Juan Goytisolo ist ein Reisender zwischen den Welten. Der Umstand, daß der gebürtige Spanier abwechselnd in Paris und in Marrakesch lebt, prädestiniert ihn zum Mittler zwischen Orient und Okzident. Seine ebenso sachkundigen wie einfühlsamen Essays und Reportagen tragen dazu bei, die Stereotypen und Klischees zu korrigieren, die bis heute das Bild des Islam im Westen prägen, und beleuchten eine Wirklichkeit jenseits der Legenden, die seit Jahrhunderten den Blick des Abendlands auf das Morgenland verstellen. Goytisolo, der die Welt des Islams zwischen Tanger, Timbuktu und Samarkand bereist hat, fordert uns auf, eine faszinierend vielseitige und lebendige Kultur zu entdecken, deren reiches Erbe vielerorts Gefahr läuft, von der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung überrollt zu werden. Seine Themen reichen von der Geschichte der Muslime in der sich auflösenden Sowjetunion über türkische Busbahnhöfe, die jemenitische Architektur und den Islam in Schwarzafrika bis hin zumTreiben der Gaukler auf dem Djemaa el-Fna in Marrakesch. Dabei versäumt es Goytisolo nicht, auf eine gefährliche Alternative hinzuweisen, die heute für viele muslimische Länder zu einem Teufelskreis zu werden droht: die Alternative, sich zwischen einer die Identität verbürgenden Tradition und Notwendigkeit des Wandels entscheiden zu müssen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.09.2000Heftiger Applaus im Kino Eden
Viel Licht, wenig Schatten: Juan Goytisolo reist durch den Islam
Die Reisen Juan Goytisolos in die Geschichte des Islams in neunzehn Essays lesen sich wie eine reiche Mesa verschiedener, meist wohlschmeckender Gerichte -- einfach, aber nicht ohne Raffinesse zubereitet. Goytisolo ist ein Kenner, der uns viel zu sagen hat, handle es sich um die für die westliche Welt unbekannt gewordenen Gebiete von Buchara und Samarkand, um die märchenhaften Städte des Jemen und Hadhramauts oder um die Feste des Volksislams in den Nachbarländern Europas, in denen das Tourismusgeschäft blüht. Goytisolos Reiselust läßt sich an der Darstellung seines Aufenthaltes im Otogar ablesen. Wie der Genießer schnalzt er mit der Zunge, betritt er nur den türkischen Busbahnhof, und als echter Verführer versteht er es, dem Leser nach solchem Genuß den Mund wäßrig zu machen: "Durch die Türkei zu reisen ist ein Fest für jeden, der sich einer solchen Fahrt würdig zu zeigen weiß. Die tiefe Kraft eines Otogar offenbart sich dem Neuankömmling nicht ohne weiteres . . . er selbst muß ihr auf den Grund gehen, muß lernen, ihre verborgenen Schätze mit diskreter Beharrlichkeit freizulegen."
Die Busbahnhöfe sind beispielhaft für Goytisolos wachen Blick auf das Traditionelle im Gegenwärtigen. Ethnographisch genauen Beobachtungen literarische Form zu geben gelingt ihm in den stärksten Stücken des Buchs vortrefflich, wie etwa bei der Beschreibung nomadischer Reiterkämpfe in der Gegend von Erzurum in Ostanatolien, die noch die Atmosphäre des Ursprungs aus den zentralasiatischen Steppen heraufbeschwören, oder wenn die fiebrige Erwartung einer exotischen Offenbarung für die enthusiasmierte und zugleich erschreckte türkische Männerwelt angesichts der Ankunft russischer "Damen" in der Türkei mit milder Ironie und dem Ausruf "Die Nataschas kommen!" eingefangen wird. Solche zufällig am Wegesrand gesammelten Steinchen werden hier mit viel Feingefühl zu Edelsteinen umgeschliffen.
Das Sammelsurium der Einzelstücke fügt sich zum geschlossenen Mosaik: die schiitischen Passionsspiele in Iran, die den Passionsspielen katholischer Christen nicht unverwandt sind; originelle Reflexionen am jemenitischen Haus über die "kompositorische Vertikalität" als "lichte Allegorie" seiner soziokulturellen Schichten; die Herausbildung neuer Musik aus dem Geist einer "Musik der Trance" in Marokko; die Hommage an die weltberühmte, in ihrer ungebrochenen Vitalität gleichwohl resistent gebliebene Dschemaa al-Fna in Marrakesch; eine Hommage auch an Elias Canetti und seine Stimmen von Marrakesch; schließlich - nehmen wir es als einen der Höhepunkte - "Cinéma Eden", eine Liebeserklärung an den indischen Film vor marokkanischem Publikum, an dessen Ende wir Goytisolo aufstehen und dem Film spontan Beifall klatschen und das Kinopublikum mitreißen sehen.
Etwas weniger erhebend sind seine politischen und historischen Einlassungen. Es ist ihm offenbar ein Anliegen, mit wissenschaftlicher Terminologie seinen Objektivitätsanspruch zu unterstreichen. Ein Satz wie "Der auf Saaba und den Norden konzentrierte saiditische Schiismus koexistiert mit einer sunnitischen Mehrheit schafiitischer Ausrichtung, daneben aber hat der zunächst türkische, später wahabitische Einfluß seinen Niederschlag in der Existenz hanefitischer und hanbalitischer Gruppen gefunden" dürfte dem islamwissenschaftlich nicht vorgebildeten Leser kaum Lichter aufstecken. Für den Islamwissenschaftler aber ist der so geraffte Inhalt blanker Unfug. Am deutlichsten zeigen sich diese Schwächen im ersten Kapitel "Islam, Wirklichkeit und Legende". Goytisolo möchte hier wohl gleich zu Beginn das Bild des Westens vom Islam geraderücken. Das Kapitel gerät dadurch zu einer Apologie des Islams als einer Religion der Toleranz, stets im Gegensatz zum christlichen Pendant. Das ist eine beliebte Mogelpackung, in der auf der einen Seite die unterschiedlichsten Verfehlungen der Christen von den Kreuzzügen bis zum Kolonialismus aufgezählt werden, während auf der anderen unablässig die Toleranz der Muslime gegenüber Andersgläubigen gerühmt wird. Das Schema dürfte für Goytisolos Heimat Spanien zutreffen, sonst aber bestenfalls für die frühe Zeit der Omaijadenherrschaft, die der Autor an anderem Ort jedoch eher abwertend durch die schiitische Brille beurteilt. Als ob es nie Christenmassaker in Damaskus, Armenierverfolgungen, Vertreibung von Juden aus Marokko und ähnliches gegeben hätte!
Der Abbau von Vorurteilen und das wechselseitige Verständnis gedeihen nicht auf historischen Schuldzuweisungen. Blut an den Händen haben alle. Nur, daß sich die säkularisierten Christen des Westens, politisch korrekt, wie sie zu sein meinen, seit geraumer Zeit wieder auf alte Tugenden besinnen und auch noch die andere Backe hinhalten, um mit Hingabe den Watschenmann für diejenigen irgendwo in der Welt zu spielen, die davon zu profitieren verstehen. Die historischen Analysen Goytisolos, der diese vertrackte Dialektik noch nicht ganz durchdrungen zu haben scheint, muten wie hölzerne Darbietungen von Angelerntem in einem Pflichtprogramm an. Seine beschwingte Kür hinterläßt glücklicherweise einen nachhaltigeren Eindruck.
Ein kleines Glossar fremdsprachiger Worte und Begriffe hätte der Verlag dem Bändchen gönnen dürfen. Es sei denn, in unserem sprachgewandten Land könnte die Kenntnis persischer oder arabischer Worte wie khema für "Zelt" bei den Lesern als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
GENNARO GHIRARDELLI.
Juan Goytisolo: "Kibla - Reisen in die Welt des Islam". Aus dem Spanischen übersetzt von Thomas Brovot und Christian Hansen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 237 S., br., 19,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viel Licht, wenig Schatten: Juan Goytisolo reist durch den Islam
Die Reisen Juan Goytisolos in die Geschichte des Islams in neunzehn Essays lesen sich wie eine reiche Mesa verschiedener, meist wohlschmeckender Gerichte -- einfach, aber nicht ohne Raffinesse zubereitet. Goytisolo ist ein Kenner, der uns viel zu sagen hat, handle es sich um die für die westliche Welt unbekannt gewordenen Gebiete von Buchara und Samarkand, um die märchenhaften Städte des Jemen und Hadhramauts oder um die Feste des Volksislams in den Nachbarländern Europas, in denen das Tourismusgeschäft blüht. Goytisolos Reiselust läßt sich an der Darstellung seines Aufenthaltes im Otogar ablesen. Wie der Genießer schnalzt er mit der Zunge, betritt er nur den türkischen Busbahnhof, und als echter Verführer versteht er es, dem Leser nach solchem Genuß den Mund wäßrig zu machen: "Durch die Türkei zu reisen ist ein Fest für jeden, der sich einer solchen Fahrt würdig zu zeigen weiß. Die tiefe Kraft eines Otogar offenbart sich dem Neuankömmling nicht ohne weiteres . . . er selbst muß ihr auf den Grund gehen, muß lernen, ihre verborgenen Schätze mit diskreter Beharrlichkeit freizulegen."
Die Busbahnhöfe sind beispielhaft für Goytisolos wachen Blick auf das Traditionelle im Gegenwärtigen. Ethnographisch genauen Beobachtungen literarische Form zu geben gelingt ihm in den stärksten Stücken des Buchs vortrefflich, wie etwa bei der Beschreibung nomadischer Reiterkämpfe in der Gegend von Erzurum in Ostanatolien, die noch die Atmosphäre des Ursprungs aus den zentralasiatischen Steppen heraufbeschwören, oder wenn die fiebrige Erwartung einer exotischen Offenbarung für die enthusiasmierte und zugleich erschreckte türkische Männerwelt angesichts der Ankunft russischer "Damen" in der Türkei mit milder Ironie und dem Ausruf "Die Nataschas kommen!" eingefangen wird. Solche zufällig am Wegesrand gesammelten Steinchen werden hier mit viel Feingefühl zu Edelsteinen umgeschliffen.
Das Sammelsurium der Einzelstücke fügt sich zum geschlossenen Mosaik: die schiitischen Passionsspiele in Iran, die den Passionsspielen katholischer Christen nicht unverwandt sind; originelle Reflexionen am jemenitischen Haus über die "kompositorische Vertikalität" als "lichte Allegorie" seiner soziokulturellen Schichten; die Herausbildung neuer Musik aus dem Geist einer "Musik der Trance" in Marokko; die Hommage an die weltberühmte, in ihrer ungebrochenen Vitalität gleichwohl resistent gebliebene Dschemaa al-Fna in Marrakesch; eine Hommage auch an Elias Canetti und seine Stimmen von Marrakesch; schließlich - nehmen wir es als einen der Höhepunkte - "Cinéma Eden", eine Liebeserklärung an den indischen Film vor marokkanischem Publikum, an dessen Ende wir Goytisolo aufstehen und dem Film spontan Beifall klatschen und das Kinopublikum mitreißen sehen.
Etwas weniger erhebend sind seine politischen und historischen Einlassungen. Es ist ihm offenbar ein Anliegen, mit wissenschaftlicher Terminologie seinen Objektivitätsanspruch zu unterstreichen. Ein Satz wie "Der auf Saaba und den Norden konzentrierte saiditische Schiismus koexistiert mit einer sunnitischen Mehrheit schafiitischer Ausrichtung, daneben aber hat der zunächst türkische, später wahabitische Einfluß seinen Niederschlag in der Existenz hanefitischer und hanbalitischer Gruppen gefunden" dürfte dem islamwissenschaftlich nicht vorgebildeten Leser kaum Lichter aufstecken. Für den Islamwissenschaftler aber ist der so geraffte Inhalt blanker Unfug. Am deutlichsten zeigen sich diese Schwächen im ersten Kapitel "Islam, Wirklichkeit und Legende". Goytisolo möchte hier wohl gleich zu Beginn das Bild des Westens vom Islam geraderücken. Das Kapitel gerät dadurch zu einer Apologie des Islams als einer Religion der Toleranz, stets im Gegensatz zum christlichen Pendant. Das ist eine beliebte Mogelpackung, in der auf der einen Seite die unterschiedlichsten Verfehlungen der Christen von den Kreuzzügen bis zum Kolonialismus aufgezählt werden, während auf der anderen unablässig die Toleranz der Muslime gegenüber Andersgläubigen gerühmt wird. Das Schema dürfte für Goytisolos Heimat Spanien zutreffen, sonst aber bestenfalls für die frühe Zeit der Omaijadenherrschaft, die der Autor an anderem Ort jedoch eher abwertend durch die schiitische Brille beurteilt. Als ob es nie Christenmassaker in Damaskus, Armenierverfolgungen, Vertreibung von Juden aus Marokko und ähnliches gegeben hätte!
Der Abbau von Vorurteilen und das wechselseitige Verständnis gedeihen nicht auf historischen Schuldzuweisungen. Blut an den Händen haben alle. Nur, daß sich die säkularisierten Christen des Westens, politisch korrekt, wie sie zu sein meinen, seit geraumer Zeit wieder auf alte Tugenden besinnen und auch noch die andere Backe hinhalten, um mit Hingabe den Watschenmann für diejenigen irgendwo in der Welt zu spielen, die davon zu profitieren verstehen. Die historischen Analysen Goytisolos, der diese vertrackte Dialektik noch nicht ganz durchdrungen zu haben scheint, muten wie hölzerne Darbietungen von Angelerntem in einem Pflichtprogramm an. Seine beschwingte Kür hinterläßt glücklicherweise einen nachhaltigeren Eindruck.
Ein kleines Glossar fremdsprachiger Worte und Begriffe hätte der Verlag dem Bändchen gönnen dürfen. Es sei denn, in unserem sprachgewandten Land könnte die Kenntnis persischer oder arabischer Worte wie khema für "Zelt" bei den Lesern als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
GENNARO GHIRARDELLI.
Juan Goytisolo: "Kibla - Reisen in die Welt des Islam". Aus dem Spanischen übersetzt von Thomas Brovot und Christian Hansen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 237 S., br., 19,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Juan Goytisolos Reportagen und Essays über die islamische Welt sind hervorragend dafür geeignet, den nächsten langen Flug in den Süden abzukürzen, meint der Rezensent Stefan Weidner. Er lobt Goytisolos Aufsätze über Marokko, ein Land, in dem er lange gelebt hatte, kritisiert aber auch Schilderungen über andere arabische Staaten, über die der Autor zum Teil selbst nur gelesen hat. Hier findet der Rezensent Goytisolos scharfe Kritik an der westlichen Welt, die arabische Kultur seit je ignoriert zu haben, etwas "billig". Trotzdem empfiehlt er die Mischung aus Porträts, Beschreibungen und Erinnerungen als eine Reiselektüre, die zunehmend neugierig mache, die Kultur und Zivilisation arabischer Staaten näher kennenzulernen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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