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Dieser Band bündelt die vielfältigen Ebenen der neueren Forschung zum Ersten Weltkrieg und erschließt zugleich neue Themen für die weitere Beschäftigung. Die Mehrzahl der Aufsätze versteht sich als Beitrag zu einer Mentalitätsgeschichte des Krieges. Was der Krieg für die Menschen, die ihn erlebten, wirklich bedeutete und wie er auf sie gewirkt hat, wird hier ebenso thematisiert wie die Lage von Teilen der Bevölkerung, deren Geschichte sich in den Ereignissen des Weltkriegs zu verlieren droht: Frauen, Kinder und die zahlreichen Opfer des Krieges an der Front und in der Heimat. Gefragt wird…mehr

Produktbeschreibung
Dieser Band bündelt die vielfältigen Ebenen der neueren Forschung zum Ersten Weltkrieg und erschließt zugleich neue Themen für die weitere Beschäftigung. Die Mehrzahl der Aufsätze versteht sich als Beitrag zu einer Mentalitätsgeschichte des Krieges. Was der Krieg für die Menschen, die ihn erlebten, wirklich bedeutete und wie er auf sie gewirkt hat, wird hier ebenso thematisiert wie die Lage von Teilen der Bevölkerung, deren Geschichte sich in den Ereignissen des Weltkriegs zu verlieren droht: Frauen, Kinder und die zahlreichen Opfer des Krieges an der Front und in der Heimat. Gefragt wird sowohl nach den gesamtgesellschaftlichen Umschichtungen durch den Krieg als auch nach den Fortwirkungen und Konsequenzen des Kriegserlebnisses für das politische und kulturelle Leben der Weimarer Republik. Dies gilt vor allem für die Kontinuität der politischen Mythen des Krieges (des Verdun- und Langemarck-Mythos), die zur Schwächung der Republik entscheidend beitrugen und den extremen Nationalismus der Nachkriegszeit in hohem Maße förderten. Dieser "von hervorragenden Sachkennern herausgegebene und geschriebene Band" (Handelsblatt) "vermittelt einen vorzüglichen Überblick über die neuere Weltkriegsforschung" (FAZ) und markiert den Beginn einer andersartigen Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.1999

Das Erbe der Wilhelminer
Vierzig Jahre Fischer-Kontroverse: Um die deutschen Ziele im Ersten Weltkrieg stritten die Historiker, weil man vom Zweiten geschwiegen hatte

Im Oktober 1959 begann, was unter dem Namen "Fischer-Kontroverse" Geschichte gemacht hat. Der Hamburger Ordinarius Fritz Fischer veröffentlichte im Fachorgan der Zunft, der "Historischen Zeitschrift", einen Aufsatz, der Titel war provozierend sachlich: "Deutsche Kriegsziele, Revolutionierung und Separatfrieden im Osten 1914-1918". Der Text war eine schroffe Anklage der führenden Politiker der Wilhelminischen Zeit des Ersten Weltkrieges und führte zu einer Fundamentalkritik an den "nationalen" Überzeugungen und wissenschaftlichen Annahmen mehrerer Historikergenerationen. Zum öffentlichen Skandal und später dann zu einer Kehrtwende der deutschen Historiographie über den Ersten Weltkrieg kam es aber erst zwei Jahre darauf, als Fischer sein Buch "Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland, 1914/1918" publizierte.

Die Hauptthese dieser großen Arbeit war aber schon im Artikel vom Oktober 1959 voll ausgebildet: Das Deutsche Reich habe während des gesamten Weltkrieges maßlose und abstruse Kriegsziele verfolgt im Sinne einer kontinentalen Vormacht- und tatsächlichen Weltmachtstellung. Annexionsabsichten ungeheuerlichen Ausmaßes in Ost und West seien aktenmäßig nachweisbar. Der Erste Weltkrieg sei nicht, wie Generationen von Deutschen verzweifelt, entschieden und gegen den Versailler Schuldvorwurf von 1919 behauptet hatten, ein Verteidigungskrieg gewesen: "Es handelte sich vielmehr um Ausbau und Sicherung einer deutschen Weltmachtstellung."

Eine breite Front von Intellektuellen, Wirtschaftlern, Politikern und Militärs habe 1914 direkte und indirekte Kriegsziele vertreten, die zur deutschen Hegemonie in Europa führen mussten. Wenn die Regierung des Reichskanzlers Bethmann Hollweg bereits im September 1914 "Garantien für unsere Sicherheit und Ruhe" gefordert habe, so sei dies mit einem bis zum Kriegsende kontinuierlich aufrechterhaltenen exorbitanten Programm von Annexionen, Territorialregelungen und indirekter Herrschaft in Europa abgestützt worden. Lakonisch heißt es am Schluss dieses Artikels von 1959: "Damit brachen die weitgesteckten Kriegsziele Deutschlands zusammen, und die nationale wie die soziale Revolution schlugen auf die Mittelmächte zurück . . . Auf den Sturz des Zarenreiches folgte der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, der Donau-Monarchie und des deutschen Kaiserreiches."

Die Geschichte der "Fischer-Kontroverse", wie der Streit der Historiker über Kriegsziele und Kriegsschuld 1914 heute allgemein heißt, ist selber inzwischen Gegenstand der Forschung und gern geprüftes Examensthema geworden. Der Aufsatzveröffentlichung von 1959 folgten einige Repliken in den folgenden Jahrgängen der "Historischen Zeitschrift", in denen sich schon andeutete, dass Fischer den "Nerv" der älteren Historiker getroffen hatte. 1961, nicht lange nach Erscheinen des Buches, kam es zu einer öffentlichen Diskussion, die wichtigsten Printmedien nahmen Partei. Gegen Augstein und den "Spiegel", die sich das Thema kämpferisch zu eigen machten, und gegen die "Zeit", die informative Berichte brachte, stellten sich Zeitungen wie "Christ und Welt" und "das Parlament". Innerhalb des damaligen Meinungsspektrums in der Bundesrepublik war eine Links-rechts-Polarität klar erkennbar.

Das Auffälligste an der beginnenden öffentlichen Diskussion war indes wohl die massive Frontstellung der älteren Historiker wie Gerhard Ritter, Erwin Hölzle oder Egmont Zechlin, für die Fischer sowie seine Schüler und Anhänger im Grunde nichts anderes waren als Verräter am Vaterland. Diese Historiker und die sie sekundierende Publizistik wurden insbesondere von der Sorge umgetrieben, dass Fischers Thesen bezüglich des kriegstreiberischen Kurses der deutschen Regierung und politischen Öffentlichkeit 1914 eine Verbindungslinie herstellen sollten zwischen den Wilhelminern und Hitlers Krieg: Wenn es eine solche Verbindungslinie, eine Kontinuität der Herrschaftseliten und des aggressiven deutschen Imperialismus schon vor 1914 gegeben hatte, dann konnte Hitlers Herrschaft nicht mehr als ein Betriebsunfall der deutschen Geschichte betrachtet werden.

Sei Theobald von Bethmann Hollweg, der Kanzler des Deutschen Reiches im Jahre 1914, "der Hitler des Jahres 1914" gewesen, fragte Michael Freund in der F.A.Z. vom 28. März 1964. Fischer, erregte sich Freund, "beschmiert die ganze deutsche Geschichte mit dem Schmutz" Hitlers. Im übrigen war Freund - wie auch Gerhard Ritter und andere Fachhistoriker - verzweifelt bemüht, die Diskontinuität in der deutschen Geschichte nachzuweisen. Die Weltmachtphantasien derer von 1914 seien rein kriegsbedingt gewesen und nicht zuletzt der englischen Blockade zuzuschreiben: "Die britische Blockade war die Politik, die ein hungerndes Volk zwang, immer weiter zu erobern." Neben diesem Atavismus nachklingender England-Feindschaft war hier vor allem Angst um die Bundesrepublik spürbar. Freund argumentierte nämlich folgendermaßen: Wenn nun - 1960 - wieder pauschalisierende Urteile gefällt würden, könne der Schatten von Versailles auferstehen, und in diesem Schatten könne es zu einer neuen Dolchstoß-Legende kommen, die unsere Republik in Gefahr bringen würde.

Was hier zum Ausdruck kam, waren die Ängste und Vorbehalte einer Generation, die vom Nationalsozialismus traumatisiert war und versuchte, sowohl das gute Alte der Zeit vor Hitler zu retten als auch das gute Neue - die Bundesrepublik - zu stabilisieren. Daraus ergab sich eine gemeinsame Verteidigungslinie aller Traditionalisten, wobei merkwürdigerweise ganz unerheblich blieb, ob man selber zwischen 1933 und 1945 Nazi oder Anti-Nazi gewesen war. Im Kampf gegen den Neuerer kämpften Erwin Hölzle und Gerhard Ritter gemeinsam um die Diskontinuität der deutschen Geschichte: um die Behauptung, dass Hitler nur ein Ausrutscher gewesen sei, und um die Hoffnung, dass sich die Gigantomanie des Nazi-Imperialismus nicht aus der "Weltmacht"-Politik der Wilhelminer ableiten lasse. Dahinter stand die Hoffnung, dass die Bundesrepublik aus Hitlers Schatten heraustreten könne. In einer Podiumsdiskussion des Jahres 1964, wo prominente Historiker versuchten, gegen Fischer die gesellschaftliche Verantwortung des Historikers anzumahnen, wehrte dieser sich ebenso verzweifelt wie schneidend scharf: "Es musste doch einer erst einmal etwas sagen."

So war es in der Tat, und hier öffneten sich neue Perspektiven. Im Streit der Historiker um die Fischer-Thesen über Deutschlands Weltmachtpolitik vor 1914 als Vorspiel des Nazi-Wahns war Fischer relativ isoliert geblieben, sekundiert vom engeren Kreis seiner Schüler und vom kritischen Blick der ausländischen Historiker, die beobachteten, auf welche Art und Weise das historiographische und politische Establishment des - noch von der CDU regierten - Staates mit dem Einzelgänger umzuspringen beliebte: Tatsächlich sagte das Auswärtige Amt eine von Goethe-Instituten in den Vereinigten Staaten organisierte Vortragsreise Fischers kurzfristig ab, was einen Proteststurm amerikanischer Historiker gegen diesen trotz offizieller Ausreden offensichtlichen Eingriff in die Freiheit der Wissenschaft auslöste. Selbstverständlich wurde Fischer dann von amerikanischen Universitäten auf deren Kosten eingeladen, und seine Thesen wurden umso stärker rezipiert, als er nun auch Opfer nicht nur der "Zunft", sondern auch politischer Zensur geworden war.

Wenn man nach denen sucht, die in dieser querelle des anciens et des modernes die "Modernen" waren, dann fällt der Blick auf die Hunderte von jungen Studenten und Studentinnen, die in Hamburg Fischers Vorlesungen folgten. Niemand in dieser anonymen Studentenmasse, sei es in Hamburg oder anderswo, hatte jemals konkret über deutsche Kriegsziele im Ersten Weltkrieg oder die Juli-Krise von 1914 nachgedacht. Aber alle hatten verstanden, dass da jemand den Mut gehabt hatte, sich gegen das Establishment zu wenden und die "Kontinuitäts"-Frage so zu stellen, wie die Studenten sie stellen wollten.

Wir folgten Fischer vor allem, weil er die gesetzten älteren Herren zur Weißglut brachte, die seminarmäßig über die "Dämonie der Macht", über deutschen Geist und deutsches Schicksal, über Bismarcks historische Größe und dergleichen mehr lehrten. In Wahrheit hatte der Streit über den Kriegsausbruch 1914 lediglich die Rolle eines Stellvertreterkrieges. Denn eigentlich hatten wir eine ganz andere Frage, die freilich nur ganz wenige zu stellen wagten. Es war die Frage nach Auschwitz und wie das hatte geschehen können!

Erinnern wir uns: Der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess von 1959 (und die Gründung der Ludwigsburger Zentralstelle) signalisierte ein neues Interesse an der großen Leiche im Keller dieser Republik. 1960 kam "Der gelbe Stern" heraus, ein Jahrhundertbuch, an dem sich das Interesse der Generation der in und nach dem Krieg Geborenen entzündete. Und 1961 dann der Auschwitz-Prozess. Von alldem war in der Fischer-Kontroverse nicht ausdrücklich die Rede, aber alle, die von "Kontinuität" sprachen oder die Diskontinuität der deutschen Geschichte von Bismarck über Hitler bis Adenauer einforderten, wussten oder ahnten, dass sie eigentlich von Auschwitz sprachen.

Immer lauter forderten wir, dass diejenigen, die - gegen Fischer - "Hitler" als einen schrecklichen Bruch mit den guten Traditionen der deutschen Geschichte ansahen, uns erklären sollten, in welcher Kontinuität sie selber standen. War denn etwa wahr, wie es aus der "Zone" herüberschallte, dass unsere Republik, auch die akademische, noch voller Nazis war? So fingen wir an, die Heimpel, Wittram, Hölzle, Herzfeld und so weiter nach ihren Schriften der dreißiger Jahre zu fragen, und erhielten zum Teil ganz ausweichende und niederschmetternde Auskünfte.

Diese Seite der deutschen Historiographie wird erst jetzt, vier Jahrzehnte später, aktenmäßig geklärt. Vehement forderten damals - im Angesicht des Schocks des gelben Sterns und des Auschwitz-Prozesses - die Jungen Rechenschaft von den Alten. Mit der einfachen Behauptung der "Diskontinuität" und des "Verkehrsunfalls" in der deutschen Geschichte war es nicht mehr getan. Rechenschaftslegung war ein wichtiger Teil der Kontinuitätsfrage, die natürlich sachlich und emotional viel weiter zielte als Fischers These zum Ersten Weltkrieg, die aber den echten Generationsbruch und das erste Aufwachen derer darstellte, die man heute die Achtundsechziger nennt.

Fischer und seine Thesen führten zum Schwanengesang einer Generation von Historikern (und Publizisten), die geglaubt hatten, die Hitlerei aus der deutschen Geschichte ausklammern und die Bundesrepublik rein restaurativ fundieren zu können. Die Krux war, dass sich in diesem Bemühen ehemalige Nazis mit Widerständlern und Emigranten einig waren, weshalb sie auch, alle miteinander, jeglichen Kredit bei den Jungen verloren.

Vierzig Jahre später ist der Pulverdampf jener Richtungskämpfe verzogen, und wir können ermessen, was die Kontroverse der Forschung gebracht hat. Die alten Texte der Fischer-Kontroverse überraschen heute den Leser. Mitunter möchte man beim Gegner gar Abbitte tun: Die Empörung damals war gar zu laut. Die heute in der Forschung über den Ersten Weltkrieg triumphierende Mentalitätengeschichte hat neue Wege frei gemacht zu "verstehender" Interpretation auf verschiedenen Ebenen, und wir verstehen auch besser als damals, was Ritter und die anderen umtrieb, als sie gegen Fischer opponierten.

Wenn aber damals die "Alten" historisches "Verstehen" für die Generation von 1914 einforderten und Fischer vorwarfen, er verhalte sich wie ein "Staatsanwalt" und nicht wie ein Historiker, so implizierte dieses "Verstehen" in den allermeisten Fällen neben der Selbstrechtfertigung eine ganz ausschließliche "verstehende" Sicht des Handelns der deutschen Staatsmänner von 1914. Es gab noch nationale Identifikationen wie beispielsweise in Ritters Geschichtserzählung in einer schon damals kaum noch nachvollziehbaren nationalen "Wir"-Form: Dieses "Wir" war uns Jungen verhasst und ist gottlob! heute völlig verschwunden. Historiker sind nicht mehr praeceptores Germaniae, gleichgültig, ob in emanzipatorisch-kritischer Weise oder in national-konservativer. So wie der "Staatsbürger in Uniform" verschwindet, gibt es auch die Frage nicht mehr, ob diese Republik sich halten kann. Bonn ist Vergangenheit und Weimar nur mehr Kulturerbe des neuen Deutschland. Zudem ist der Erste Weltkrieg noch viel weiter fort gerückt, für die Jüngeren ist er so weit entfernt wie Napoleon oder Bismarck.

Für die Erforschung des Ersten Weltkriegs hat diese Entfernung erhebliche Konsequenzen. Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten, vor allem durch die Alltagsgeschichte, die einfachen Leute und Soldaten wieder entdeckt und beispielsweise vollständig revidiert, was früher als "August-Erlebnis" oder "Kriegsbegeisterung" fast axiomatisch gehandelt wurde. Heute erkennen wir, wie Furcht und Sorge vor dem "Großen Krieg" die meisten Menschen vor 1914 umtrieb - jenseits der prahlerischen und bedenkenlosen Propaganda.

Wir lernen die Mechanismen und Träger jener Propaganda kennen und unterscheiden diese von der öffentlichen Meinung. Wir haben inzwischen viel genauer untersucht, als dies zur Zeit der Fischer-Kontroverse der Fall war, wie der Krieg immer totaler wurde, wie er von 1916 an der "industrialisierte Krieg" war, von dem 1914 nur wenige ahnungsvoll gesprochen hatten. Selbstverständlich ist dadurch auch - auf durchaus "historische" Weise und jenseits aller Identifikation - die Möglichkeit verbessert worden, die Regierenden und Herrschenden samt den Militärs von damals zu verstehen.

Natürlich wurde bereits zur Zeit der Fischer-Kontroverse von den Gegnern Fischers das "Verstehen" der zeitgenössischen Entscheidungsträger angemahnt, aber das ergab sich aus der nachgiebigen Bereitschaft zu verzeihen. Die Schlacht, die damals geführt wurde, um die Ansichten, Motive und Zugzwänge etwa von Theobald von Bethmann Hollweg, spielte sich auf gesinnungsethischer Ebene ab, unter anderem in der polemischen Zuspitzung auf die Frage, ob Bethmann Hollweg nicht gar der "Hitler des Jahres 1914" gewesen sei. Man bemühte Bethmanns vorgeblich leichtsinniges Kalkül in der Juli-Krise genauso wie seine düstere Meinung post festum, dass dieser Krieg Europas Gesicht zur Gänze verändern werde. Da es an Quellen mangelt, können wir krisenpsychologisch nicht weiter blicken. Bis heute wissen wir nicht genau, was im Tagebuch seines Vertrauten Kurt Riezler später gefälscht worden ist, das der Historiker Karl Dietrich Erdmann erst zurückgehalten und dann als Hauptquelle lanciert hatte. Die Debatte ist deshalb auch verstummt.

Aber es hat sich der Blick der Historiker geöffnet für Entscheidungshandeln und dessen phobische Dimension, was auch damit zu tun hat, dass wir nicht mehr unter dem Schirm des atomaren Patts leben und das damals allen geläufige Wort des "Systemzwangs" nahezu vergessen haben. Angesichts der übermächtigen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und im Zeichen der möglichen atomaren Vernichtung der Menschheit war jeder Krieg in den sechziger Jahren ein potentieller Weltkrieg. Verantwortlichkeit wurde dementsprechend hoch angesetzt. Mittlerweile hat die "Hegung" des Krieges - zuletzt die kriegerische Polizeiaktion gegen Serbien - verschüttete Dimensionen von 1914 wieder spürbar werden lassen und der historischen Untersuchung neue Felder eröffnet.

Was das Entscheidungshandeln in der Juli-Krise von 1914 angeht, so ist heute die von Wolfgang J. Mommsen damals eingeführte Formel allgemein akzeptiert und schulbuchmäßig kanonisiert: Die deutsche Regierung hat im Juli 1914 hart am Rande des Abgrunds operiert und zur (expansiven) Sicherung ihrer Weltmachtstellung auch das Risiko eines "großen Krieges" nicht gescheut. Stärker aber als 1960 sind die Historiker heute bereit anzuerkennen, dass die internationale Situation traumatisierend wirken konnte; das ist möglich, gerade weil wir heute von dem Druck beziehungsweise dem Vakuum antagonistischer diplomatischer Konstellationen und Bündnisse befreit sind.

Die grundsätzliche Veränderung und Sensibilisierung der Historiographie für das in den sechziger Jahren apologetisch heranzitierte "Entscheidungshandeln" zeigt sich besonders daran, dass die heutigen Historiker - einerlei wo sie politisch stehen - ohne weiteres akzeptieren können, dass die gesamte wilhelminische Gesellschaft unter dem Einkreisungssyndrom litt. Man kann annehmen und zugestehen, dass das Gefühl, von feindlichen Mächten eingekreist zu sein, das sich in Deutschland nach etwa 1905 sogar bei Sozialdemokraten entwickelte, emotions- und entscheidungsleitend war.

Als aber Fritz Fischers Gegner seine Thesen von den Weltmachtambitionen Deutschlands mit dem Hinweis auf die "Einkreisung" abtaten, musste man ihnen, um überhaupt weiterzukommen, entgegenhalten, dass die Wilhelminer sich mit ihrer aggressiven, überdimensionierten Weltpolitik viel eher selber ausgekreist hatten, als dass sie arme Opfer böser und neidischer Nachbarn gewesen waren. Es galt ja vor allem, das verstehende "Wir" der älteren Historiker, die im Wilhelminismus aufgewachsen oder, wie Gerhard Ritter, Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen waren, zum Nutzen historischer Kritik zu destruieren. Das ist gelungen, und deshalb können wir heute "Selbstauskreisung" als Kunstwort kritischer Haltung wieder ad acta legen und unbefangen die Tatsache in die historische Analyse miteinbringen, dass die Regierenden damals ihre Verantwortung vor allem darin sahen, "den Ring der Einkreisung zu brechen".

Heute können wir uns mit der nötigen Gelassenheit der Frage widmen, was denn damals als "Verteidigung" wahrgenommen wurde, eine Frage, die in der Fischer-Kontroverse überhaupt nicht erörtert wurde. Die Metapher des "Überfalls", dem man sich 1914 ausgesetzt sah, gilt es aufzubrechen. Die Deutschen glaubten 1914, ihre Zukunft vor den (vor allem britischen) Neidern verteidigen zu müssen, was gleichbedeutend war mit imperialistischer Ausdehnung. Sie glaubten aber auch, sich gegen die "russische Dampfwalze" rüsten zu müssen, von der sie sich wirklich bedroht fühlten. Dieses Gemenge von aggressiven und defensiven Phobien haben sie selber kaum durchschaut, genauso wenig wie die Historiker-Generation von Herzfeld, Rothfels und Ritter, die im "Kampf gegen die Kriegsschuldlüge" oder im Schatten von Versailles groß geworden waren und glaubten, ihr Land vor der Geschichte schützen zu müssen. Heute muss niemand mehr die Wilhelminer verteidigen, weshalb wir sie besser verstehen können, wie zum Beispiel Joachim Radkau in seinem neue Forschungswege öffnenden Buch über das "Zeitalter der Nervosität" gezeigt hat.

Was heute an der im Oktober 1959 einsetzenden Fischer-Kontroverse am abstrusesten erscheint, das ist die systematische Ausgrenzung der internationalen Politik, an der beide Lager beteiligt waren, jedes auf seine Weise. Für Fischer und seine Leute, die mit der kritischen Abrechnung mit wilhelminischem Weltmachtwahn beschäftigt waren, schien das Ausland tabu zu sein. Fischers Ausführungen über Frankreich, England und Russland sind nur flankierendes Beiwerk. Bei Ritter und Fischers übrigen Gegnern waren die Ausländer "auch nicht besser" oder gar wahrhaft bösartig gegenüber Deutschland eingestellt.

Das Geflecht der internationalen Verstrickungen, die strategischen Abmachungen, die ökonomischen Zwänge und imperialistischen Interessen wurden erst in der Folge, vor allem in den siebziger und achtziger Jahren, avisiert, wobei in vergleichender Perspektive die Besonderheit des deutschen Militarismus - der Gehorsam der Politiker vor der militärischen Rationalität - noch deutlicher wurde als in den alten Anklagen und Widerreden. Interessanterweise kamen diese vergleichenden Anstöße vor allem aus dem Ausland. S. R. Williamson, David Stevenson, Paul Kennedy, Georges Soutou, Jacques Thobie und andere waren nicht belastet, aber durch diesen auf die Spur gebracht von dem deutschen Streit um Fischer.

Und so müssen vierzig Jahre später auch die, die Fritz Fischer bekämpften oder seinen moralinsauren Aufrechnungen skeptisch gegenüberstanden, sehen, dass es seine Fragen und seine - wie auch immer überzogenen - Thesen waren, die nicht allein die Diskussion über den Ersten Weltkrieg beflügelt haben, sondern die deutschen Historiker in einem wichtigen Moment vom Druck der Tradition befreit und neue Wege des "historischen Verstehens" gebahnt haben.

GERD KRUMEICH

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