David hat sein Gedächtnis verloren. Er weiß nicht mehr, wer er ist. In einer Zeitungsanzeige fordert er Verwandte und Bekannte auf, ihm einen Brief zu schreiben, um ihm seine Erinnerungen zurückzugeben. Und er bekommt Antworten auf seine Fragen. Aber will er die wirklich hören? Denn sie sind ganz unterschiedlicher Art und nicht immer schön. Sein Jugendfreund Jon, ein Musiker, der gerade den Halt zu verlieren scheint, meldet sich. Sein Stiefvater Arvid, ein Pfarrer, der auf den Tod wartet. Und seine Jugendliebe Silje, eine Frau mittleren Alters, die möglicherweise gerade im Begriff ist, aus ihrer Ehe auszusteigen. Die Briefe geben ihnen allen die unerwartete Chance, von ihrem eigenen Leben zu erzählen, während sie zugleich Davids Geschichte einkreisen. Aber wer ist David wirklich?
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Peter Urban-Halle fürchtet, auch noch die künftigen Romane von Carl Frode Tiller lesen zu müssen. Mit seinen Anleihen bei Albee und Bergman greift der Autor viel zu hoch, findet der Rezensent. Tillers lebloses "Rapport-Präsens" jedenfalls hält er nicht lange aus. Der Inhalt des Buches, in dem es um Amnesie und die Rekonstruktion der gemeinsamen Vergangenheit von vier Figuren geht, scheint Urban-Halle dabei schon trostlos genug. Kaum eine Szene, in der nicht gestritten wird, kaum eine Erinnerung ohne Tod und Elend, meint er. So geben sich Inhalt und Form in gewisser Weise die Hand in diesem Buch, lässt der Rezensent uns wissen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.02.2016Norwegen, das muss die Hölle sein
Familiengeschichte ohne jede Freude: Carl Frode Tiller zeichnet ein deprimierendes Gesellschaftsporträt
Der Gedächtnisverlust ist ein beliebtes Motiv der Literatur. Im neuen Roman des Norwegers Carl Frode Tiller bittet der Betroffene, ein gewisser David, per Annonce seine Bekannten, durch ausführliche Briefe seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Aber im Gegensatz zu verwandten Texten wie Anouilhs "Reisendem ohne Gepäck" oder Herrndorfs "Sand", Suters "Perfektem Freund" oder Ludlums "Bourne-Identität" interessiert Tiller die Ursache der Amnesie nicht, weshalb der Geschichte etwas die Bodenhaftung fehlt. Eine weitere Besonderheit ist, dass wir bei Tiller weniger diesen David kennenlernen (außer dass er über seinen unbekannten leiblichen Vater spekuliert) als diejenigen, die ihm helfen sollen.
Das sind drei Personen: ein früherer Freund, der Stiefvater und die frühere Freundin. Abwechselnd mit den Briefen schreiben alle drei eine Art Tagebuch, in dem sie von wichtigen Momenten ihres jetzigen Daseins (im Sommer 2006) erzählen. Alle drei haben David seit gut zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, alle drei stecken in einer heftigen Krise. Da sie sich auch gegenseitig kennen und übereinander schreiben, erhalten wir teilweise sehr verschiedene Versionen derselben Geschichte und derselben Person. Auch das ist uns aus der Literatur vertraut, eindrücklichstes Beispiel aber ist eine Literaturverfilmung: Kurosawas "Rashomon".
Der Freund ist der labile, destruktive Jon, der damals, in den achtziger Jahren, mit David ins Bett ging, was für beide Protest gegen die kleinbürgerlichen Provinzler war. Als David die fesche Silje kennenlernte und zu ihr und ihrer flippigen Mutter zog, ging Jons Verhältnis zu David in die Brüche. Mittlerweile ist Jons Mutter schwerkrank, mit dem Bruder gibt es nur Streit, und er ist ständig auf der Flucht, vor den anderen und vor sich selbst.
Im zweiten Teil liegt Davids Stiefvater Arvid, einst Pfarrer, todkrank im Spital und beneidet seinen Zimmernachbarn, der von dessen Tochter umsorgt wird. In den Briefen der anderen ist Arvid die moralisierende Nervensäge, er selbst empfindet sich als grüblerisch und gewissenhaft. Im dritten Teil erzählt die inzwischen verheiratete Silje von ihrer verkorksten Ehe mit Egil, ihr Vater war offenbar ein Scheusal, das Verhältnis zur Mutter ist gespannt. Wie im ganzen Buch gibt es keine Szene, in der sich die handelnden Personen nicht heillos zerstreiten. Jeder ist von jedem genervt, selten hat man so absurde, beklemmende Tischgespräche und Abrechnungen gelesen wie bei Tiller.
Die glücklichsten Menschen leben in Skandinavien, dachten wir immer. Aber nicht in Norwegen - das muss die Hölle sein. Hier gibt es keinen, den auch nur ein Hauch von Glück umwehte. Ständig "schwillt" in einem von ihnen "der Ärger an". Erwachsene sind entweder besitzergreifend oder egoistisch. Väter sind ein Problem oder gar nicht erst da. Mütter werden vom Bus überfahren, Eltern verbrennen wegen einer umgestürzten Kerze, Ehegatten sterben unversehens: Elend, überall. Wir fragen uns bang: Was hat dieser Autor im Leben erlebt?
Aber das größte Elend ist, dass Tillers Buch doppelt deprimierend ist: in Inhalt und Form. Seine Familienhölle erreicht weder die absurd-komischen Höhen von Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" noch die verzweifelt-tragischen Tiefen von Bergmans "Szenen einer Ehe", weder einen skeptisch-ironischen Ibsen noch einen dämonisch-pathetischen Strindberg, alles Größen, die Tiller im Kopf gehabt haben wird. Der Romanautor behandele die Welt nach seiner Weise, nur müsse er eine Weise haben, so ungefähr hat es ein deutscher Klassiker gesagt. Tillers Weise ist nicht zu erkennen, er schreibt in einem leblosen, trockenen Stil, in Kurzsätzen wie für Leseschwache, überdies im Rapport-Präsens, das auch im Norden zur angesagten Erzählform geworden ist: "Wir machen uns Sorgen um dich, Trond, sagt Else leise. Wir sind beunruhigt, sagt sie, und ich sehe Trond an und sehe, wie wütend er ist, und er nickt kalt und böse."
Im Original heißt das Buch "Innsirkling", Einkreisung. Tiller, geboren 1970, hat über den unglücklichen norwegischen Menschen angeblich eine ganze Trilogie geschrieben. Müssen wir das auch noch lesen?
PETER URBAN-HALLE
Carl Frode Tiller: "Kennen Sie diesen Mann?" Roman.
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. btb Verlag, München 2015. 352 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Familiengeschichte ohne jede Freude: Carl Frode Tiller zeichnet ein deprimierendes Gesellschaftsporträt
Der Gedächtnisverlust ist ein beliebtes Motiv der Literatur. Im neuen Roman des Norwegers Carl Frode Tiller bittet der Betroffene, ein gewisser David, per Annonce seine Bekannten, durch ausführliche Briefe seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Aber im Gegensatz zu verwandten Texten wie Anouilhs "Reisendem ohne Gepäck" oder Herrndorfs "Sand", Suters "Perfektem Freund" oder Ludlums "Bourne-Identität" interessiert Tiller die Ursache der Amnesie nicht, weshalb der Geschichte etwas die Bodenhaftung fehlt. Eine weitere Besonderheit ist, dass wir bei Tiller weniger diesen David kennenlernen (außer dass er über seinen unbekannten leiblichen Vater spekuliert) als diejenigen, die ihm helfen sollen.
Das sind drei Personen: ein früherer Freund, der Stiefvater und die frühere Freundin. Abwechselnd mit den Briefen schreiben alle drei eine Art Tagebuch, in dem sie von wichtigen Momenten ihres jetzigen Daseins (im Sommer 2006) erzählen. Alle drei haben David seit gut zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, alle drei stecken in einer heftigen Krise. Da sie sich auch gegenseitig kennen und übereinander schreiben, erhalten wir teilweise sehr verschiedene Versionen derselben Geschichte und derselben Person. Auch das ist uns aus der Literatur vertraut, eindrücklichstes Beispiel aber ist eine Literaturverfilmung: Kurosawas "Rashomon".
Der Freund ist der labile, destruktive Jon, der damals, in den achtziger Jahren, mit David ins Bett ging, was für beide Protest gegen die kleinbürgerlichen Provinzler war. Als David die fesche Silje kennenlernte und zu ihr und ihrer flippigen Mutter zog, ging Jons Verhältnis zu David in die Brüche. Mittlerweile ist Jons Mutter schwerkrank, mit dem Bruder gibt es nur Streit, und er ist ständig auf der Flucht, vor den anderen und vor sich selbst.
Im zweiten Teil liegt Davids Stiefvater Arvid, einst Pfarrer, todkrank im Spital und beneidet seinen Zimmernachbarn, der von dessen Tochter umsorgt wird. In den Briefen der anderen ist Arvid die moralisierende Nervensäge, er selbst empfindet sich als grüblerisch und gewissenhaft. Im dritten Teil erzählt die inzwischen verheiratete Silje von ihrer verkorksten Ehe mit Egil, ihr Vater war offenbar ein Scheusal, das Verhältnis zur Mutter ist gespannt. Wie im ganzen Buch gibt es keine Szene, in der sich die handelnden Personen nicht heillos zerstreiten. Jeder ist von jedem genervt, selten hat man so absurde, beklemmende Tischgespräche und Abrechnungen gelesen wie bei Tiller.
Die glücklichsten Menschen leben in Skandinavien, dachten wir immer. Aber nicht in Norwegen - das muss die Hölle sein. Hier gibt es keinen, den auch nur ein Hauch von Glück umwehte. Ständig "schwillt" in einem von ihnen "der Ärger an". Erwachsene sind entweder besitzergreifend oder egoistisch. Väter sind ein Problem oder gar nicht erst da. Mütter werden vom Bus überfahren, Eltern verbrennen wegen einer umgestürzten Kerze, Ehegatten sterben unversehens: Elend, überall. Wir fragen uns bang: Was hat dieser Autor im Leben erlebt?
Aber das größte Elend ist, dass Tillers Buch doppelt deprimierend ist: in Inhalt und Form. Seine Familienhölle erreicht weder die absurd-komischen Höhen von Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" noch die verzweifelt-tragischen Tiefen von Bergmans "Szenen einer Ehe", weder einen skeptisch-ironischen Ibsen noch einen dämonisch-pathetischen Strindberg, alles Größen, die Tiller im Kopf gehabt haben wird. Der Romanautor behandele die Welt nach seiner Weise, nur müsse er eine Weise haben, so ungefähr hat es ein deutscher Klassiker gesagt. Tillers Weise ist nicht zu erkennen, er schreibt in einem leblosen, trockenen Stil, in Kurzsätzen wie für Leseschwache, überdies im Rapport-Präsens, das auch im Norden zur angesagten Erzählform geworden ist: "Wir machen uns Sorgen um dich, Trond, sagt Else leise. Wir sind beunruhigt, sagt sie, und ich sehe Trond an und sehe, wie wütend er ist, und er nickt kalt und böse."
Im Original heißt das Buch "Innsirkling", Einkreisung. Tiller, geboren 1970, hat über den unglücklichen norwegischen Menschen angeblich eine ganze Trilogie geschrieben. Müssen wir das auch noch lesen?
PETER URBAN-HALLE
Carl Frode Tiller: "Kennen Sie diesen Mann?" Roman.
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. btb Verlag, München 2015. 352 S., geb., 20,- [Euro].
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