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Jan Patocka (1907-1977) ist einer der wichtigsten Vertreter der tschechischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Als Schüler von Husserl und Heidegger verband Patocka das phänomenologische Denken in neuer Weise mit der Reflexion über Politik und Geschichte. Durch seine legendären Prager Untergrundseminare und sein Engagement in der Charta 77 wurde er zu einer intellektuellen und moralischen Autorität. In den Ketzerischen Essays - in den letzten Jahren seines Lebens geschrieben - hat Patockas politisches und geschichtsphilosophisches Denken seinen prägnantesten Ausdruck gefunden. In der Zeit der…mehr

Produktbeschreibung
Jan Patocka (1907-1977) ist einer der wichtigsten Vertreter der tschechischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Als Schüler von Husserl und Heidegger verband Patocka das phänomenologische Denken in neuer Weise mit der Reflexion über Politik und Geschichte. Durch seine legendären Prager Untergrundseminare und sein Engagement in der Charta 77 wurde er zu einer intellektuellen und moralischen Autorität. In den Ketzerischen Essays - in den letzten Jahren seines Lebens geschrieben - hat Patockas politisches und geschichtsphilosophisches Denken seinen prägnantesten Ausdruck gefunden. In der Zeit der "Normalisierung" nach der Niederschlagung des "Prager Frühlings" denkt Patocka über Europa als widersprüchliches, stets gefährdetes und niemals abschließbares Projekt nach - ein noch zu entdeckendes Denken, dessen Bedeutung für das Selbstverständnis Europas erst heute sichtbar wird.
Autorenporträt
Paul Ricoeur (1913-2005) lehrte u.a. Philosophie an der Sorbonne, in Paris-Nanterre und, als Nachfolger von Paul Tillich, philosophische Theologie in Chicago. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Dante-Preis, dem Karl-Jaspers-Preis und dem Kyoto-Preis.

Jacques Derrida wurde am 15. Juli 1930 in El-Biar in der Nähe von Algier als Sohn jüdischer Eltern geboren und starb am 8.Oktober 2004 in Paris. Während seiner Schulzeit war er antisemitischen Repressionen ausgesetzt. Ab 1949 lebte er in Frankreich und besuchte das Lycée Louis-le-Grand in Paris. Von 1952 bis 1954 studierte er an der École Normale Supérieure, wo er Vorlesungen bei Louis Althusser und Michel Foucault besuchte und sich mit Pierre Bourdieu anfreundete. 1956 gewann er ein Stipendium für einen Studienaufenthalt an der Harvard University. Während seines Militärdienstes von 1957 bis 1959 lehrte er Englisch und Französisch in Algerien. Von 1960 bis 1964 war er wissenschaftlicher Assistent an der Sorbonne. Ab 1965 bis 1984 bekleidete er eine Professur für Geschichte der Philosophie an der École Normale Supérieure. Den Durchbruch erlangte Derrida im Jahr 1967, als er nahezu zeitgleich in drei bekannten Verlagen drei wichtige Schriften veröffentlichte: De la grammatologie, La Voix et le phénomène sowie L'écriture et la différence. Auf Vortragsreisen in den USA lernte er Paul de Man und Jacques Lacan kennen. 1981 gründete er die Gesellschaft Jan Hus (eine Hilfsorganisation für verfolgte tschechische Intellektuelle). Im selben Jahr wurde er in Prag verhaftet und erst nach einer energischen Intervention François Mitterrands und der französischen Regierung von der Tschechoslowakei freigelassen. 1983 gründete er das Collège international de philosophie, zu dessen erstem Direktor er gewählt wurde. Im selben Jahr wurde er zum Forschungsdirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris ernannt. Er starb am 9. Oktober 2004 in Paris.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.2010

Die unmenschliche Pflicht, sich erschüttern zu lassen

In der Neuauflage von Jan Patockas "Ketzerischen Essays" wird das Staunen über diesen raffinierten Text des tschechischen Philosophen noch um einige Facetten reicher.

Vor rund 20 Jahren fragte sich Derrida, ob der tschechische Philosoph Jan Patocka ein christlicher Denker sei. Dazu gebracht hatte ihn die Lektüre der 1975, relativ kurz vor Patockas Tod, entstandenen "Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte". Ein merkwürdiger Text, den Derrida da als ketzerische Marginalie zu Patockas geschichtsphilosophischen Meditationen absonderte, mit dem rätselhaften Titel "Den Tod geben".

Dass Derrida den Umweg über die Religion, ausdrücklich: das Christentum, wählte und sich bei seinem Umweg ausgerechnet der Führung dieses sperrigen Phänomenologen aus Prag anvertraute, um in die Hohlräume der kantianischen Pflicht- und Verantwortungsethik vorzudringen, verblüffte schon in den neunziger Jahren, als der Text im Brennpunkt einer hitzigen Debatte über die Möglichkeit einer "Ethik der Dekonstruktion" stand. Angesichts der gerade im Suhrkamp Verlag besorgten Neuauflage von Patockas "Ketzerischen Essays" mag das Staunen nun vielleicht noch um einige Facetten reicher werden.

Zunächst einmal fällt auf, dass die ursprünglich für eine polnische Zeitschrift verfassten, in der Tschechoslowakei über Jahre nur im Untergrund publizierten und auf Deutsch seit einiger Zeit vergriffenen Essays hier von einer Reihe kommentierender Texte eingefasst, ja regelrecht eingewickelt erscheinen. Es bedarf offenbar einiger Erklärung, warum wir dieses historische Dokument noch einmal in die Hand nehmen sollten. Die innerste Schicht des Kommentarwickels bilden "Des Verfassers eigene Glossen zu den Ketzerischen Essays". Indem er sie gegen den Vorwurf des "idealistischen Subjektivismus" in Schutz nimmt, wirft Patocka ein Schlaglicht auf die politischen und ideologischen Umstände, unter denen seine Artikelserie entstanden ist: unter der tschechoslowakischen "Normalisierung", als nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings wieder allein der historische Materialismus diktierte, was in der Geschichte als Sinn und was als Krise zu gelten hatte.

Die persönliche Situation des tschechischen Philosophen nimmt auf sehr diskrete Weise auch in Paul Ricoeurs den Essays vorangestellter "Hommage" eine Schlüsselrolle ein - ein Text, der ebenso wie Derridas "Den Tod geben" aus den neunziger Jahren datiert. Man kann nicht umhin, die Verbindung, die Ricoeur zwischen Patockas prekären Arbeitsverhältnissen ("dass es ihm über einen Zeitraum von 34 Jahren nach seiner Habilitation nur für acht Jahre erlaubt war, öffentlich zu lehren") und der "Tragik" seines letzten Werkes zieht, gleichzeitig als Verbeugung vor dem Menschen und als inhaltliche Kritik zu verstehen. Patockas Faszination für Krieg und "Fronterfahrung", wie sie im abschließenden Essay "Die Kriege des 20. Jahrhunderts und das 20. Jahrhundert als Krieg" zum Ausdruck kommt, deutet Ricoeur als Reflex einer privaten Erschütterung oder Krise, die nicht, wie es Patockas Anthropologie doch eigentlich vorsieht, in einem freieren oder umfassenderen Sinn aufgehen konnte.

Während sich Ricoeurs erstes Unbehagen also, wie man sagen könnte, am "Ketzerischen" der Essays festmacht, setzt das zweite, unmittelbar plausible Unbehagen bei Patockas philosophischem Umgang mit dem Gegenstand "Geschichte" an. Auch wenn die Kulturgeschichte des Abendlandes irgendwie als roter Faden diene, so Ricoeur, hätten die Essays doch mit Geschichtsschreibung "nichts mehr gemein". Die tatsächlich schwer erträgliche Eingrenzung von Geschichte auf das angeblich nur in Europa wirksam gewordene Erbe der klassischen griechischen Philosophie ("In dieser Hinsicht ähnelt das Leben der Naturvölker dem Leben der Tiere") führt Ricoeur nun einerseits auf Husserls Credo zurück, ein auf Vernunft gegründetes Leben bilde gewissermaßen die "Idee" Europas, andererseits aber zumal auf Heideggers Gedanken einer Offenheit der menschlichen Existenz für das "Sein".

Inwiefern ist aber der Nihilismus der wissenschaftlich-technischen Welt, wie Patocka in "Europa und das Europäische Erbe" konstatiert, eine moralische Krise? Und wie genau sieht die Verantwortung für das "Offenhalten des Sinns" aus, die er ihm entgegensetzt? Ist die von Patocka in seinem Aufsatz über "das 20. Jahrhundert als Krieg" anvisierte Verpflichtung, sich insbesondere als existentiell Erschütterter für weitere Erschütterungen offenzuhalten, ja sie in vorauseilendem Gehorsam zu provozieren, nicht geradezu unmenschlich? Und verurteilt sie dann Patockas Definition gemäß ("Zum Verfall bestimmt ist ein Leben im Verfallensein an etwas, das seinem Seinscharakter nach nicht menschlich ist") als unmenschliche Pflicht nicht das menschliche Leben zum Verfall?

Um den Katholiken Patocka vor der eigenen nihilistischen "Umwertung aller Werte im Zeichen der Kraft" in Schutz zu nehmen, auf die seine Kriegsreflexionen nicht nur aus Ricoeurs Sicht hinauslaufen, verweist Derrida in "Den Tod geben" darauf, dass dieser in seiner unmittelbar vorhergehenden Einlassung ("Ist die technische Zivilisation zum Verfall bestimmt?") den Kapitalismus noch mit den Waffen des christlichen "Mysteriums" aufzuhalten versucht. Ein erster Abschnitt aus Derridas berühmter Schrift über die "Gabe des Todes" fand nämlich unter dem Titel "Ketzertum, Geheimnis und Verantwortung: Patockas Europa" Eingang in den vorliegenden Band, erstaunlicherweise ohne jeden Hinweis auf den Gesamttext.

Das Christentum allerdings ist nach Derridas Fortsetzung der Genealogie, die er Patocka entwerfen sieht, nicht mehr recht von Lévinas' Ethik der unbedingten Verantwortung für den "Anderen" zu unterscheiden. So kann man nicht umhin, das "Erleben der Transzendenz", dessen geheimnisvoller Kern die christlich gedeutete Verantwortung angeblich aus der Ordnung des Wissens herausreißt, am Ende der dekonstruktiven Umgestaltung auf die Unergründlichkeit und Einzigartigkeit des anderen Menschen zu beziehen. Der Gottesbezug schimmert nur noch wie ein Craquelé am Boden der Begriffe durch, die doch die Geschichte des Christentums zu rekonstruieren beanspruchen. Faszinierenderweise liest man bei Patocka selbst, die "Seele" sei letztlich eine Beziehung zu einer Person, "was aber eine Person ist, wird aus christlicher Perspektive nicht adäquat thematisiert" - ein ketzerischer Gedanke?

BETTINA ENGELS.

Jan Patocka: "Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte". Übersetzt von Sandra Lehmann. Mit Texten von Paul Ricoeur und Jacques Derrida und einem Nachwort von Hans Rainer Sepp. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 240 S., br., 12,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sperrig ist der Prager Phänomenologe, das räumt Bettina Engels gleich ein. Die in dieser Neuauflage vorgenommene "Einwickelung" von Jan Patockas "Ketzerischen Essays" aus dem Jahr 1975 in kommentierende Texte von Derrida, Ricoeur und dem Autor selbst sowie die Erläuterung von Patockas persönlicher Situation am Ende des Prager Fühlings kann Engels deshalb gut verstehen. Als Verbeugung vor dem Menschen und inhaltliche Kritik begreift sie Ricoeurs Text. Nicht zuletzt, da ihr das Unbehagen angesichts von Patockas eurozentristischem Geschichtsverständnis und seinem Nihilismus zumindest stellenweise plausibel erscheint.

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