roman, "Der Gefühlsmensch", und landete dann mit seinem siebten, "Mein Herz so weiß" (die deutsche Übersetzung erschien erst vier Jahre nach dem 1992 herausgekommenen spanischen Original), einen Sensationserfolg. Wenn man bedenkt, dass der Autor aber schon mit sechzehn in einer kleinen Tageszeitung seine erste Erzählung "Leben und Tod des Marcelino Iturriaga" publizierte - ein sympathisches, klar geschriebenes Stück über einen jungen Mann, der die Welt vom Totenreich aus betrachtet und damit die Gespensterliebe des Autors präludiert -, wird einem erst klar, wie viele Berufsjahre der 1951 geborene Marías schon auf dem Buckel hat: ein halbes Jahrhundert.
Wir können uns die Vorrede erlauben, hieß es oben im zweiten Absatz. Das war zu vornehm ausgedrückt. Im Grunde müsste die ganze Rezension aus Vorrede bestehen, weil der S. Fischer Verlag sämtliche Vorworte des Autors zu seinen Erzählungen aus der Sammelausgabe von 2012 - die ihrerseits alle früheren Vorworte mitaufnahm, zusammen rund zehn Seiten - gestrichen hat. Damit entzieht der Verlag Javier Marías das Wort - darunter etwa die am Ende geäußerte Annahme, er werde möglicherweise überhaupt keine Erzählungen mehr schreiben - und raubt ihm zusammen mit der Selbstaussage gerade den Werkstattbegriff, auf den es diesem reflektierten Autor so ankommt. All die Erläuterungen, Anmerkungen und Drucknachweise, die Einwände und unumwunden eingestandenen Schwächen manches Textes, die den Autor eher größer machen, nicht kleiner: Dem deutschen Leser werden sie vorenthalten.
Was man jetzt in Händen hat, ist also eine Erzählsammlung, die die Spuren ihrer komplexen Entstehung konsequent verwischt. Zwar werden die verdienstvollen Übersetzerinnen der früheren Erzählbände - Renata Zuniga und die verstorbene Elke Wehr - genannt, zusammen mit der neuen, der immer versierten Susanne Lange; doch die Titel der beiden Originalbände, aus denen die neue Ausgabe zu siebzig Prozent besteht, erscheinen nur in winziger Type im Impressum. Selbst die Entstehungsjahre, die in der spanischen Ausgabe praktischerweise gleich im Inhaltsverzeichnis hinter jeder Erzählung genannt werden, so dass der Leser sich auf der Marías-Zeitachse orientieren kann, werden in der deutschen Edition ans Ende des einzelnen Textes gesetzt: alles, um den Überblick zu erschweren. Wenn dann noch hinzukommt, dass eine Story im Inhaltsverzeichnis "In der unterschiedenen Zeit" heißt, in der Überschrift dagegen "In der unentschiedenen Zeit" (richtig ist die zweite Version), entsteht, um das mindeste zu sagen, der Eindruck von Achtlosigkeit.
Daher schnell zum Serviceteil: Neu ist die fünfzig Seiten lange Erzählung "Mala índole" aus dem Jahr 1996, deren deutschen Titel der Verlag leider nicht nur mit "Böses Blut" wiedergibt, sondern mit "Böses Blut oder mit Elvis in Mexiko". Uff! Man will sich sehr klein zusammenrollen vor so viel Pausbäckigkeit. Die Geschichte selbst erinnert aufgrund ihrer latenten Bedrohlichkeit, aber auch der genüsslich-boshaften Figurenzeichnung an manche Kapitel von Marías' Romanen, die wie Geschichten innerhalb der Geschichte wirken. Auch hier geht es, wie in einer meisterhaften Szene aus "Mein Herz so weiß", um die Nöte eines Dolmetschers, doch diesmal gerät der arme Kerl in die Fänge eines überempfindlichen mexikanischen Gangsterbosses. Die drei folgenden neuen Erzählungen - geschrieben zwischen 2000 und 2005 und damit möglicherweise die letzten Vertreter dieses Genres, die wir von ihm bekommen werden - sind weitere Beispiele für Marías' maliziöse Beobachtungskunst und seinen Hang zu schicksalhaften, elegant inszenierten Verstrickungen. Einige der anderen Meistererzählungen wieder zu lesen lohnt sich natürlich immer - "Während die Frauen schlafen" etwa, "Was der Butler sagte", "Der Nachtarzt", "Als ich sterblich war" oder "Zerbrochenes Fernglas". Nehmen wir das Ganze also als Prosawundertüte, etwas anderes geht nicht, und was oben liegt, liegt oben.
Javier Marías: "Keine Liebe mehr". Akzeptierte und akzeptable Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange, Elke Wehr und Renata Zuniga. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 510 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein dicker Band und wenig Überblick: Die gesammelten Erzählungen von Javier Marías lassen auf Deutsch die editorische Sorgfalt vermissen.
Von Paul Ingendaay
Vor wenigen Wochen hat Javier Marías in seiner Kolumne für das Magazin der Zeitung "El País" wieder von seiner Mutter Lolita erzählt, deren Todesalter - 65 Jahre - er selbst gerade überschritten hat, und wer das Werk des spanischen Schriftstellers kennt, weiß, dass nichts ihn so sehr beschäftigt wie die Zeit. Jene Zeit, die uns vorausging und in der wir selbst noch kein Bewusstsein hatten; dann die Zeit, die unsere eigene ist, der Leuchtturm, von dem aus wir alles andere betrachten, obwohl unser Licht die Gegenstände weiter draußen immer nur für kurze Augenblicke streift und sie dann wieder im Dunkel zurücklässt; und die Zeit, die noch vor uns liegt, die wir nicht kennen, aber in Gedanken antizipieren, fürchten oder herbeisehnen, je nach Gelegenheit. Wahrscheinlich werden in Spanien und Lateinamerika gerade Doktorarbeiten über "Das Konzept der Zeit im Werk von Javier Marías" oder dergleichen verfasst; sicher ist jedenfalls, dass man jedes einzelne seiner Bücher mit dieser Lupe betrachten könnte und interessante Erkenntnisse daraus zöge.
Wir können uns diese Vorrede erlauben, weil der gerade herausgekommene fünfhundertseitige Erzählband "Keine Liebe mehr - Akzeptierte und akzeptable Erzählungen" dem deutschen Publikum zu rund zwei Dritteln bekannt ist, wenn es die beiden früheren Erzählsammlungen des Autors zur Kenntnis genommen hat: "Während die Frauen schlafen", erschienen 1999 im Verlag Klaus Wagenbach, und "Als ich sterblich war", erschienen im selben Jahr bei Klett-Cotta, Marías damaligem deutschen Hausverlag. Der erste der beiden Bände kam im Original 1990 heraus und wurde in Spanien zehn Jahre später - also gerade ein Jahr nach der deutschen Übersetzung - um vier Texte erweitert noch einmal veröffentlicht. Das Hinzugekommene steigerte die Qualität nicht, im Gegenteil, es handelte sich dabei teils um wenig bedeutende Frühwerke, einmal auch um eine Variante, die den Schauplatz der Geschichte "Keine Liebe mehr" lediglich von England nach Mexiko verlegt, mit den entsprechenden Orts- und Namensänderungen sowie atmosphärischen Retuschen und einem neuen Titel: "Nennen wir es Sehnsucht".
Marías erläutert dieses Vorgehen im spanischen Vorwort. Man bat ihn um einen Text für eine Anthologie, deren Ertrag den armen Kindern von Chiapas zugutekommen sollte. Der Autor wollte helfen, hatte aber nichts vorrätig, die Zeit drängte - und indem er eine vorhandene Story rasch zu einer neuen umbaute, konnte er zu einem Band beitragen, der den Kindern von Chiapas gewisse Einkünfte verschafft haben dürfte. Der zweite der beiden Originalbände - "Als ich sterblich war" - erschien im Original 1995 und ist seitdem unverändert nachgedruckt worden. Deutsche Rezensenten monierten hier oder da den Gelegenheitscharakter der Texte; man ist bei uns schnell mit dem Verdacht bei der Hand, ein soeben zu Bestsellerruhm aufgestiegener Autor wolle inferiore Ware "nachlegen", solange der Markt noch heiß ist, oder aber sein Verlag beabsichtige, von der frischen Reputation zu profitieren.
Sämtliche dieser Argumente beruhen im Fall Marías auf Ressentiment, Ahnungslosigkeit oder beidem. Im spanischen Vorwort legt der Autor offen, elf der zwölf Geschichten seien Auftragsarbeiten für Zeitungen, Magazine oder Anthologien gewesen - was nicht nur den Umfang, sondern oft auch das Thema und manchmal sogar die verwendeten Handlungselemente beeinflusst hat. Anders als in Deutschland, wo man heimlich noch an die Genieästhetik zu glauben scheint, haftet solchen Texten in der spanisch- oder englischsprachigen Welt kein übler Geruch an. Der Markt, der Auftraggeber und selbst enge formale Vorgaben können die kreative Arbeit stimulieren - und tun es, wenn der Schriftsteller die Umstände zu seinen Gunsten zu wenden vermag. Alles, so die Grundannahme, ist Material.
Die poetologischen Äußerungen von Javier Marías lassen auf einen hochprofessionellen, ganz dem Schreiben ergebenen Handwerker schließen, der die Bedingungen seines eigenen Tuns ohne Koketterie oder grandiose Gesten dokumentiert. Wenn er im vorliegenden Band nicht nur 23 "akzeptierte", sondern eben auch sieben "akzeptable" Erzählungen vorlegt, dann nach langem Zögern, das er dem Leser im spanischen Vorwort erklärt: Der Autor findet manche dieser Texte nämlich durchaus nicht gut genug, er hatte lange seine Zweifel, ob er sie überhaupt zeigen dürfe (frühere Vorworte zeugen davon), doch der Wille zur Vollständigkeit behielt am Ende die Oberhand, und hier sind sie nun: manchmal frühreife, rhetorisch zu ausladende oder auch thematisch vage Geschichten aus einer Zeit, den siebziger Jahren, da Marías noch nicht im unverwechselbaren Marías-Ton schrieb. Den erreichte er erst 1986, im Alter von 35 Jahren, mit seinem fünften Roman, "Der Gefühlsmensch", und landete dann mit seinem siebten, "Mein Herz so weiß" (die deutsche Übersetzung erschien erst vier Jahre nach dem 1992 herausgekommenen spanischen Original), einen Sensationserfolg. Wenn man bedenkt, dass der Autor aber schon mit sechzehn in einer kleinen Tageszeitung seine erste Erzählung "Leben und Tod des Marcelino Iturriaga" publizierte - ein sympathisches, klar geschriebenes Stück über einen jungen Mann, der die Welt vom Totenreich aus betrachtet und damit die Gespensterliebe des Autors präludiert -, wird einem erst klar, wie viele Berufsjahre der 1951 geborene Marías schon auf dem Buckel hat: ein halbes Jahrhundert.
Wir können uns die Vorrede erlauben, hieß es oben im zweiten Absatz. Das war zu vornehm ausgedrückt. Im Grunde müsste die ganze Rezension aus Vorrede bestehen, weil der S. Fischer Verlag sämtliche Vorworte des Autors zu seinen Erzählungen aus der Sammelausgabe von 2012 - die ihrerseits alle früheren Vorworte mitaufnahm, zusammen rund zehn Seiten - gestrichen hat. Damit entzieht der Verlag Javier Marías das Wort - darunter etwa die am Ende geäußerte Annahme, er werde möglicherweise überhaupt keine Erzählungen mehr schreiben - und raubt ihm zusammen mit der Selbstaussage gerade den Werkstattbegriff, auf den es diesem reflektierten Autor so ankommt. All die Erläuterungen, Anmerkungen und Drucknachweise, die Einwände und unumwunden eingestandenen Schwächen manches Textes, die den Autor eher größer machen, nicht kleiner: Dem deutschen Leser werden sie vorenthalten.
Was man jetzt in Händen hat, ist also eine Erzählsammlung, die die Spuren ihrer komplexen Entstehung konsequent verwischt. Zwar werden die verdienstvollen Übersetzerinnen der früheren Erzählbände - Renata Zuniga und die verstorbene Elke Wehr - genannt, zusammen mit der neuen, der immer versierten Susanne Lange; doch die Titel der beiden Originalbände, aus denen die neue Ausgabe zu siebzig Prozent besteht, erscheinen nur in winziger Type im Impressum. Selbst die Entstehungsjahre, die in der spanischen Ausgabe praktischerweise gleich im Inhaltsverzeichnis hinter jeder Erzählung genannt werden, so dass der Leser sich auf der Marías-Zeitachse orientieren kann, werden in der deutschen Edition ans Ende des einzelnen Textes gesetzt: alles, um den Überblick zu erschweren. Wenn dann noch hinzukommt, dass eine Story im Inhaltsverzeichnis "In der unterschiedenen Zeit" heißt, in der Überschrift dagegen "In der unentschiedenen Zeit" (richtig ist die zweite Version), entsteht, um das mindeste zu sagen, der Eindruck von Achtlosigkeit.
Daher schnell zum Serviceteil: Neu ist die fünfzig Seiten lange Erzählung "Mala índole" aus dem Jahr 1996, deren deutschen Titel der Verlag leider nicht nur mit "Böses Blut" wiedergibt, sondern mit "Böses Blut oder mit Elvis in Mexiko". Uff! Man will sich sehr klein zusammenrollen vor so viel Pausbäckigkeit. Die Geschichte selbst erinnert aufgrund ihrer latenten Bedrohlichkeit, aber auch der genüsslich-boshaften Figurenzeichnung an manche Kapitel von Marías' Romanen, die wie Geschichten innerhalb der Geschichte wirken. Auch hier geht es, wie in einer meisterhaften Szene aus "Mein Herz so weiß", um die Nöte eines Dolmetschers, doch diesmal gerät der arme Kerl in die Fänge eines überempfindlichen mexikanischen Gangsterbosses. Die drei folgenden neuen Erzählungen - geschrieben zwischen 2000 und 2005 und damit möglicherweise die letzten Vertreter dieses Genres, die wir von ihm bekommen werden - sind weitere Beispiele für Marías' maliziöse Beobachtungskunst und seinen Hang zu schicksalhaften, elegant inszenierten Verstrickungen. Einige der anderen Meistererzählungen wieder zu lesen lohnt sich natürlich immer - "Während die Frauen schlafen" etwa, "Was der Butler sagte", "Der Nachtarzt", "Als ich sterblich war" oder "Zerbrochenes Fernglas". Nehmen wir das Ganze also als Prosawundertüte, etwas anderes geht nicht, und was oben liegt, liegt oben.
Javier Marías: "Keine Liebe mehr". Akzeptierte und akzeptable Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange, Elke Wehr und Renata Zuniga. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 510 S., geb., 25,- [Euro].
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