Die Verbrechen der Balkankriege und das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag: Wer sind die Täter und wie sind sie zu dem geworden was sie sind? Über Wochen und Monate hat Slavenka Drakulic die Verhandlungen sowohl vor dem Internationalen Kriegsverbrecher- tribunal in Den Haag als auch in Kroatien mitverfolgt, hat die Verhöre genauso wie den Alltag der Angeklagten beobachtet und erfahren, wie aus unauffälligen jungen Männern Mörder und aus Nachbarn Todfeinde wurden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2004Der Gefängnisfrieden
Slavenka Drakulic versteht das Ungeheure des Balkankriegs
Slavenka Drakulic: Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht. Deutsch von Barbara Antkowiak. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004. 197 Seiten, 17,90 [Euro].
Sie kochen und essen gemeinsam, sie tauschen ihre Zeitungen aus und treiben miteinander Sport. "Man möchte glauben, daß sie voneinander isoliert werden müßten, weil sie gegeneinander Krieg geführt haben und Todfeinde seien. Aber Serben und Kroaten und Bosnier, die jahrelang aufeinander geschossen haben, leben hier friedlich zusammen." Schauplatz der jugoslawischen Idylle, von der hier die Rede ist, ist das Gefängnis von Scheveningen, dessen Häftlinge sich wegen schwerster Kriegsverbrechen vor dem Tribunal der Vereinten Nationen in Den Haag zu verantworten haben. "Goran Jelisic, der als eine Art Sprecher dieser Gruppe agiert, sagte dem Publikum im Gerichtssaal, die Untersuchungsgefangenen hätten Frieden miteinander geschlossen, zweifelten jedoch, ob auch die Menschen daheim dazu fähig seien." Das, fügt Slavenka Drakulic hinzu, "war wohl überhaupt nicht ironisch gemeint".
Jelisic, bosnischer Serbe, geboren 1961, war ein "netter Kerl" gewesen, ein stiller junger Mann, beliebt bei seinen Freunden im lokalen Anglerverein. Zeugen bestätigten, er habe während des Krieges muslimischen Familien geholfen. Als Polizist in Brcko brachte er dann im Mai 1992 in achtzehn Tagen eigenhändig mehr als hundert Gefangene um, zumeist durch Genickschuß. Dreizehn dieser Morde konnten ihm in Den Haag nachgewiesen werden. Zeugen sagten aus, daß er sich damals benahm, als stünde er unter Drogen. "Und er stand tatsächlich unter Drogen, denn die unumschränkte Macht über Leben und Tod ist ja die stärkste Droge. Er war gottgleich." Die Umstände hatten ihn dazu gemacht: "Es war nicht mehr Frieden, es war Krieg."
Der Versuch, das Ungeheure des Balkankriegs zu verstehen, steht seit zwölf Jahren im Mittelpunkt des Schaffens der kroatischen Schriftstellerin Slavenka Drakulic. Ein Artikel im Time Magazine im Februar 1992, in dem sie den Zugriff des Krieges auf ihre Person als plötzliche Verknappung ihrer Existenz auf die bloße Volkszugehörigkeit denunzierte, nimmt sich im Rückblick wie ein Prolog aus. Der vorliegende schmale Band, der an den Angeklagten von Den Haag einige dieser Kriegskarrieren exemplarisch erfaßt, bildet den Epilog. Frau Drakulic hat ein außerordentlich wichtiges und zutiefst verstörendes Buch vorgelegt - es trägt zur Zersetzung der bequemen Denkmuster bei, die das Grauen aus der Wahrnehmung des jüngsten europäischen Krieges ausfiltern.
Scheinbare Gewißheiten geraten bei der Lektüre dieses Buches ins Wanken. Da ist nicht von atavistisch-balkanischem Haß die Rede, auch nicht von politischen Ideologien. Die Mörder von Vukovar und Srebrenica, von Gospic und Omarska entstammen nicht irgendeiner barbarischen, vormodernen Lebenswelt, die sich von der unseren grundlegend unterschiede. Und keiner der Täter, denen sie nachspürte, entspricht dem Stereotyp des fanatischen Nationalisten, der aus Überzeugung tötet. Über den Massenmörder Borislav Herak, der 1993 in Sarajevo vor Gericht stand, schreibt sie: "Meine größte Enttäuschung war, daß er wie jeder andere aussah, wie ein Nachbar, Verwandter oder Freund. Fast verzweifelt suchte ich nach Zeichen von Wahnsinn in seinen Augen oder sonstigen Merkmalen, daß er das Monster war, das ich in ihm sehen wollte." Die Frage nach der Kontingenz kriminellen Verhaltens in Zeiten des Krieges läßt sie nicht los. Hätten ihr Vater, ihre Mutter, ihre Tochter oder ihr Schwiegersohn so handeln können?
Die Stärke der Autorin, von der auch ihre zahlreichen anderen Bücher zeugen, liegt in ihrem außerordentlichen Einfühlungsvermögen. "Das Böse", schreibt sie, "ist die Abwesenheit von Mitgefühl." Wie bei Parsifal ist Erlösung nur "durch Mitleid wissend" denkbar. Frau Drakulic wendet ihre empathische Methode an auf Menschen, die die Unfähigkeit zur Empathie entmenschlicht hat. Das Kapitel über General Radislav Krstic aus Sarajevo, der wegen Beihilfe zum Genozid von Srebrenica im April 2004 zu 35 Jahren Haft verurteilt wurde, ist ihr Meisterstück. Krstic durchlief die Laufbahn eines Offiziers der Jugoslawischen Volksarmee, der auf Titos "Brüderlichkeit und Einheit" der Nationen gebaut hatte, bis sie in Völkermord umschlug. Sein Typus erinnert die Offizierstochter so sehr an ihren Vater, daß sie sich fragt, ob auch seine Uniform "nach einer Mischung aus Tabak und Essig" gerochen habe.
"Wir fragten nie nach der nationalen Herkunft der anderen", sagte Krstic vor Gericht, "alle waren Bürger von Sarajevo." Man mußte nicht Nationalist sein, um wie Krstic Befehle auszugeben wie "Liquidiert sie alle" und "Keiner darf am Leben bleiben". Zum Verbrecher wurde er aus Schwäche, weil er "einem Vorgesetzten gegenüber nicht ,nein' sagen kann". Wie Tausende andere erlag er der Kette der "täglichen Entscheidungen und Zugeständnisse", die Männer wie ihn Befehlen von Leuten wie Ratko Mladic auslieferte. Er hätte sich widersetzen oder zurücktreten müssen. Aber er hat es nicht getan: "Sein Prozeß zeugte vom Niedergang einer Gesellschaft, die ihre Werte, einer Armee, die ihre Ehre, und eines Mannes, der seine Seele verloren hatte, als er sich im Juli 1995 auf das Böse einließ."
KARL-PETER SCHWARZ
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Slavenka Drakulic versteht das Ungeheure des Balkankriegs
Slavenka Drakulic: Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht. Deutsch von Barbara Antkowiak. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004. 197 Seiten, 17,90 [Euro].
Sie kochen und essen gemeinsam, sie tauschen ihre Zeitungen aus und treiben miteinander Sport. "Man möchte glauben, daß sie voneinander isoliert werden müßten, weil sie gegeneinander Krieg geführt haben und Todfeinde seien. Aber Serben und Kroaten und Bosnier, die jahrelang aufeinander geschossen haben, leben hier friedlich zusammen." Schauplatz der jugoslawischen Idylle, von der hier die Rede ist, ist das Gefängnis von Scheveningen, dessen Häftlinge sich wegen schwerster Kriegsverbrechen vor dem Tribunal der Vereinten Nationen in Den Haag zu verantworten haben. "Goran Jelisic, der als eine Art Sprecher dieser Gruppe agiert, sagte dem Publikum im Gerichtssaal, die Untersuchungsgefangenen hätten Frieden miteinander geschlossen, zweifelten jedoch, ob auch die Menschen daheim dazu fähig seien." Das, fügt Slavenka Drakulic hinzu, "war wohl überhaupt nicht ironisch gemeint".
Jelisic, bosnischer Serbe, geboren 1961, war ein "netter Kerl" gewesen, ein stiller junger Mann, beliebt bei seinen Freunden im lokalen Anglerverein. Zeugen bestätigten, er habe während des Krieges muslimischen Familien geholfen. Als Polizist in Brcko brachte er dann im Mai 1992 in achtzehn Tagen eigenhändig mehr als hundert Gefangene um, zumeist durch Genickschuß. Dreizehn dieser Morde konnten ihm in Den Haag nachgewiesen werden. Zeugen sagten aus, daß er sich damals benahm, als stünde er unter Drogen. "Und er stand tatsächlich unter Drogen, denn die unumschränkte Macht über Leben und Tod ist ja die stärkste Droge. Er war gottgleich." Die Umstände hatten ihn dazu gemacht: "Es war nicht mehr Frieden, es war Krieg."
Der Versuch, das Ungeheure des Balkankriegs zu verstehen, steht seit zwölf Jahren im Mittelpunkt des Schaffens der kroatischen Schriftstellerin Slavenka Drakulic. Ein Artikel im Time Magazine im Februar 1992, in dem sie den Zugriff des Krieges auf ihre Person als plötzliche Verknappung ihrer Existenz auf die bloße Volkszugehörigkeit denunzierte, nimmt sich im Rückblick wie ein Prolog aus. Der vorliegende schmale Band, der an den Angeklagten von Den Haag einige dieser Kriegskarrieren exemplarisch erfaßt, bildet den Epilog. Frau Drakulic hat ein außerordentlich wichtiges und zutiefst verstörendes Buch vorgelegt - es trägt zur Zersetzung der bequemen Denkmuster bei, die das Grauen aus der Wahrnehmung des jüngsten europäischen Krieges ausfiltern.
Scheinbare Gewißheiten geraten bei der Lektüre dieses Buches ins Wanken. Da ist nicht von atavistisch-balkanischem Haß die Rede, auch nicht von politischen Ideologien. Die Mörder von Vukovar und Srebrenica, von Gospic und Omarska entstammen nicht irgendeiner barbarischen, vormodernen Lebenswelt, die sich von der unseren grundlegend unterschiede. Und keiner der Täter, denen sie nachspürte, entspricht dem Stereotyp des fanatischen Nationalisten, der aus Überzeugung tötet. Über den Massenmörder Borislav Herak, der 1993 in Sarajevo vor Gericht stand, schreibt sie: "Meine größte Enttäuschung war, daß er wie jeder andere aussah, wie ein Nachbar, Verwandter oder Freund. Fast verzweifelt suchte ich nach Zeichen von Wahnsinn in seinen Augen oder sonstigen Merkmalen, daß er das Monster war, das ich in ihm sehen wollte." Die Frage nach der Kontingenz kriminellen Verhaltens in Zeiten des Krieges läßt sie nicht los. Hätten ihr Vater, ihre Mutter, ihre Tochter oder ihr Schwiegersohn so handeln können?
Die Stärke der Autorin, von der auch ihre zahlreichen anderen Bücher zeugen, liegt in ihrem außerordentlichen Einfühlungsvermögen. "Das Böse", schreibt sie, "ist die Abwesenheit von Mitgefühl." Wie bei Parsifal ist Erlösung nur "durch Mitleid wissend" denkbar. Frau Drakulic wendet ihre empathische Methode an auf Menschen, die die Unfähigkeit zur Empathie entmenschlicht hat. Das Kapitel über General Radislav Krstic aus Sarajevo, der wegen Beihilfe zum Genozid von Srebrenica im April 2004 zu 35 Jahren Haft verurteilt wurde, ist ihr Meisterstück. Krstic durchlief die Laufbahn eines Offiziers der Jugoslawischen Volksarmee, der auf Titos "Brüderlichkeit und Einheit" der Nationen gebaut hatte, bis sie in Völkermord umschlug. Sein Typus erinnert die Offizierstochter so sehr an ihren Vater, daß sie sich fragt, ob auch seine Uniform "nach einer Mischung aus Tabak und Essig" gerochen habe.
"Wir fragten nie nach der nationalen Herkunft der anderen", sagte Krstic vor Gericht, "alle waren Bürger von Sarajevo." Man mußte nicht Nationalist sein, um wie Krstic Befehle auszugeben wie "Liquidiert sie alle" und "Keiner darf am Leben bleiben". Zum Verbrecher wurde er aus Schwäche, weil er "einem Vorgesetzten gegenüber nicht ,nein' sagen kann". Wie Tausende andere erlag er der Kette der "täglichen Entscheidungen und Zugeständnisse", die Männer wie ihn Befehlen von Leuten wie Ratko Mladic auslieferte. Er hätte sich widersetzen oder zurücktreten müssen. Aber er hat es nicht getan: "Sein Prozeß zeugte vom Niedergang einer Gesellschaft, die ihre Werte, einer Armee, die ihre Ehre, und eines Mannes, der seine Seele verloren hatte, als er sich im Juli 1995 auf das Böse einließ."
KARL-PETER SCHWARZ
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Slavenka Draculic leistet mit dem Buch zweifelsohne einen wichtigen Beitrag zu der Publizistik über die jüngsten Kriege und deren Folgen auf dem Balkan. Sie nimmt in ihrer Arbeit gleichermaßen die Rolle einer objektiven Beobachterin, einer mitfühlenden Mutter und Frau sowie einer gebildeten Zeitgenossen ein. Dies ist besonders wichtig, da die Balkankriege mit ihrem Gräueln allmählich aus dem europäischen Bewusstsein verschwinden."
Andrea Dunai, Das Parlament, 15./22.03.04
"The war is not over - das lernen wir, wenn wir diese wichtigen Reportagen lesen."
Carl Wilhelm Macke, Tages-Anzeiger-Zürich, 22.03.04
"Drakulics Buch ist mehr, als es vorgibt zu sein. Das zeigt sich nicht nur in einem wunderbaren, subtilen Doppelporträt von Slobodan Milosevic und seiner Frau Mira Markovic, das den bislang wohl intimsten Einblick in das Wesen des Architekten des jugoslawischen Zerfalls gibt."
Patrik Volf, Falter, 26.03.04
"Es kommt nicht so oft vor, dass man ein Buch zu lesen beginnt und es nicht mehr aus der Hand legen möchte. Slavenka Drakulics engagierter Bericht "Keiner war dabei" gehört zu jener raren Spezies Literatur, die in klarer und eindringlicher Sprache jene Hintergründe des Zerfalls Jugoslawiens beleutet, die von dem Internationalen Tribunal in Den Haag abgehandelt werden. [...] Hier erlebt man Drakulic als eine Schriftstellerin von Graden. Ein Buch, das man tief beeindruckt schließt."
Wolfgang Petritsch, Die Presse, 03.04.04
"...ein außerordentlich wichtiges und zutiefst verstörendes Buch - es trägt zur Zersetzung der bequemen Denkmuster bei, die das Grauen aus der Wahrnehmung des jüngsten europäischen Krieges ausfiltern."
Karl-Peter Schwarz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.06.2004
Andrea Dunai, Das Parlament, 15./22.03.04
"The war is not over - das lernen wir, wenn wir diese wichtigen Reportagen lesen."
Carl Wilhelm Macke, Tages-Anzeiger-Zürich, 22.03.04
"Drakulics Buch ist mehr, als es vorgibt zu sein. Das zeigt sich nicht nur in einem wunderbaren, subtilen Doppelporträt von Slobodan Milosevic und seiner Frau Mira Markovic, das den bislang wohl intimsten Einblick in das Wesen des Architekten des jugoslawischen Zerfalls gibt."
Patrik Volf, Falter, 26.03.04
"Es kommt nicht so oft vor, dass man ein Buch zu lesen beginnt und es nicht mehr aus der Hand legen möchte. Slavenka Drakulics engagierter Bericht "Keiner war dabei" gehört zu jener raren Spezies Literatur, die in klarer und eindringlicher Sprache jene Hintergründe des Zerfalls Jugoslawiens beleutet, die von dem Internationalen Tribunal in Den Haag abgehandelt werden. [...] Hier erlebt man Drakulic als eine Schriftstellerin von Graden. Ein Buch, das man tief beeindruckt schließt."
Wolfgang Petritsch, Die Presse, 03.04.04
"...ein außerordentlich wichtiges und zutiefst verstörendes Buch - es trägt zur Zersetzung der bequemen Denkmuster bei, die das Grauen aus der Wahrnehmung des jüngsten europäischen Krieges ausfiltern."
Karl-Peter Schwarz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.06.2004
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Karl-Peter Schwarz hat "ein außerordentlich wichtiges und zutiefst verstörendes Buch" gelesen, eines, das wohlfeile Gewissheiten zerschellen lässt. Denn wie sehr sind wir es gewöhnt, in den Mördern der Balkankriege fanatische Nationalisten zu sehen, und wie leicht fällt deshalb die Annahme, wir selber wären ganz anders. Slavenka Drakulics Erfahrungen beim Kriegsverbrechertribunal in Den Haag offenbaren eine andere Realität: Die Täter handelten nicht aus nationalistischer und auch sonst aus keiner Überzeugung, sie töteten, weil ihnen das Vermögen zur Empathie fehlte. Drakuli hat beobachtet, wie die Mörder verschiedener Herkunft in Gefangenschaft ohne Schwierigkeiten zu Kameraden wurden; sie alle hatten Menschen liquidiert, aber nicht aus Hass, sondern aus moralischer Indifferenz. Damit, so der Rezensent, schreibe die Autorin das verdrängte "Grauen" in die Wahrnehmung der Balkankriege ein - und das gehe über jeweilige Ideologien hinaus. Seit zwölf Jahren, schreibt Schwarz, versuche sich die kroatische Autorin dem "Ungeheuren", das in ihrer Heimat geschah, zu nähern. Die Stärke von Drakulics Texten bestehe in ihrem "außerordentlichen Einfühlungsvermögen" - es dient ihr dazu, Menschen zu entschlüsseln, die keines besitzen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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